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Heirat, Hausbau, Kinder

Im Dokument Kulturen des Entscheidens (Seite 91-118)

Narrationen von Familienentscheidungen

1. Einleitung

Partnerwahl, Heirat, Hausbau, Kinder – das familiale Leben in modernen Ge-sellschaften besteht aus einer Kette bedeutungsvoller Entscheidungen für das Individuum. Diese werden jedoch nicht ausschließlich intuitiv getroffen, son-dern unter Rückgriff auf diverse Ressourcen des Entscheidens wie zum Beispiel Normen, Alltags- und Expertenwissen, ökonomische Interessen und kulturelle Ordnungen. Der Beitrag fragt disziplin-, epochen- und regionenübergreifend da-nach, wie und unter Rückgriff auf welche Ressourcen Familienentscheidungen in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten narrativ gefasst und tradiert werden:

Wie verhandeln und präsentieren Individuen, Paare und Familien die getrof-fenen Entscheidungen als Heiratsentscheidungen, Reproduktionsentscheidun-gen, Hausbauentscheidungen? Wie werden diese in der jeweiligen Gesellschaft gerahmt? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Ressourcenzugriff lassen sich zwischen den Epochen und Regionen ausmachen? Was bedeutet dies schließlich für die Tradierung von Familienentscheidungen als solche?

Um diese Fragestellung empirisch aufzufächern, greift der Beitrag auf ins-gesamt vier Fallstudien zurück, die mehrheitlich den Teilprojekten des SFB 1150 entstammen.1 Das Besondere dabei ist neben der breiten regionalen Aus-richtung – Deutschland, USA, Indien – auch die dezidiert interdisziplinäre An-lage der Fallstudien, die den Fächern Literaturwissenschaft, Ethnologie, Kultur-anthropologie und Zeitgeschichte entstammen.

1 Beteiligt sind folgende Teilprojekte des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens«: A 04: »Her-kules am Scheideweg? Szenarien des Entscheidens in der autobiographischen Lebenslauf-konstruktion« (geleitet von Martina Wagner-Egelhaaf, Beitrag von Sarah Nienhaus), A 05:

»Zwischen Privatheit und öffentlicher Debatte: Reproduktionsentscheidungen in Deutsch-land und den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (geleitet von Isabel Heine-mann, Beitrag von ders.), A 06 »Soziale Praktiken und mediale Narrative matrimonialen Entscheidens in Indien« (geleitet von Helena Basu, Beitrag von Mrinal Pande). Das Beispiel von Katherin Wagenknecht entstammt dem Projekt »Der Lauf der Dinge oder Privatbesitz?

Ein Haus und seine Objekte zwischen Familienleben, Ressourcenwirtschaft und Museum«, geleitet von Elisabeth Timm, im BMBF-Verbund im Förderprogramm »Die Sprache der Ob-jekte. Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen«.

I. Heinemann, S. Nienhaus, M. Pande und K.

Wagenknecht

Heirat, Hausbau, Kinder 91 Das erste Fallbeispiel untersucht aus literaturhistorischer Perspektive die Thematisierung der Eheentscheidung durch die deutsche Schriftstellerin Fanny Lewald-Stahr. Diese hatte ihre Entscheidung, keine Versorgungsehe einzugehen und sich den Wünschen des Vaters damit direkt zu widersetzen, ausführlich in ihrer autobiographischen Schrift »Meine Lebensgeschichte« (1861/62) themati-siert. Hier stellt sich die Frage, wie am Beispiel der Eheentscheidung Beruf- und Lebensentscheidung miteinander verknüpft und zugleich von der Schriftstel-lerin als Entscheidungsprozess beschrieben werden. Fallbeispiel zwei analysiert aus historischem Blickwinkel, wie in den USA der 1980er Jahre Reproduktions-entscheidungen verhandelt wurden, und fragt danach, welche Entscheidungs-kompetenzen und -möglichkeiten Frauen, die ungewollt schwanger wurden, zugeschrieben wurden. Während die Reagan-Regierung versuchte, Adoption als Alternative zur Abtreibung zu profilieren, und ungewollt Schwangeren jegliche Entscheidungsfähigkeit absprach, widersprachen Frauenrechtlerinnen und erst-mals auch diejenigen Mütter, die ihre Kinder zur Adoption freigegeben hatten.

