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Wem gehört Jerusalem?

2. Konflikt und Konflikttransformation

3.2 Wem gehört Jerusalem?

Jerusalem spielt im Israel-Palästina-Konflikt eine zentrale Rolle. Die Palästinenser beanspruchen Ostjerusalem als Hauptstadt des künftigen Staates Palästina, während die Israelis das gesamte Jerusalem als ihre Hauptstadt verstehen.

Für die drei monotheistischen Religionen spielt Jerusalem eine bedeutende Rolle als die Heilige Stadt. Die jüdischen Ansprüche basieren auf der Eroberung Jerusalems vor ungefähr dreitausend Jahren durch König David, über die im Tanach berichtet wird.90 Für die Muslime ist Jerusalem, auch Al-Quds genannt, die drittheiligste Stadt nach Mekka und Medina. Laut des muslimischen Glaubens ist der Prophet Mohammed im Jahr 621 nach Christus in Begleitung des Erzengels Gabriel von Jerusalem in die sieben Himmel aufgestiegen. Der Legende nach muss am Ende der Tage der heilige Stein von Mekka hierhergebracht werden, um so das Paradies zu öffnen. Die christliche Bedeutung liegt im Leidensweg Jesus Christus, der dem Neuen Testament zufolge vor fast zweitausend Jahren den Tod am Kreuz erlitt und am dritten Tag wieder auferstand.91

Eine Periode des friedlichen Zusammenlebens der religionsverschiedenen Menschen in Jerusalem war nie von langer Dauer, auch wenn es unter islamischer Herrschaft Phasen der Duldung anderer Religionszugehörigkeiten gab (siehe Kapitel 3.7. Die arabische Epoche).

Die Ansprüche auf Jerusalem forderten aber im Laufe der Geschichte viele Opfer und auch heute hält die Konkurrenz um die Stadt weiter an. Während die Christen im heutigen Konflikt

88 Vgl. Vieweger: Streit um das Heilige Land, 2017, S. 45.

89 Vgl. Ebda. S. 45–46.

90 Vgl. Johannsen: Der Nahost-Konflikt, 2011, S. 70.

91 Vgl. Ebda. S. 71.

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um die Heilige Stadt nicht direkt involviert sind, so halten die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinenser um die Rechte der Stadt weiter an.92

Diese Auseinandersetzungen treffen vor allem den Hügel in der Altstadt. Bei den Juden wird dieser als Har Ha Bayit – Tempelberg – bezeichnet. Dort soll Davids Sohn Salomo Mitte des 10. Jahrhunderts vor Christus mit dem Bau des ersten Tempels begonnen haben93 (siehe Kapitel 3.6. Ursprünge und religiöse Verheißung). Dem jüdischen Glauben zufolge wird der Messias den zerstörten Tempel wieder erbauen und das jüdische Volk zurück in das Verheißene Land führen. Heute beten die Juden an der Westmauer – auch Klagemauer genannt –, die die Umfassungsmauer des ehemaligen Tempelareals war, die der Legende nach ein Teil des zweiten Tempels bildete. Sie gehört aufgrund ihrer Nähe zum Allerheiligsten zum wichtigsten jüdischen Heiligtum, ist aber erst seit 1520 zum dauerhaften Ort jüdischen Betens geworden. Dem jüdischen Glauben zufolge hat Gott diesen Ort auch nach der Zerstörung des Tempels nicht verlassen, weshalb man hier Gott räumlich so nahe sein kann wie sonst nirgends.94

Die Muslime nennen den Hügel Haram ash-Sharif, das ehrwürdige Heiligtum, auf dem die Al-Aqsa-Moschee mit dem Felsendom steht.95 Islamischen Interpretationen zufolge reiste der Prophet Mohammed auf Gottes Geheiß auf seinem geflügelten Pferd von Mekka zur Al-Aqsa, wobei man heute davon ausgeht, dass damit der Tempelberg gemeint ist. Dort soll ihm nach seinem Gebet eine Leiter gereicht worden sein, die er hinaufstieg und so in die sieben Himmel gelangte. Dort traf er nacheinander in den verschiedenen Himmeln unter anderen zuerst Adam, dann Jesus, Aaron und Moses und im siebten und letzten Abraham. Nach dem Passieren des Paradiestores gelang er schließlich zu Allah, der ihm verschiedene Weisungen aufgab. Auf dem Felsen, von dem aus Mohammed in den Himmel stieg, erhebt sich heute der Felsendom.96 Explizit wird Jerusalem im Koran jedoch nie erwähnt; es wird stets von einer fernen Kultstätte geschrieben. Trotzdem spiegelt Jerusalem im islamischen Glauben das

