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Die Co-Produzenten der Entscheidungen

Im Dokument Kulturen des Entscheidens (Seite 143-169)

Materielle Ressourcen in englischen Gerichtsprozessen des 18. Jahrhunderts

1. Einleitung

Gerichtliches Entscheiden wird in der anglo-amerikanischen Rechtstheorie ge-wöhnlich als eine Variante der rationalen Wahl diskutiert. Dabei ist man sich darüber im Klaren, dass von einer perfekt rationalen Wahl keine Rede sein kann, was für die Teilnehmer an der durchaus lebhaften Theoriedebatte insofern ein Problem ist, als es ja vor Gericht immerhin um die Feststellung der Wahrheit geht. Diskutiert werden daher Faktoren, die perfekt rationales oder ›akkurates‹

Entscheiden durch Richter oder Geschworene behindern. Genannt werden in diesem Zusammenhang zum einen strukturelle und institutionelle Restrik-tionen (wie politische Rücksichten, die Antizipation öffentlicher und medialer Kritik, aber auch konkurrierende Rechtsnormen), zum anderen verschiedene kognitive Verzerrungen im Sinne von Kahneman und Tversky (Selbstüberschät-zung, gender bias, emotionale Beweisführung usf.).1 Weitere Aufschlüsse über Rationalitätsbeschränkungen erhofft man sich derzeit von der

Verhaltenspsy-1 John Drobak / Douglass C. North, Understanding Judicial Decision-Making. The Impor-tance of Constraints on Non-Rational Deliberations, in: Washington University Journal of Law & Policy 26 (2008), S. 131–152; Daniel Kahneman / Amos Tversky, Availability. A Heuristic for Judging Frequency and Probability, in: Cognitive Psychology 5 (1973), S. 207–

232; dies., The Framing of Decisions and the Psychology of Choice, in: Science 211 (1981), S. 453–458. Weitere Restriktionen, die sich demnach auf die Rationalität juristischen Ent-scheidens auswirken, sind ökonomische Rücksichten, die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der Richter oder ganz allgemein kulturelle und gesellschaftliche Normen und Werte; vgl. etwa James L. Gibson, Environmental Constraints on the Behavior of Judges. A Representational Model of Judicial Decision Making, in: Law & Society Review 14 (1980), S. 343–370; Alex Kozinski, What I Ate for Breakfast and Other Mysteries of Judicial Decision Making, in: Loyola of Los Angeles Law Review 26 (1992), S. 993–1000; Dan Simon, A Psy-chological Model of Judicial Decision Making, in: Rutgers Law Journal 30 (1998), S. 1–142;

Mark Kelman u. a., Context-Dependence in Legal Decision Making, in: The Journal of Legal Studies 25 (1996), S. 287–318; Donald C. Langevoort, Behavioral Theories of Judgment and Decision Making in Legal Scholarship. A Literature Review, in: Vanderbilt Law Review 51 (1998), S. 1499–1540; Lawrence S. Wrightsman, Judicial Decision Making. Is Psychology Relevant?, New York 1999; Dan Simon, A Third View of the Black Box. Cognitive Coherence in Legal Decision Making, in: The University of Chicago Law Review 71 (2004), S. 511–586.

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Die Co-Produzenten der Entscheidungen 143 chologie und den Neurowissenschaften. Mit den Worten der Autoren eines neue-ren, weithin rezipierten Aufsatzes über »Judicial Decision Making«: »In order to understand fully how judges decide cases, we need to understand how the mind works. We need to know how judges perceive the issues involved in lawsuits, how they see competing priorities and available choices, and how they make their decisions. These are the same questions involved in understanding human decision-making in general. Behavioral psychologists and cognitive scientists have studied decision-making for centuries, but our knowledge of the brain’s processes is still very primitive.«2

