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Wagner-Egelhaaf

Im Dokument Kulturen des Entscheidens (Seite 72-91)

Trauerspiel und Autobiographie

M. Wagner-Egelhaaf

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Heiratsentscheidungen beziehungsweise Fragen der Partnerwahl, religiöse Ent-scheidungen, ReiseentEnt-scheidungen, bei Schriftstellern und Schriftstellerinnen Werkentscheidungen, aber auch Entscheidungen für die Zeit nach dem Tod des Autobiographen beziehungsweise der Autobiographin, Entscheidungen, die gewissermaßen das Nachleben und den Nachruhm sichern.4 Nicht zuletzt ist es aber auch die Entscheidung, eine Autobiographie zu schreiben, die in Autobio-graphien thematisiert wird. Offensichtlich ist es nicht selbstverständlich, sein Leben zum Gegenstand der öffentlichen Mitteilung zu machen. Wenn der Auto-biograph oder die AutoAuto-biographin nicht als unbescheiden, geltungssüchtig, gar als narzisstisch erscheinen möchte, scheint es der Rechtfertigung beziehungs-weise Begründung zu bedürfen.

1. Entscheiden, Zeit und Selbst-Beobachtung

Allerdings lässt sich feststellen, dass Entscheidensszenarien in Autobiographien nicht immer offen ausgefaltet werden; oft muss man sehr genau lesen, um zwi-schen den Zeilen Entscheidenskonflikte und -strategien zu entdecken. Warum dies so ist, stellt einen wichtigen Diskussionspunkt dar. Die Nachträglichkeit der Autobiographie scheint in diesem Zusammenhang einen Grund für diesen auf den ersten Blick erstaunlichen Befund zu bieten. Einerseits darf vermutet werden, dass Entscheidungskrisen im Rückblick aus persönlichen Motiven ver-schleiert werden oder aber dass sie nicht zum gewählten Lebensbild einer sich folgerichtig entwickelnden Laufbahn passen. Andererseits aber ist es auch denk-bar, dass Situationen des Entscheidens im Rückblick dramatisiert werden, um einem bestimmten Entwicklungsschritt den gehörigen Nachdruck zu verleihen – oder aber dem Text der Autobiographie, der schließlich auch ein literarischer ist, die erforderliche künstlerische Spannung zu geben. In diesem Sinn schreibt Niklas Luhmann:

»Es mag […] sein, daß viel von dem, was passiert, auch Entscheidung war, aber nicht als solche greifbar ist. Und ebenso können sich umgekehrt Situationen ergeben, in denen sich die Entscheidung aufdrängt, daß es zweckmäßig oder gar unerläßlich ist, etwas von dem, was passiert war, als Entscheidung zu rekonstruieren.«5

Das Moment der Nachträglichkeit, dem das autobiographische Schreiben struk-turell verpflichtet ist, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Faktor der Zeit, mit dem sich nicht zufällig auch die Theorie des Entscheidens auseinandersetzt. So hat

4 Mit Nachlassentscheidungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern beschäftigt sich Sarah Nienhaus im Rahmen des Teilprojekts A 04 »Herkules am Scheideweg? Szenarien des Entscheidens in der autobiographischen Lebenslaufkonstruktion« im Münsteraner SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens«.

5 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 339.

Trauerspiel und Autobiographie 73 Hermann Lübbe darauf hingewiesen, dass der Faktor ›Zeit‹ für das Entscheiden konstitutiv ist:

»In erster Linie interessiert philosophisch die Zeitlichkeitsstruktur der Entschei-dungssituation. ›Entscheidung‹ heißt nicht ohne weiteres der Akt, sich auf eine unter sich ausschließenden Möglichkeiten, deren Vorzüge und Nachteile nicht völlig durch-schaubar sind, festzulegen; ein solcher Akt hieße eher eine ›Wahl‹. Zur Entscheidung wird die Wahl erst unter den Wirkungen eines Zwangs, der sie unumgänglich macht.