„Symbol für Gottesnähe, als spiritueller Ort, wo die Grenzen zwischen Welt und Transzendenz durchlässig sind“97, wider.98

92 Vgl. Johannsen: Der Nahost-Konflikt, 2011, S. 71.

93 Vgl. Vieweger: Streit um das Heilige Land, 2017, S. 85.

94 Vgl. Ebda. S. 83–84.

95 Vgl. Johannsen: Der Nahost-Konflikt, 2011, S. 71.

96 Vgl. Vieweger: Streit um das Heilige Land, 2017, S. 100.

97 Neuwirth, Angelika: Aufstieg zum Himmel. Warum Jerusalem – nach Mekka und Medina – die drittheiligste Stadt des Islam ist. S. 64. In: Großbongardt, Anette/Pieper, Dietmar (Hrsg.): Jerusalem. Die Geschichte einer heiligen Stadt. München 2009, S. 61–68. Im Folgenden zitiert als: Neuwirth: Aufstieg zum Himmel, 2009.

98 Vgl. Neuwirth: Aufstieg zum Himmel, 2009, S. 62–63.

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Im Verlauf des Israel-Palästina-Konflikts unterstand Jerusalem verschiedenen Kontrollen. Im ersten Nahostkrieg wurde der internationale Status Jerusalems abgelöst und die Stadt kam unter jordanische Kontrolle. Dabei kam es zur Teilung Jerusalems, wobei die Grenze mitten durch die Stadt verlief. Den Juden wurde der Zugang zur Westmauer sowie den anderen Heiligen Stätten im Ostteil der Stadt verwehrt. Im Junikrieg 1967 konnte der Ostteil Jerusalems von israelischen Truppen eingenommen werden, wodurch es aus israelischer Sicht zur Wiedervereinigung der Stadt kam. Der israelische Historiker Tom Segev vertritt die Ansicht, dass mit der Eroberung Jerusalems die Aussicht auf Friede gestorben sei, da nur mit der Teilung der Stadt Friede eintreten könne; einer Teilung wird Israel jedoch wohl nie zustimmen.99

Diese Annexion des Ostteils wurde im Jerusalemgesetz 1980 bestätigt und die Stadt wurde zur ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels erklärt. Der Tempelberg gilt seitdem als Symbol des vereinten Jerusalems sowie für die historische und religiöse Verwurzelung der Juden in der Stadt.100

Mit der Besetzung Jerusalems wurden die dort lebenden 70 000 Palästinenser zu permanenten Bewohnern Jerusalems erklärt. Ihnen wurden eigene Ausweise ausgestellt, aber sie wurden nicht eingebürgert, was dazu führt, dass sie keinen Anspruch auf israelische Staatsbürgerrechte haben. Zwar ist es den permanenten Bewohnern Jerusalems gestattet, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen, jedoch kommt dies kaum vor: Zum einen würden sie damit die israelische Souveränität über Ostjerusalem anerkennen, zum anderen würden sie ihre eigene Identität aufgeben.101

Aktuell leben rund 865 700 Menschen in Jerusalem, davon sind 610 000 Juden und 255 700 Palästinenser.102 Dabei wohnen in Westjerusalem seit 1948 kaum noch Palästinenser; Juden und Palästinenser in Ostjerusalem leben fast ausschließlich in getrennten jüdischen beziehungsweise palästinensischen Stadtvierteln.103

Dass Jerusalem eigentlich nicht mehr geteilt ist, ist gerade an Gedenk- und Feiertagen kaum merkbar. Im April/Mai finden die israelischen Gedenktage Jom ha-Schoáh, der Tag des Gedenken an Schoah und Heldentum, Jom ha-Zikaròn, mit dem der gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus gedacht wird, und der Feiertag Jom ha-Atzma’ut, der

99 Vgl. Segev, Tom: Offene Wunde. Nach dem israelischen Triumph 1967 ist Frieden kaum noch möglich.

S. 189. In: Großbongardt, Anette/Pieper, Dietmar (Hrsg.): Jerusalem. Die Geschichte einer heiligen Stadt.

München 2009, S. 181–191.