Juristisches Entscheiden wird in dieser Theorietradition somit als ein kogni-tives Problem gesehen, als ein idealerweise vollkommen rationaler Denkvor-gang, der aber durch subjektive und äußere Faktoren behindert wird. Ob sich solche mentalen Vorgänge überhaupt untersuchen lassen, wird dabei nicht dis-kutiert. Die mehr oder weniger rationale Entscheidung bleibt hier eine black box, sie wird dem juristischen Handeln von Seiten der Theorie zugeschrieben, aber nicht als ein konkreter Vorgang beobachtet, und sie ist, als mentales Phänomen, jeder Beobachtbarkeit entzogen. Auf ein empirisch belastbares Terrain gelangt man daher erst dann, wenn man juristisches Entscheiden nicht als Denkpro-blem betrachtet, sondern als einen sozialen, interaktiven Prozess, der unmittel-bar beobachtet oder aber zumindest anhand von Quellen dicht beschrieben und rekonstruiert werden kann. Die damit verbundene Frage lautet dann aber nicht:

›Warum ist ausgerechnet diese und keine bessere Entscheidung zustande gekom-men‹, sondern vielmehr: ›Wie wird entschieden und was sind die Bedingungen dafür, damit dieser soziale Prozess auf- und durchgeführt werden kann?‹.

Eine Antwort darauf lässt sich zunächst mit Hilfe der systemtheoretischen Verfahrenstheorie formulieren, die gerichtliches Entscheiden als fortgesetzte

»Verengung eines Möglichkeitsraums« und Zuspitzung von Entscheidungsal-ternativen darstellt.3 Diese Verengungen und Zuspitzungen resultieren daraus, dass sich das Verfahren als ein abgegrenztes soziales System konstituiert, das den Beteiligten spezifische Rollen zuweist und sie zugleich auf ihre verbalen oder nonverbalen Beiträge festgelegt, hinter die sie nicht einfach wieder zurückfallen können. Diese Beiträge werden als Selektionen behandelt, aus denen sich Schritt für Schritt eine Verfahrensgeschichte ergibt, die wiederum eine bestimmte Ent-scheidung immer mehr als unabwendbar erscheinen lässt.4

2 Drobak / North, Judicial Decision-Making (wie Anm. 1), S. 132.

3 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a. M. 1983. Das Zitat stammt von Thomas Scheffer u. a., Starke und schwache Verfahren. Zur unterschiedlichen Funk-tionsweise politischer Untersuchungen am Beispiel der englischen »Hutton Inquiry« und des »CIA-Ausschusses« der EU / Strong and Weak Procedures. Political Inquiries and Their Different Modes of Operation Based on the »Hutton Inquiry« in the UK and the EU’s »CIA Inquiry«, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 423–444.

4 Vgl. dazu die Skizze von André Kieserling, Simmels Formen in Luhmanns Verfahren, in:

Barbara Stollberg-Rilinger / André Krischer (Hg.), Herstellung und Darstellung von Entschei-dungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010, S. 109–125.

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Zur Analyse gerichtlicher Verfahren ist Luhmanns Verfahrenstheorie unent-behrlich. Allerdings hilft sie bei der Untersuchung gerichtlichen Entscheidens im engeren Sinne nur bedingt weiter, weil es ihr eben primär um Legitimations- und nicht um Entscheidungsprobleme geht.5 Der Fokus der Verfahrenstheorie auf Rollenverhalten und Verstrickungen positioniert das Verfahren zudem im Wesentlichen als ein Sprachspiel, auch wenn Luhmann wiederholt auf die per-formativen Elemente beziehungsweise die symbolisch-expressiven Dimensionen von Verfahren verweist.6 Damit gemeint sind die rituellen und zeremoniellen Passagen eines Verfahrens, aber auch die implizite Symbolik, der zeichenhafte Überschuss des Handelns, der von Beobachtern als Selbstdarstellung (etwa des Angeklagten) gewertet werden kann und der in ganz erheblicher Weise jene ver-strickenden Effekte aufweist, aus denen sich die legitimierende Macht eines Ver-fahrens speist.7 Diese symbolisch-expressiven Dimensionen haben auch kultur-wissenschaftliche Forschungen zur Gerichtsbarkeit in den vergangenen Jahren immer hervorgehoben. Wie für kaum eine andere Institution des Entscheidens wurde gerade für Gerichte das konstitutive, unhintergehbare Zusammenspiel von performativen und instrumentellen Variablen aufgezeigt und der Gerichts-prozess als ein »Drama des Entscheidens« beschrieben.8