Beide Gruppen forderten, Frauen als Entscheiderinnen ernst zu nehmen und ihnen das Recht zur eigenständigen Entscheidung über ihre Reproduktion zu-zugestehen – aus unterschiedlichen Gründen. Das dritte Fallbeispiel untersucht aus ethnologischer Perspektive, wie Eheentscheidungen im zeitgenössischen In-dien in Bollywood-Filmen thematisiert werden. Hierzu werden zwei Spielfilme aus den Jahren 1999 und 2013 verglichen. Darin zeigt sich eine wichtige Bedeu-tungsverschiebung von der Akzeptanz arrangierter Ehen als Bestandteil der kulturellen Tradition hin zum Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung.

Fallbeispiel vier blickt im Rahmen einer kulturanthropologisch-ethnographi-schen Untersuchung auf die Entscheidung für den Bau eines Einfamilienhauses und vergleicht hierzu jeweils ein Dorf, eine Kleinstadt und eine vorstädtische Siedlung im Münsterland. Interviews mit Bauherren2 verdeutlichen, nach wel-chen Kriterien die Hausbauentscheidung verlief und wie diese im Nachhinein erinnert und berichtet wird.

Allen Fallstudien gemeinsam ist ein dezidierter Blick auf Familienentschei-dungen und die Frage, wie Entscheiden abläuft, wer entscheiden darf und auf welche Ressourcen des Entscheidens dabei zurückgegriffen wird. Vor allem aber bieten die Fallbeispiele einen multiperspektivischen Einblick in die narrative Tradierung und gesellschaftliche Rahmung von Familienentscheidungen in un-terschiedlichen historischen und geographischen Kontexten.

2 Im Folgenden wird die männliche Form verwendet (›Bauherren‹ statt ›Bauherrinnen und Bauherren‹, ›Einwohner‹ statt ›Einwohnerinnen und Einwohner‹); dies geschieht jedoch nicht unreflektiert, sondern zugunsten der Kürze des Textes.

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2. Literatur und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens.

Die Eheentscheidung in Fanny Lewald-Stahrs »Meine Lebensgeschichte« (1861/62)3

In der autobiographischen Erzählung »Meine Lebensgeschichte« der deutschen Schriftstellerin Fanny Lewald-Stahr (1811–1889) besitzt die Eheentscheidung einen zentralen Stellenwert. Die von der autodiegetischen Erzählerin4 beobach-teten arrangierten Ehen anderer Figuren, die familiären Diskussionen über die eigene Eheentscheidung und die jüdische Konfession sind der Ausgangspunkt für die thematische Ausrichtung ihrer autobiographischen Erzähltexte und ihrer literarischen wie kulturkritischen Texte.5 Diese widmen sich wiederholt dem Thema der Ehe, der beruflichen Selbstständigkeit von Frauen und dem Privi-leg einer ›Entscheidensfreiheit‹. Anhand zweier Textbeispiele soll exemplarisch gezeigt werden, wie sich in der Autobiographie Berufs- und Eheentscheidung wechselseitig bedingen und zugleich in ihrer Prozesshaftigkeit eine Familien-entscheidung darstellen.

Lewald-Stahrs persönliche Eheentscheidung präsentiert sich im Verlauf des autobiographischen Erzähltextes als ein vielgestaltiger und diskursiver Prozess, der die Altersspanne zwischen fünfzehn und vierzig Jahren umfasst. Konsequent werden die jeweils an diesem Prozess beteiligten Instanzen, Perspektivierungen und Diskurse vorgestellt und die Relevanz eines qualifizierenden Schulabschlus-ses für Frauen hervorgehoben. Infolgedessen wird in der Diegese eine fundierte Ausbildung zur Grundvoraussetzung für verfügbare

Entscheidungsmöglich-3 Hier und im Folgenden zitiert nach: Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte (Berlin 1861/62), Sonderausgabe, nach der Originalausgabe, hg. v. Ulrike Helmer, 3 Bde., König-stein im Taunus 21998. Fallbeispiel I und die dort vorgestellten Analyseergebnisse ent-stammen der Forschungsarbeit »Schreibend entscheiden« von Sarah Nienhaus, die als Pro-motionsschrift konzipiert ist und im Rahmen des Teilprojektes A 04 entsteht.