Die Entscheidungssituation hat ihre Schärfe darin, daß in ihr die Entscheidung selbst nur für eine gewisse Zeit hinausgeschoben werden kann: Die Entscheidungssituation ist befristet. Es ist leichter, eine Entscheidung zu treffen, wenn faktisch gar keine Aus-sicht besteht, sich die Möglichkeiten, zwischen denen sie fallen muß, in ihrem Für und Wider völlig durchsichtig zu machen.«6

Es ist also der Zeitdruck, der aus der Wahl eine Entscheidung macht. Auch die Autobiographie, die auf ein Leben zurückblickt, hat es gewissermaßen mit einem Zeitproblem zu tun. Autobiographien sind, so kann man sagen, vom Tod her geschrieben,7 das heißt im Bewusstsein von der Endlichkeit des menschlichen Daseins. Ohne den Tod hätte das Leben keinen Wert und verdiente nicht auf-geschrieben zu werden. Dabei ist die Zeitstruktur der Autobiographie intrikat:

Sie wird rückblickend geschrieben, aus der Perspektive eines erreichten Zeit-punkts im Leben, aber der Rückblick läuft, zumindest im traditionellen Modell der chronologischen Erzählung, zeitlich vorwärts, das heißt (idealiter) wieder auf den Zeitpunkt der Niederschrift zu.8 In jedem Augenblick beschriebenen Lebens treffen diese beiden Laufrichtungen aufeinander, Rückschau und Voraus-schau. Der Erzähler blickt zurück und lässt seine Figur nach vorwärts, in die Zukunft, laufen. Dies bedeutet, dass sich in jedem Moment der Autobiographie der autobiographische Erzähler und die autobiographische Figur begegnen, zwei Instanzen, die systematisch zu trennen sind, im autobiographischen Text aber beständig interagieren, da der Erzähler die Figur entwirft und die Figur die Per-spektive des Erzählers zur Darstellung bringen soll. Dennoch: Jeder erzählte Moment der Autobiographie ist von einer doppelten Spannung getragen, einer zeitlichen und einer erzähltechnischen, die ihrerseits in einem Wechselverhältnis

6 Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a.

(Hg.), Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140, hier S. 130.

7 Vgl. Jacques Derrida, Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens. Die Lehre Nietzsches, in: Manfred Frank u. a. (Hg.), Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text-analytik, Olten 1980, S. 64–98, hier S. 80.

8 Bernd Neumann hat darauf hingewiesen, dass die klassische Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts in der Regel mit dem Eintritt in das Berufsleben, der oft mit der Eheschlie-ßung zusammenfällt, das heißt mit dem Erreichen einer sozialen Position endet; vgl. Bernd Neumann, Von Augustinus bis Facebook. Zur Geschichte und Theorie der Autobiographie, Würzburg 2013, S. 37.

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stehen. In Momenten der Entscheidung kommt diese doppelte Spannung zum Austrag.

Niklas Luhmann hat die Zeitstruktur der Entscheidung folgendermaßen charakterisiert:

»Das vielleicht auffallendste Merkmal von Entscheidungen ist: daß sie etwas Neues in die Geschichte einführen. Sie müssen zu diesem Zweck zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden und für die Zukunft eine Komponente vorsehen, die sich nicht aus der Vergangenheit (sondern aus der Entscheidung) ergibt. […] Was die Ent-scheidung zusätzlich anstrebt, ist die Konstruktion einer eigenen Zukunft (etwa eines Zweckes, den sie erreichen will) und einer eigenen Vergangenheit (nämlich ausgewähl-ter Bedingungen, von denen sie ausgeht).«9

Bezogen auf die Autobiographie bedeutet das, dass jede im autobiographischen Text dargestellte Entscheidung, eine eigene Zukunft und eine eigene Vergan-genheit erzeugt. Zukunft und VerganVergan-genheit lassen sich vom Moment der scheidung her neu lesen. Dies gilt natürlich im besonderen Maße für die Ent-scheidung, eine Autobiographie zu schreiben. Die eigene Vergangenheit ist die des autobiographischen Erzählers, wie sie rückblickend im Text erzählt wird, aber die Figur, deren Leben erzählt wird, ist nach vorne orientiert, sie lebt und blickt in die Zukunft.