Allerdings waren und sind zur Aufführung und Durchführung von derarti-gen juristischen Entscheidungsdramen Ressourcen und Faktoren nötig, die auf Ebenen jenseits der Sprache verweisen, die aber bislang eher selten und gerade von Seiten der historischen Forschung noch nicht systematisch in den Blick gera-ten sind. Gemeint sind damit unterschiedliche Materialitägera-ten. Einige davon fal-len beim Blick auf Gerichtsverhandlungen unmittelbar ins Auge: Auf einem 1768

5 Vgl. allgemein zu Luhmanns Interesse am Problem der Entscheidung beziehungsweise des Entscheidens Günther Ortmann, Luhmanns entscheidungstheoretische Erwägungen, in:

Soziale Systeme 15 (2009), S. 36–45.

6 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (wie Anm. 3), S. 223–232.

7 Ebd., S. 225.

8 Cornelia Vismann, Das Drama des Entscheidens, in: Dies. / Thomas Weitin (Hg.), Urtei-len / Entscheiden, München 2006, S. 91–101. Zum performativen Verständnis von Gerichts-verfahren vgl. Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kultur-geschichte des englischen Arbeitsrechts 1850–1925, München 2002, S. 467–533; Franz-Josef Arlinghaus, Mittelalterliche Rituale in systemtheoretischer Perspektive. Übergangsriten als basale Kommunikationsform in einer stratifikatorisch-segmentären Gesellschaft, in: Frank Becker (Hg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, Frankfurt a. M.

2004, S. 108–156; Franz-Josef Arlinghaus, Gesten, Kleidung und die Etablierung von Dis-kursräumen im städtischen Gerichtswesen (1350–1650), in: Johannes Burkhardt / Christine Werkstetter (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005, S. 461–498; Daniel Siemens, »Vor den Schranken von Moabit«. Zur Kulturgeschichte der Weimarer Strafjustiz, in: Paula Diehl (Hg.), Performanz des Rechts. Inszenierung und Dis-kurs, Berlin 2006, S. 196–210; Rebekka Habermas, Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008, S. 21; Henning Grun-wald, Courtroom to Revolutionary Stage. Performance and Ideology in Weimar Political Trials, Oxford 2012; Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 2011, hier S. 19–71.

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gefertigten Stich, der den Prozess gegen den Radikalreformer und Publizisten John Wilkes wegen aufrührerischer Schriften (seditious libel) vor der King’s Bench darstellt, sieht man nicht nur Akteure, sondern auch Dinge wie den Tisch oder das darauf liegende Schreibmaterial. Auch der Raum selbst gehört zu diesen Din-gen.9 Auf die Bedeutung von Richtertischen haben bereits Michel Foucault und Cornelia Vismann verwiesen. Demnach visualisieren und manifestieren diese die ungleiche Rollenstruktur bei einer Verhandlung: Am Tisch sitzen diejenigen, die entscheiden, vor dem Tisch steht derjenige, über den entschieden wird.10 Der Tisch leistet demnach einen Beitrag zur symbolischen Ordnung des Ver-fahrens und seiner Akteure, genauso wie das Zepter, das auf ihm liegt.