100 Vgl. Asseburg/Busse: Der Nahostkonflikt, 2016, S. 66.

101 Vgl. Ebda. S. 67.

102 Bevölkerungszahlen aus: Der neue Fischer Weltalmanach. Zahlen Daten Fakten. Frankfurt am Main 2017, S. 223.

103 Vgl. Johannsen: Der Nahost-Konflikt, 2011, S. 72.

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Unabhängigkeitstag, statt. Am Jom ha-Schoáh und am Jom ha-Zikaròn erklingt für zwei Minuten die Sirene, was jüdische Autofahrer dazu veranlasst aus ihren Fahrzeugen auszusteigen und jüdische Fußgänger bewegungslos stehenzubleiben. In diesem Moment manifestiert sich das kollektive Bewusstsein des jüdischen Volkes, das sich „als Schicksalsgemeinschaft von Überlebenden begreift.“104 In Ostjerusalem hingegen verläuft das Leben ganz normal weiter.105

Der Feiertag Jom ha-Atzma’ut folgt direkt auf Jom ha-Zikaròn, bei dem eine ausgelassene Stimmung unter der israelisch-jüdischen Bevölkerung herrscht und gefeiert wird. Dabei wird der Tag von den israelischen Palästinensern nicht mitgefeiert. Sie gedenken an diesem Tag der Nakba, der Flucht und Vertreibung von über 750 000 Palästinensern aus den ehemals britischen Mandatsgebieten. Dieser Feiertag ist bei den Palästinensern auch als Anti-Unabhängigkeitstag bekannt. Hier kann man bereits die Symptomatik und eines der Grundprobleme im Israel-Palästina-Konflikt erkennen. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, erkennt keine der beiden Seiten die kollektiven Traumata der anderen Seite an.106 Ein weiterer umstrittener Feiertag ist der Jom Jeruschalajim, der Jerusalemtag, an dem die Eroberung Jerusalem durch die Israels am 7. Juni 1967 und der damit verbundenen Wiedervereinigung gefeiert wird.107

Die Politikwissenschaftlerin Margret Johannsen schreibt, dass die israelische Regierung gezielt versuche, durch staatliche Eingriffe und staatlich geförderten Wohnungsbau für jüdische Siedler sowie Diskriminierungen und Schikanen gegenüber palästinensischen Einwohnern, Ostjerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates zu verhindern. Sie versuche damit, den israelischen Herrschaftsanspruch auf das gesamte Jerusalem zu festigen.108 Auch die beiden Nahost-Experten Muriel Asseburg und Jan Busse schreiben über die aktuelle Benachteiligung der Palästinenser in Jerusalem. So gibt die Stadt siebenmal so viel Geld für ihre jüdischen als für ihre palästinensischen Bewohner aus, dabei gilt für beide Einwohnergruppen die gleiche steuerliche Verpflichtung. Das hat auch zur Folge, dass der westliche Teil Jerusalems deutlich besser ausgebaut ist als der östliche, was Elektrizität, Kanalisation, Sicherheit sowie Straßennetze betrifft.109 Mit dem gezielten Siedlungsbau ist

104 Mertes, Barbara/Mertes, Michael: Am Nabel der Welt. Jerusalem-Begegnungen in einer gespaltenen Stadt.

Paderborn, 2015, S. 94. Im Folgenden zitiert als: Mertes/Mertes: Am Nabel der Welt, 2015.

105 Vgl. Mertes/Mertes: Am Nabel der Welt, 2015, S. 94–100.

106 Vgl. Ebda. S. 100.

107 Vgl. Ebda. S. 105.

108 Vgl. Johannsen: Der Nahost-Konflikt, 2011, S. 72.

109 Vgl. Asseburg/Busse: Der Nahostkonflikt, 2016, S. 68.

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außerdem eine Teilung der Stadt so gut wie unmöglich geworden.110 Grundsätzlich war dies der Plan der israelischen Regierung, die das gesamte Jerusalem für sich beansprucht. Dafür soll in Ostjerusalem eine jüdische Mehrheit erreicht werden, die dann eine verbindende palästinensische Siedlungsfläche von Ostjerusalem zum Westjordanland verhindern soll.