2. Die Entscheidung zur Autobiographie in »Dichtung und Wahrheit«

Im Folgenden soll die Entscheidensstruktur der Autobiographie und speziell Goethes »Dichtung und Wahrheit« mit Luhmanns Überlegungen zum Ent-scheiden in den Blick genommen werden. Luhmann hat bekanntlich darauf hingewiesen, dass Unterscheidungen sich nicht selbst beobachten können und dass es dazu einer Beobachtung zweiter Ordnung bedarf.10 Dasselbe gilt auch für Entscheidungen, die von der Struktur her auch Unterscheidungen sind, zum Beispiel Unterscheidungen zwischen dem Vorher und dem Nachher, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der autobiographische Erzähler ist ein Beobachter zweiter Ordnung, der die autobiographische Figur, sein früheres Ich, beobachtet.

Die Entscheidungen der Figur werden aus der nachträglichen Perspektive des Erzählers dargestellt. Der Erzähler sieht mehr und anderes als die Figur, die im Moment der Entscheidung möglicherweise gar nicht erkennen kann, dass sie

9 Niklas Luhmann, Disziplinierung durch Kontingenz. Zu einer Theorie des politischen Entscheidens, in: Stefan Hradil / Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Differenz und Integration.

Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996, Frankfurt a. M. 1997, S. 1080.

10 Ders., Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungs-Archiv. Zeitschrift für Verwal-tungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 84 (1993), S. 287–310, hier S. 294.

Trauerspiel und Autobiographie 75 sich in einer Entscheidungssituation befindet. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Erzähler und Figur, wie bereits angemerkt, instabil, da der Erzähler die Figur in der Beobachtung erst hervorbringt, Erzähler und Figur ineinander verschwimmen. Der Leser beziehungsweise die Leserin des autobiographischen Texts, aber mehr noch der / die Interpret/in, insbesondere wenn sie oder er sys-temtheoretisch unterwegs ist, wäre Beobachter/in dritter Ordnung, der / die den Blick auf die Entscheidungsoptionen und -modi des autobiographischen Erzäh-lers einstellt.

Goethes Autobiographie »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, er-schienen zwischen 1811 und 1833, beginnt bezeichnenderweise mit der Schil-derung der Entscheidung zur Autobiographie. Goethe berichtet vom Brief eines Freundes, der ihn aufgefordert habe, nun, nach dem Erscheinen von Goethes zwölfbändiger Werkausgabe 1806 bis 1808 bei Cotta, seine Autobiographie nachzuschieben:

»Wir haben, teurer Freund, nunmehr die zwölf Teile Ihrer dichterischen Werke bei-sammen, und finden, indem wir sie durchlesen, manches Bekannte, manches Unbe-kannte; ja manches Vergessene wird durch diese Sammlung wieder angefrischt. Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in Einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. […] Das Erste also, warum wir Sie ersuchen, ist, daß Sie uns Ihre, bei der neuen Ausgabe, nach gewissen innern Beziehungen geordneten Dichtwerke in einer chronologischen Folge aufführen und sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt, in einem ge-wissen Zusammenhange vertrauen möchten.«11

Dieser Brief ist fingiert, aber es gibt Äußerungen in einem Brief von Schiller aus dem Jahr 1797, die in die von Goethe hier ausformulierte Richtung gelesen wer-den können.12 Goethe begann mit der Arbeit an seiner Autobiographie im Ok-tober 1809, also zwölf Jahre später.13 Zwar ist dieser Beginn der Autobiographie nicht explizit als Entscheidenssituation gerahmt, gleichwohl steht hinter dem Einsatz des autobiographischen Projekts eine Entschließung: Das Ansinnen, sein

11 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. v. Klaus-Detlef Müller, Abt. 1: Sämtliche Werke, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1986, S. 11 f.

12 Vgl. den Stellenkommentar von K.-D. Müller, ebd., S. 1074. Am 17. Januar 1797 hatte Schiller an Goethe geschrieben: »Ich wünschte besonders jetzt die Chronologie Ihrer Werke zu wißen, es sollte mich wundern, wenn sich an den Entwicklungen Ihres Wesens nicht ein gewißer nothwendiger Gang der Natur im Menschen überhaupt nachweisen liesse. […]

Ich möchte aber von den früheren Werken, von Meister selber, die Geschichte wißen. Es ist keine verlorene Arbeit, dasjenige aufzuschreiben, was Sie davon wißen« (Friedrich Schiller, 33. An Goethe, Januar 1797, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 29: Brief-wechsel. Schillers Briefe 1.11.1796–31.10.1798, hg. v. Norbert Oellers / Frithjof Stock, Wei-mar 1977, S. 35).