Aber es wäre nicht angemessen, die Dinge ›nur‹ unter symbolischen Gesichts-punkten zu berücksichtigen. Die hier verfolgte These ist vielmehr, dass

Mate-9 Mit dem ›spatial turn‹ wurde diese Art der Dinglichkeit bereits intensiv untersucht, al-lerdings vor allem hinsichtlich der sozialen Konstruktivität des Raumes, aber auch hin-sichtlich seiner medialen Qualitäten zur Hervorbringung von (städtischer) Gesellschaft, vgl. dazu unter anderem Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt a. M. 2013.

10 Vismann, Medien der Rechtsprechung (wie Anm. 8), S. 164.

Abb. 1: Der radikale Abgeordnete John Wilkes wird am 20. April 1768 vom King’s Bench-Gericht wegen ›aufrührerischer Schriften‹ zu einer Haftstrafe verurteilt, Kup-ferstich, 1768, BM 1865,0114.662.

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rialitäten in produktiver Weise beim juristisch-gerichtlichen Entscheiden zum Einsatz kamen, und zwar in einer Art und Weise, die eine klare Unterscheidung zwischen autonomen Denkvorgängen einerseits und ihrer materiellen Basis an-dererseits schwierig macht. Das im Folgenden relevante Konzept von Materialität stammt dabei aus den neueren soziologischen Praxistheorien. Hier stellt Mate-rialität neben Zeitlichkeit und Körperlichkeit eine Dimension sozialer Praktiken dar.11 Entscheiden als eine materialisierte soziale Praxis zu beobachten, kann sich als eine wichtige Erweiterung der Verfahrenstheorie erweisen. Sie trägt so-wohl dazu bei, ein komplexeres Bild der Entscheidungsvorgänge zu gewinnen als auch dazu, die »mentalistischen Verkürzungen« der Rational Choice-Theorie zu überwinden.12 Im Unterschied dazu, aber auch zur klassischen Handlungs-theorie, verneint die Praxistheorie den Dualismus von Subjekt und Objekt und damit die Vorstellung, dass das Handeln im Kopf der Subjekte in Form von In-tentionen beginnt und äußerlich, im Reich der Objekte, bereits gefasste Inten-tionen lediglich ausgeführt werden.13 IntenInten-tionen werden vielmehr als Bestand-teil der Praxis verstanden, nicht als der »unbewegte Beweger der Praxis«, sondern als »inkorporierte Dispositionen«14. Sie äußern sich als praktischer Sinn im Hier und Jetzt, in körperlichen Vollzügen und dem gekonnten oder habitualisierten Umgang mit Dingen. Die praxeologische Absage an die klassische Subjekt-Ob-jekt-Dichotomie geht also nicht einher mit einer Ausblendung des Mentalen, wohl aber mit dessen Dezentrierung: »Es wird gefragt, wie mentale Vollzüge und Zustände in Praktiken registriert, ratifiziert, bestätigt und beobachtet werden, wie sie sich in körperlichen doings and sayings manifestieren und wie sie in Praktiken mitwirken.«15

11 Im Sinne von Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 51; vgl. zur bereits laufenden historischen Rezep-tion der Praxistheorie u. a. Dagmar Freist, Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung, in: Dagmar Freist (Hg.), Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015; Marian Füssel, Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Arte-fakte, Köln 2015, S. 21–33; Lucas Haasis / Constantin Rieske, Historische Praxeologie.

Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015, S. 7–54. Für eine Untersuchung entscheidungsbezogener Vor-gänge wurde die Praxistheorie von der historischen Forschung bislang so gut wie nicht fruchtbar gemacht. Unabhängig davon haben aber bereits andere auf dingliche Faktoren von (administrativen) Wissensprozessen hingewiesen, so vor allem Peter Becker / William Clark (Hg.), Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor, Mich. 2001.