4 Schmid spricht von einem diegetischen Erzähler, sobald die Erzählerfigur in der erzählten Welt mitspielt. Ein autodiegetischer Erzähler ist demnach erzählte und erzählende Figur innerhalb der eigenen Lebensgeschichte; vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin 22008, S. 86, 87, 320.

5 Vgl. hierzu exemplarisch: Regula Venske, »Ich hätte ein Mann sein müssen oder eines gro-ßen Mannes Weib!«  – Widersprüche im Emanzipationsverständnis der Fanny Lewald, in: Ilse Brehmer u. a. (Hg.), »Wissen heißt Leben…«. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 4, Düsseldorf 1983, S. 368–396, hier S. 370; Brigitta van Rheinberg, Fanny Lewald. Geschichte einer Emanzipation, Frankfurt a. M. 1990, S. 25, 102–104; Gabriele Schneider, Fanny Lewald, Hamburg 1996, S. 24–26; Regula Venske, Nachwort. Fanny Lewald – jüdische Preußin, preußische Feministin, die deutsche Georg Sand?, in: Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, Befreiung und Wanderleben, hg. v.

Ulrike Helmer, Bd. 3, Königstein im Taunus 21998, S. 300–314; Gudrun Marci-Boehncke, Fanny Lewald. Jüdin, Preußin, Schriftstellerin. Studien zu autobiographischem Werk und Kontext, Stuttgart 1998, S. 134–135; Christina Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald. Leben, Werk und Forschung, in: Dies. (Hg.), Fanny Lewald (1811–1889). Studien zu einer großen euro-päischen Schriftstellerin und Intellektuellen, Bielefeld 2011, S. 7–35, hier S. 7–9.

Heirat, Hausbau, Kinder 93 keiten erklärt. Während ihre Autobiographie erzählstrategisch den Charakter eines Ratgebers annimmt, wird sie für die Rezeption als Ressource des Ent-scheidens offeriert.6 Auf einen dargestellten EntEnt-scheidensprozess folgen un-mittelbar pädagogische Abhandlungen oder Appelle. Die Erzählerin betont mit diesem Erzählverfahren den pädagogischen Auftrag der Autodiegese. Die auto-biographische Figur stellt den Rezipienten in unterschiedlichen Zusammenhän-gen das »Unglück« ungebildeter Frauen und einer dem Stand nach arrangierten Ehe vor.7 In diesem Kontext schildert die Erzählerin, wie sie sich bereits im Kindesalter eine »Professorin aus Bologna« zum Vorbild setzt und mit dieser Handlung einen Konflikt mit dem Vater auslöst.8 Das dabei vorgeführte Span-nungsverhältnis ist maßgebend für den gesamten Prozess der Eheentscheidung.

Primär wird dieser als Aushandlungsprozess zwischen Tochter und Vater und als Emanzipation der Tochter zur unabhängigen Schriftstellerin dargestellt.9 Zugleich ist die Vaterfigur ein Mentor für die autobiographische Figur, da er den Zugang zu Literatur und Bildungsgütern ermöglicht, verwaltet und reglemen-tiert. In der szenischen Darstellung ausgewählter Passagen des Prozesses ihrer Eheentscheidung emergieren literarische Beispiele stets als Ressourcen des Ent-scheidens. Die präsentierten Entscheidensnarrative sind konsequent familiär gerahmt.