13 Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 11), S. 1001 (Kommentar).

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Leben aufzuschreiben, wird an Goethe von außen herangetragen. Die Entschei-dung scheint nicht schwierig gewesen zu sein, denn Goethe schreibt: »Dieses so freundlich geäußerte Verlangen erweckte bei mir unmittelbar die Lust es zu be-folgen.«14 Ein Widerstand, auch etwa in Form einer Unentschiedenheit, ist nicht zu überwinden. Dass die Entscheidung nicht schwerfällt, ist indessen nicht weiter erstaunlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Brief ohnehin fingiert ist.

Die »Lust«, dem brieflich fingierten Ansinnen zu folgen, scheint eine originäre gewesen zu sein. An dieser Stelle offenbart sich jedoch der soziale Charakter der Autobiographie: Der fingierte Freundesbrief ist im Namen eines engeren Freundeskreises geschrieben, hat aber gleichwohl einen weiteren Rezipierenden-kreis im Blick, wenn es darin heißt: »Widmen Sie diese Bemühung einem engern Kreise, vielleicht entspringt daraus etwas, was auch einem größern angenehm und nützlich werden kann.«15 Der größere Kreis ist das spätere Lesepublikum der Autobiographie. Bekräftigt wird diese soziale Dimension der Autobiogra-phie in Goethes anschließender Deliberation: »Denn wenn wir in früherer Zeit leidenschaftlich unsern eigenen Weg gehen, und um nicht irre zu werden, die Anforderungen Anderer ungeduldig ablehnen, so ist es uns in späteren Tagen höchst erwünscht, wenn irgend eine Teilnahme uns aufregen und zu einer neuen Tätigkeit liebevoll bestimmen mag.«16 In einer ›echten‹ Entscheidenssituation wäre der Freundesbrief eine ›Ressource des Entscheidens‹;17 im vorliegenden Zusammenhang wird er eher als eine solche inszeniert wie überhaupt die ge-samte Konstellation – das autobiographische Ich erhält den Brief eines Freunds und überlegt sich dann, dem dort vorgebrachten Ansinnen zu entsprechen – die implizite Inszenierung einer Entscheidenssituation darstellt und damit auch eine dramatische Dimension aufweist.

›Drama‹ (gr. drᾶmα) heißt ›Tat, Handlung‹ sowie ›Schauspiel‹. Die Wortbe-deutung gibt zu verstehen, dass das Drama in erster Linie durch das Moment der Handlung gekennzeichnet ist. In der Theorie des Entscheidens spielt das Verhält-nis von ›Entscheidung‹ und ›Handlung‹ eine prominente Rolle. Folgt die Hand-lung auf die Entscheidung oder ist nicht vielmehr die Entscheidung respektive das Entscheiden selbst schon Handeln? Während der Text zu verstehen gibt, die Entscheidung für die Autobiographie sei aufgrund des Freundesbriefs vor dem Schreibbeginn erfolgt, lassen sich innertextuell Entscheidung und Handlung nicht mehr voneinander trennen, da die Entscheidung mit dem Akt des Schrei-bens bereits in die Tat umgesetzt ist.

Ein weiterer Gesichtspunkt in Luhmanns Auseinandersetzung mit der The-matik des Entscheidens ist für das Entscheiden in der Autobiographie in

syste-14 Ebd., S. 12.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Vgl. das Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Entscheidens,

<https://www.uni-muenster.de/SFB1150/forschung/forschungsprogramm.html>, sowie das Programmheft zur SFB-Tagung Ressourcen des Entscheidens (24.–26. Mai 2017), <https://

www.uni-muenster.de/SFB1150/ressourcen/> (Stand jeweils: 18. November 2017).