12 Um eine Formulierung von Robert Schmidt aufzugreifen, vgl. ders., Soziologie der Prak-tiken (wie Anm. 11), S. 51.

13 Ebd., S. 57.

14 Frank Hillebrandt, Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, S. 11.

15 Schmidt, Soziologie der Praktiken (wie Anm. 11), S. 57 f.

Die Co-Produzenten der Entscheidungen 147 Auf unser Problem bezogen heißt das, dass auch gerichtliches Entscheiden nicht als innerer, mentaler Akt eines Richters oder Geschworenen verstanden werden kann. Wenn beim Entscheiden immer auch Objekte beziehungsweise Materialitäten im Spiel sind – und dazu zählt hier auch die Körperlichkeit der Akteure und das in diesen Körpern situierte Know-how –, ist es nicht möglich, diesen Vorgang auf Denkoperationen zu reduzieren – die Dinge stehen einem solchen Reduktionismus gleichsam im Weg.16 Ich möchte diese Unhintergehbar-keit der Materialitäten bei der Analyse juristischen Entscheidens im Folgenden anhand zweier Gegenstandsfelder deutlich machen, nämlich anhand der Raum-strukturen des gerichtlichen Betriebs sowie anhand des Akten- und Notizbuch-materials der Anwälte und Richter. Damit geraten Gegenstände in den Blick, die auf eher diskrete Art und Weise an der praktischen Herstellung von Entschei-dungen mitwirkten. Meine Beispiele stammen aus der englischen Zivilgerichts-barkeit des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, bei der mündliche und öffentliche Verhandlungen (mit und ohne Geschworene) im Zentrum standen oder aber zumindest die Schauseite der Verfahren darstellten. Man hat es dabei mit einer schon weitgehend ausdifferenzierten, früh-modernen, allgemein akzeptierten Verfahrensordnung zu tun, bei der Anwälte das Geschehen dominierten.17 Die Prozesse wurden von unterschiedlichen Seiten beobachtet: Ihr Ablauf wurde von professionellen Gerichtsreportern in Wortlautprotokollen festgehalten, in Zeitungen berichtet oder auch von den beteiligten Juristen protokolliert. Sie sind einer historischen Praxeologie insofern zugänglich, als hier Beobachtun-gen zweiter Ordnung angestellt werden können: Also die Beobachtung der ver-gleichsweise dichten und ausführlichen Beobachtungen der Zeitgenossen. Diese beobachtbaren Beobachtungen wurden aber nicht nur in Texten, sondern auch in Bildern manifestiert.

16 Pointiert dazu jetzt Fabian Steinhauer, Unreine Rechtslehren. Bruno Latours Untersu-chung zum Conseil d’État und der neue Materialismus in den Rechtswissenschaften, in:

Der Staat 56 (2017), S. 293–304. Auch für Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theo-rie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301, irritiert die Materialität der Praktiken die Annahmen intellektua-listischer beziehungsweise rationaintellektua-listischer Sozialtheorien.

17 Allgemein zur Entwicklung von englischen Gerichtsverfahren, vornehmlich im Bereich des Strafrechts, John H. Langbein, The Origins of Adversary Criminal Trial, Oxford 2003;

J. M. Beattie, Crime and the Courts in England. 1660–1800, Oxford 1986; ders., Scales of Justice. Defense Counsel and the English Criminal Trial in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Law and History Review 9 (1991), S. 221–267; David Lemmings, Criminal Trial Procedure in Eighteenth-Century England. The Impact of Lawyers, in: Journal of Legal History 26 (2005), S. 63–70; André Krischer, Der »erlaubte Konflikt« im Gerichts-verfahren. Zur Ausdifferenzierung einer Interaktionsepisode in den englischen Hochver-ratsprozessen der Frühen Neuzeit, in: Bettina Heintz / Hartmann Tyrell (Hg.), Interaktion, Organisation, Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Stutt-gart 2015, S. 201–225.