Bereits seit den 1980er-Jahren wird der Siedlungsbau rund um die Altstadt weiter vorangetrieben. Dabei werden Flächen für archäologische Ausgrabungen enteignet:111 Ein Beispiel hierfür ist die Davidstadt, die als der älteste Stadtteil Jerusalems gilt und dicht mit arabischen Siedlungen bebaut ist. Bereits in den 1940er-Jahren begann man, archäologische Untersuchungen vorzunehmen und drängte auf Grund dessen die palästinensischen Familien aus ihren Wohnungen. Legitimiert werden die Ausgrabungen und die Neubesiedelung der Davidstadt mit national-religiösen Begründungen, da die Gestalt Davids für gewisse jüdische Gruppierungen heute ein Symbol für die Landnahme ist.112 Ein Großteil der säkularen Israelis nutzt die Religion, um ihre Ziele zu erreichen. Der Rückgriff der Zionisten auf die jüdische Religion beruht also auf praktischen und ideologischen Gründen, um so die Einnahme Jerusalems, aber auch den Siedlungsbau, mit historischen und religiösen Erinnerungen und Gefühlen zu rechtfertigen.113

Während die Israelis weiter Wohnungen und Siedlungen bauen, so sind den Palästinensern jegliche Baumaßnahmen untersagt.114 Die Organisation UNOCHA – United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – berichtet, dass nur 13% Ostjerusalems von den Palästinensern genutzt werden dürfen und dass dieser Teil schon heute überbevölkert ist.

Außerdem bauen die Palästinenser meist ohne Baugenehmigung, da ihnen diese verweigert wird. Die illegal erbauten Häuser werden jedoch auf Anweisung der israelischen Regierung zumeist wieder abgerissen und zerstört.115

Mit dem massiven Siedlungsbau in und um Ostjerusalem, die die größte Stadt der palästinensischen Gebiete ist, wird sie zunehmend vom Westjordanland abgeschnitten und durch den Bau der Sperranlage, die mitten durch die palästinensischen Wohnviertel

110 Vgl. Schlegel, Christian: Israelis gegen Palästinenser. Spieltheorie als Lösungsansatz für den Nahostkonflikt.

Marburg 2014, S. 39. Im Folgenden zitiert als: Schlegel: Israelis gegen Palästinenser, 2014.

111 Vgl. Asseburg/Busse: Der Nahostkonflikt, 2016, S. 69.

112 Vgl. Vieweger: Streit um das Heilige Land, 2017, S. 91.

113 Vgl. Fuß, Martin: Die Konstruktion der Heiligen Stadt Jerusalem. Der Umgang mit Jerusalem in Judentum, Christentum und Islam (=Stuttgarter Biblische Beiträge 68). Stuttgart 2012, S. 388. Im Folgenden zitiert als:

Fuß: Konstruktion der Heiligenstadt Jerusalem, 2012.

114 Vgl. Asseburg/Busse: Der Nahostkonflikt, 2016, S. 69.

115 Vgl. UNOCHA: ERC Amos calls for an end to forced displacement. Online unter:

https://www.unocha.org/story/opt-erc-amos-calls-end-forced-displacement [30. 03. 2018].

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Ostjerusalems verläuft, wurde Ostjerusalem endgültig vom Hinterland isoliert.116 (siehe dazu im Anhang Abbildung 7: Westjordanland im Februar 2008)

Das führt dazu, dass Palästinenser nur einen limitierten Zugang zu den wichtigsten Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäusern haben. Trotzdem bildet Ostjerusalem weiterhin das religiöse, ökologische, soziale und politische Zentrum der Palästinenser.117 Aktuelle archäologische Grabungen von israelischer Seite beim Tempelberg bereiten den Palästinensern Anlass zur Sorge. Zum einen breitet sich die Angst aus, dass bei den Ausgrabungen Reste des jüdischen Tempels gefunden werden könnten. Dessen Existenz wird von muslimischer Seite zwar bestritten, aber mit dessen Fund könnten die israelischen Besitzansprüche belegt und untermauert werden, wodurch sie den Tempelberg einfordern könnten. Zum anderen befürchten die Muslime eine beabsichtigte Zerstörung der Al-Aqsa-Moschee durch die Israelis, um auf ihren Trümmern den dritten Tempel zu erbauen.118 Auf jüdischer Seite wäre ein Aufbau des dritten Tempels jedoch ein Eingriff in Gottes Willen, da der Messias diesen erbauen soll. Somit wird von sehr wenigen Juden ein Wiederaufbau gefordert.119

Während der Tempelberg, wie bereits oben erwähnt, für die Juden ein Symbol der Wiedervereinigung Jerusalems darstellt, so steht dieser besonders mit dem Felsendom als Symbol für die Rückkehr der im Exil lebenden Palästinenser und als Wahrzeichen des Kampfes gegen den Zionismus.120