Trauerspiel und Autobiographie 77 matischer Hinsicht bedenkenswert. Luhmann zufolge bringen Entscheidungen weitere Entscheidungen hervor und begründen sich durch diese;18 und: Sie las-sen sich nur »in der Weise zerlegen, daß sie [wiederum] in Entscheidungen«19 zerlegt werden. Folgt man dieser systemtheoretischen Logik, muss die ent-scheidenstheoretische Analyse von »Dichtung und Wahrheit« den Blick darauf richten, welche weiteren Entscheidungen die Entscheidung zum Schreiben der Autobiographie hervorbringt und wie sie sich auf diese Grundentscheidung beziehen lassen.20 Alle im autobiographischen Text folgenden Entscheidungen erscheinen in dieser systemtheoretischen Perspektive als ›Untereinheiten‹ der Einheit ›Entscheidung zur Autobiographie‹. Dies gilt etwa für Goethes Liebes-entscheidungen, bei denen es tatsächlich mehr ums Scheiden geht: Der junge Goethe erobert bekanntlich die Herzen junger Damen im Sturm (Charlotte Buff, Friederike Brion, Lili Schönemann), um später Gründe finden zu müssen, die Beziehung wieder zu lösen. Dieses ›Später‹ ist ein lebensweltliches, aber auch ein autobiographisches – und diese beiden Perspektiven müssen nicht identisch sein.

Jedenfalls greifen in dieser, zugegebenermaßen radikalen systemtheoretischen Betrachtungsweise alle Entscheidungen notwendig, will sagen: systembedingt, ineinander – und tragen die autobiographische Lebenslaufkonstruktion. Dies soll im Folgenden paradigmatisch an der Schlussszene von »Dichtung und Wahr-heit« gezeigt werden, die, bezeichnend genug, ebenfalls, und diesmal expliziter als die Eingangsszene, eine Szene der Entscheidung ist.

3. Eine Berufsentscheidung

»Dichtung und Wahrheit« endet mit einer gleichfalls bedeutsamen Entschei-dung, nämlich der EntscheiEntschei-dung, eine Einladung des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an den Hof nach Weimar anzunehmen. Dies ist der Anfang einer Berufsentscheidung, nämlich in Weimar zu bleiben und ein Hof-amt anzutreten. Lebensgeschichtlich geht diese Entscheidung der Entscheidung zur Autobiographie voraus – in der autobiographischen Erzählung folgt sie ihr aber. Das bedeutet, dass die folgenträchtige Entscheidung, das Angebot des

Her-18 Vgl. Luhmann, Disziplinierung durch Kontingenz (wie Anm. 9), S. 1081.

19 Ders., Soziologische Aufklärung (wie Anm. 5), S. 344.

20 Über Goethes religiöse Entscheidungen, die ihn letztlich zu seinem prometheischen Dichter- und Selbstverständnis führen, vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, »Du hast dich gegen Gott entschieden«. Literarische Figurationen religiösen Entscheidens (Augustinus und Goethe), in: Ulrich Pfister u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden (erscheint Würzburg 2018). Von den Religionsentscheidungen soll hier nicht mehr die Rede sein, aber selbst-redend führen sie zu dem Klassiker, der die nun bei Cotta erschienenen Werke hervor-gebracht hat, welche im fingierten Freund den Wunsch hervorrufen, nun auch Goethes Autobiographie zu lesen. Die religiösen Entscheidungen erscheinen so als Untereinheiten der Einheit Entscheidung zur Autobiographie; vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung (wie Anm. 5), S. 345.

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zogs Carl August, ihm an den Weimarer Hof zu folgen, anzunehmen, mit dazu führt, dass Jahrzehnte später der Gedanke, eine Autobiographie zu schreiben, aufkommen kann. Die Weimarer Berufsentscheidung liegt der Entscheidung zur Autobiographie immer schon zugrunde. Und umgekehrt basiert die Schilderung des dramatischen Schlusses von »Dichtung und Wahrheit« auf der eingangs be-schriebenen Entscheidung zur Autobiographie, sodass letzterer erstere grund-sätzlich eingeschrieben ist.