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2. Gerichtliche Raumstrukturen

Die gerichtlichen Verhandlungen fanden ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in speziell dafür eingerichteten Räumlichkeiten statt, in der Regel in eigens dafür erbauten Gerichtsgebäuden. Auch die Westminster Hall, seit Jahrhunderten Sitz der englischen Höchstgerichtsbarkeit, wurde entsprechend umgebaut und unterteilt.18 Die historische Forschung sieht in dieser neuen forensischen Ar-chitektur vor allem eine Inszenierung staatlicher Macht und betont die Ex-klusion des Publikums.19 Das trifft ohne Zweifel zu  – das Publikum wurde tatsächlich auf Balkonen loziert und damit weitgehend aus dem Geschehen herausgenommen. Aber das ist nicht alles. Das in den englischen Gerichts-sälen um 1800 standardisierte Interieur fungierte zugleich auch als »diskursiver Automat«,20 der die unterschiedlich verteilten Mitsprachemöglichkeiten und Schweigegebote arrangierte. Das materielle Ensemble des Gerichtssaals, das auf der Darstellung des Court of Common Pleas von Thomas Rowlandson (von 1808) sichtbar wird (Abb. 2), ermöglichte die routinisierte Durchführung verfahrens-förmigen Entscheidens, indem es den Beteiligten in für sie offenbar selbstver-ständlicher, nicht verhandelbarer Weise Plätze und damit verknüpfte Hand-lungserwartungen zuwies: Reden im Zeugenstand, Flüstern in den Bänken der zuschauenden Juristen im Bildvordergrund, Schweigen bei den auf ihren Aufruf wartenden Zeugen am linken, unteren Bildrand. Die auf dem Bild gezeigte Si-tuation war definiert.

Die Definition von Situationen wird gewöhnlich als Leistung und Resultat interaktiver Aushandlungen21 oder subjektiver Sinnzuschreibungen behandelt, als »Orientierung der Akteure an gewissen, auch mit Emotionen verbundenen, Vorstellungen und gedanklichen ›Modellen‹, die sie als ›Muster‹ in ihrem Kopf haben«.22 Demnach gründen Situationsdefinitionen im Mentalen. Entsprechend wird auch der Begriff des Rahmens, als Synonym für definierte Situationen, in aller Regel metaphorisch verstanden und bisweilen in Anführungszeichen gesetzt.23 Sowohl in der Soziologie der Interaktion als auch in der

Handlungs-18 Clare Graham, Ordering Law. The Architectural and Social History of the English Law Court to 1914, Aldershot 2003, S. 74 ff.

19 Linda Mulcahy, Architects of Justice. The Politics of Courtroom Design, in: Social & Legal Studies 16 (2007), S. 383–403.

20 So die treffende Formulierung von Thomas Scheffer, Materialitäten im Rechtsdiskurs.

Von Gerichtssälen, Akten und Fallgeschichten, in: Kent D. Lerch (Hg.), Recht vermitteln.

Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, Berlin 2005, S. 349–376, hier S. 355.

21 So bei Erving Goffman, Interaktion im öffentlichen Raum, Frankfurt a. M. 2009.

22 Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Sinn und Kultur, Frankfurt a. M. 2002, S. IX.

23 So Ebd.

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theorie ist damit ein Gedankending gemeint, aber eben kein Holz. Dabei hat die Rahmung einer Situation jedoch immer ein konkretes, materielles Substrat.24 Menschen interagieren nie ohne die Co-Präsenz von Dingen, und sei dies nur der Boden, auf dem sie stehen. Genauso wurde auch die Situation im Court of Common Pleas dinglich definiert und durch Hölzer gerahmt: durch Bänke, Pulte, Podien, Tische, Schranken, Brüstungen, Logen oder Baldachine.

Diese Materialitäten waren aber nicht nur situationsdefinierende beziehungs-weise rahmende Voraussetzungen, sondern auch Produktionsmittel einer Ver-fahrensweise, die immer wieder aufgeführt werden konnte, bei der zwar der

24 So dezidiert Bruno Latour, Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjekti-vität, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), S. 237–252, hier S. 243. Latour verweist dort auch auf die metaphorische Verwendung des Begriffs Rahmen.