Bereits im Alter von fünfzehn Jahren trifft die autobiographische Figur eine zukunftsweisende Entscheidung und prognostiziert so die persönliche Ver-waltung der Ehethematik. Im Verlauf der Diegese10 besucht die junge Fanny Lewald-Stahr in Königsberg häufig im Alleingang ihre Tante, die exemplarisch für das warnende Schicksal einer unglücklich verheirateten Frau steht. Das Haus dieser Tante zeichnet sich zugleich durch den freien Zugang zu einer Biblio thek aus. Jegliche Literaturerfahrung ist jedoch an den Vater rückgebunden und so beginnt das Entscheidensnarrativ mit der Präsentation einer Diskussion zwi-schen der autobiographizwi-schen Figur und ihrem Vater über Johann Wolfgang von Goethes Trauerspiel »Die natürliche Tochter«:11

»Mein Vater hatte unter den Goethe’schen Dramen eine besondere Vorliebe für die

›natürliche Tochter‹. Es war daher auch eines der ersten, welche ich gelesen, und zwar ihm selbst zum großen Teile vorgelesen hatte. […] [E]r hatte […] mir den Charakter 6 Marci-Boehncke postuliert in diesem Zusammenhang, Lewald »schreibt für andere«, s.

dies., Fanny Lewald (wie Anm. 5), S. 127. Der Gesamtkontext des autobiographischen Er-zähltextes lässt diese strikte Trennung jedoch problematisch erscheinen.

7 Lewald, Meine Lebensgeschichte (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 7.

8 Ebd., S. 89.

9 Lewald-Stahr beginnt sich im Verlauf ihrer Schriftstellerkarriere von der familiären Bitte zu lösen, ihre Texte anonym zu publizieren. Vgl. hierzu exemplarisch: Ebd., Bd. 3, S. 7;

Rheinberg, Geschichte einer Emanzipation (wie Anm. 5), S. 108.

10 Die ›erzählte Welt‹ wird mit dem Begriff ›Diegese‹ benannt; vgl. Schmid, Elemente der Narratologie (wie Anm. 4), S. 86, 320.

11 Auf die dominante Position des Vaters verweist auch Regula Venske; vgl. dies., Wider-sprüche (wie Anm. 5), S. 389.

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Eugeniens als einen solchen gerühmt, der sich zu entscheiden und zu bescheiden wisse, was für Frauen doppelt unerläßliche Eigenschaften und recht eigentlich Tugenden wä-ren. Mich ließ das Drama gänzlich kalt. Die langen Gespräche, bei denen nach meiner Meinung alles nur darauf hinauslief, daß ein unglückliches Mädchen sich ohne seine Neigung verheiratete, zogen mich nicht an, […] so flößte mir meines Vaters Ideal von Weiblichkeit, so flößte mir Eugenie mit ihrer Resignation eigentlich nur Widerwillen ein. […] Als ich das gegen den Vater aussprach, tadelte er mich, indem er mir sagte, er bedaure es, daß er mich das Drama habe lesen lassen, ich verstände es offenbar noch nicht. […]. Eines Tages, als ich bei meiner Tante war, brachte ich das Gespräch auf Eugenie und darauf, daß der Vater sie und ihren Entschluß so erhaben fände. Die Tante […] sagte dann ganz kurz: ›Laß Dir doch nichts einreden! Das sagen sie so, weil es ihnen bequem ist!‹ […] ›Es ist Unsinn zu behaupten, daß eine Frau sich an etwas gewöhnen könne, was ihr abstoßend ist. Habe ich mich denn an mein Los gewöhnt?

Ich wußte, daß ich mein Todesurteil unterzeichnete, als ich mich verheiratete, und ich habe es ihnen gesagt. Aber sie haben mir alle zugeredet, alle – nun bedauern sie mich alle!‹ […] Mehr noch erschreckte mich der plötzliche deutliche Blick auf das Unglück meiner Tante […]. An jenem Tage aber, in meinem fünfzehnten Jahre, faßte ich den festen Entschluß, mich zu keiner Heirat überreden zu lassen.«12