In die Entscheidung, Frankfurt in Richtung Weimar zu verlassen, spielt zu-dem die Entscheidung, das Verlöbnis mit Lili Schönemann zu lösen, hinein. Lili Schönemann war die Tochter eines Frankfurter Bankiers und, so liest man in

»Dichtung und Wahrheit«, aufgrund der verschiedenen Lebensverhältnisse ka-men die Familien über die Verbindung nicht überein.21 Um über die Trennung hinwegzukommen, begibt sich Goethe auf Anraten seines Vaters im 18. Buch auf eine Reise in die Schweiz, wo es auf dem St. Gotthardt zu einer weiteren bedeu-tungsvollen Entscheidungsszene kommt, die an dieser Stelle nicht weiter inter-pretiert wird.22 In jedem Fall ist auch diese Entscheidung im autobiographischen Rückblick eine Unterentscheidung der Entscheidung zur Autobiographie wie sie ihrerseits die spätere Entscheidung, nach Weimar zu gehen, bedingt.

Zum ersten Mal wird im 15. Buch von »Dichtung und Wahrheit« von Goethes Bekanntschaft mit dem jungen Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eise-nach berichtet und auch hier schon ist die Rede davon, dass Goethes Vater »Sachsen-Weimar-Eise-nach seinen reichsbürgerlichen Gesinnungen«23 den Umgang seines Sohns mit den adligen Standespersonen missbilligt. Der Einladung des Herzogs, Goethe möge an den Hof nach Weimar kommen, folgen heftige Kontroversen zwischen Sohn und Vater Goethe, für den es als Bürger der Freien Reichsstadt Frankfurt un-denkbar war, seinen Sohn an einem Fürstenhof zu sehen. Als die angekündigte Kutsche aus Weimar, die Goethe aufnehmen soll, aufgrund unvorhergesehener Umstände auf sich warten lässt, sieht Goethes Vater in Carl Augusts Angebot nichts als »einen lustigen Hofstreich«, um den Sohn »zu kränken und zu be-schämen«.24 Goethe indes ist reisefertig und hat sich bereits von den Frankfurter Freunden verabschiedet. Um lästigen Fragen sowie weiteren Besuchen aus dem

21 »So hatte sich auch selbst nach dieser gewonnenen Einwilligung, kein Verhältnis der El-tern untereinander bilden und einleiten können; kein Familienzusammenhang, andere Religionsgebräuche, andere Sitten! Und wollte die Liebenswürdige einigermaßen ihre Lebensweise fortsetzen, so fand sie in dem anständig geräumigen Hause keine Gelegenheit keinen Raum« (Goethe, Dichtung und Wahrheit [wie Anm. 11], S. 767). Die Forschung geht indessen davon aus, dass auch Goethe nicht bereit war, sich auf die Karriere eines Frankfurter Bürgersohns, welche die Verbindung mit Lili erfordert hätte, einzulassen, vgl.

ebd., S. 1264 (Kommentar).

22 Vgl. ebd., S. 785, 809–813. In dieser Stelle des 18. Buchs geht es darum, ob die Reisenden (Goethe ist in Begleitung seines Freundes Jakob Ludwig Passavant) den Abstieg nach Ita-lien wagen oder nach Frankfurt zurückkehren. Sie wird im Rahmen einer größeren Studie zu Goethes Szenarien des Entscheidens eingehend gewürdigt.

23 Ebd., S. 701.

24 Ebd., S. 845 f.

Trauerspiel und Autobiographie 79 Weg zu gehen und freilich auch, um Lili nicht mehr zu begegnen, hält Goethe sich im Haus verborgen und schreibt, auf die Kutsche wartend, an seinem bereits begonnenen Trauerspiel »Egmont« weiter. In dieser Situation verschränken sich der Text der Autobiographie und das Trauerspiel auf gerade im Hinblick auf die Problematik des Entscheidens signifikante Weise. Als der herzogliche Wagen nach Tagen des Wartens immer noch nicht kommen will, setzt Vater Goethe seinem Sohn ein Ultimatum:

»Nur der feste Vorsatz mich wegzubegeben, ihr [Lili Schönemann] nicht durch meine Gegenwart beschwerlich zu sein, ihr wirklich zu entsagen, und die Vorstellung, was für

»Nur der feste Vorsatz mich wegzubegeben, ihr [Lili Schönemann] nicht durch meine Gegenwart beschwerlich zu sein, ihr wirklich zu entsagen, und die Vorstellung, was für

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