Abb. 2: Court of Common Pleas, Westminster Hall, kolorierter Stich von Thomas Rowlandson, 1808, aus Wikimedia Commons. Das Publikum schaut hier von Balko-nen aus zu, wurde also im Vergleich zu einer älteren Verfahrensweise, wo es mitten im Geschehen stand oder saß, räumlich ein Stück weit exkludiert. In der linken Bildmitte sind zwei Zeugen dargestellt, am linken Rand, hinter einer Schranke, befinden sich weitere Zeugen im Wartestand. Die Geschworenen sitzen – überwiegend schweigend, auch das war um 1800 neu – in ihrer Box am rechten Bildrand.

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Verhandlungsgegenstand, nicht aber die auf Entscheidbarkeit hin angelegte, räumlich fundierte Diskurs- und Konversationsordnung wechselte.25

Es wäre indes eine Verkürzung, gerichtliches Entscheiden mit der Interaktion im Gerichtssaal, also auf der Vorderbühne, gleichzusetzen.26 Wenn sich scheiden als Verfahren vollzieht und ein Verfahren nach Niklas Luhmann Ent-scheidbarkeit durch die sukzessive, gleichsam trichterförmige Verengung des Möglichkeitsraums erzeugt, dann beginnt diese Verengung nicht erst mit der öffentlichen Verhandlung, sondern vielmehr auf einer Hinterbühne mit meh-reren Ebenen. Andeutungen müssen hier genügen: Wer im London des späten 18. Jahrhunderts einen Rechtsstreit anstrengen wollte, nahm die Dienste eines Solicitors in Anspruch, der wiederum das Verfahren dadurch einleitete, dass er die Klageschrift und das Ladungsschreiben für den Beklagten bei den Gerichts-höfen in Westminster stempeln oder siegeln und registrieren ließ. Während die Solizitoren im 17. Jahrhundert dazu noch unmittelbar vor Gericht gehen muss-ten, begaben sie sich um und nach 1800 dafür in eine der den verschiedenen englischen Höchstgerichten (King’s Bench, Common Pleas, Exchequer und Chan-cery) zugehörigen Schreibstuben. Die Westminster Hall war im Hinblick auf diese administrativen Vorgänge zwischen 1750 und 1780 um einen westlichen Anbau ergänzt worden. Es handelte sich dabei um eine verzögerte Reaktion auf

Es wäre indes eine Verkürzung, gerichtliches Entscheiden mit der Interaktion im Gerichtssaal, also auf der Vorderbühne, gleichzusetzen.26 Wenn sich scheiden als Verfahren vollzieht und ein Verfahren nach Niklas Luhmann Ent-scheidbarkeit durch die sukzessive, gleichsam trichterförmige Verengung des Möglichkeitsraums erzeugt, dann beginnt diese Verengung nicht erst mit der öffentlichen Verhandlung, sondern vielmehr auf einer Hinterbühne mit meh-reren Ebenen. Andeutungen müssen hier genügen: Wer im London des späten 18. Jahrhunderts einen Rechtsstreit anstrengen wollte, nahm die Dienste eines Solicitors in Anspruch, der wiederum das Verfahren dadurch einleitete, dass er die Klageschrift und das Ladungsschreiben für den Beklagten bei den Gerichts-höfen in Westminster stempeln oder siegeln und registrieren ließ. Während die Solizitoren im 17. Jahrhundert dazu noch unmittelbar vor Gericht gehen muss-ten, begaben sie sich um und nach 1800 dafür in eine der den verschiedenen englischen Höchstgerichten (King’s Bench, Common Pleas, Exchequer und Chan-cery) zugehörigen Schreibstuben. Die Westminster Hall war im Hinblick auf diese administrativen Vorgänge zwischen 1750 und 1780 um einen westlichen Anbau ergänzt worden. Es handelte sich dabei um eine verzögerte Reaktion auf

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