Die Erzählerin inszeniert sich hier als Vorleserin und somit als Wissensvermitt-lerin. Die gewählte Passage bereitet einen späteren Entscheidensprozess vor und zeichnet sich durch eine Dialogdichte aus. Zahlreich werden innerhalb des Er-zähltextes weitreichende Entschlüsse des Vaters vorgestellt, die jedoch von die-sem nicht argumentativ erklärt oder legitimiert werden müssen.13 So erscheint der Vater als eine autonome, unkalkulierbare wie souveräne Figur. Diese Eigen-schaften kommen im Erzählverlauf auch den Entschlüssen der autobiographi-schen Figur zu, präzisieren die Differenz zwiautobiographi-schen Entscheiden und Entschluss und aktualisieren gleichfalls eine charakterliche Analogie zwischen Vater und Tochter. Laut Hermann Lübbe kennzeichnet Entschlüsse »eine Form der Herr-schaft«, die frei von der »Last« des Entscheidens ist.14

Lewald -Stahr spricht in den Dialogszenen dem Vater das Verständnis der von ihr vorgetragenen Literatur ab. Eingeholt wird diese Szene jedoch retrospektiv durch die autodiegetische Erzählerin, die auf diese Weise die Legitimität der da-maligen Entscheidensprämissen dokumentiert. Betont wird an dieser Stelle der Verweis auf die Beobachtungsperspektive der Erzählerin. Es ist ihr Blick auf das

›Unglück‹ ihrer Tante, der sie ihre Eheentscheidung kritisch reflektieren lässt.

Dabei ist die Analyse der Eugenie für den literarischen Kontext der Autobio-graphie bemerkenswert, da sich im 19. Jahrhundert eine rege Debatte zur

Dar-12 Lewald, Meine Lebensgeschichte (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 163–165.

13 Wenn die Figur des Vaters in der Diegese etwa die Konversion der bereits erwachsenen Kinder zum Christentum oder die Änderung des Familiennamens beschließt (vgl. ebd., S. 194–197, 212–214, 242).

14 Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140, hier S. 129.

Heirat, Hausbau, Kinder 95 stellung von Frauen- und auch Männerfiguren zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern etablierte. Diese wiederum förderte die Diskussion über die Ver-einbarkeit von Beruf und Familie für Frauen.15 Frauenfiguren aus den Werken Goethes und auch »Goethe als Literatur-Figur« bilden in der Autobiographie Lewald-Stahrs kontinuierlich eine Vergleichsfolie und Diskussionsgrundlage.16 Dabei verläuft Lewald-Stahrs autobiographische Arbeitsphase nahezu parallel mit der ihres späteren Ehemanns Adolf Stahr zu »Goethe’s Frauengestalten«, so zeichnet sich die literarische wie literaturwissenschaftliche Arbeit des Ehepaars durch eine beratende Zusammenarbeit aus.17

Indem die autodiegetische Figur das Gespräch über die Figur Eugenie mit ihrer Tante eröffnet, spricht es sich in der Autodiegese die Regie und Wissens-verwaltung zu. Die direkte figurale Rede der Tante ergänzt das Entscheidens-narrativ. Die Erzählerin Lewald-Stahr konturiert in dieser Passage erstmals einen Entscheidensbedarf, da sie berichtet, wie der Vater die autodiegetische Figur in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr mit der Entscheidensnotwen-digkeit für eine Ehe konfrontiert. Die Diskussion dieser NotwenEntscheidensnotwen-digkeit vollzieht sich in dem vorliegenden Erzähltext wieder in privaten familiären Räumen, in denen die Erzählerin die Arbeit an und für einen privaten Entscheidensraum schildert. Beate Rössler definiert in ihrer Monographie »Der Wert des Privaten«

»dezisionale[] Privatheit« als einen »Anspruch […] von Fremdbestimmen bei Entscheidungen und Handlungen geschützt zu sein«.18 Im Vergleich vollzie-hen sich in Autobiographien des 19. Jahrhunderts Entscheidensprozesse bevor-zugt in privaten Darstellungsräumen oder in intimen Kommunikationsräumen der Schrift wie dem Brief oder Tagebuch. In der folgenden Textpassage ge-winnt das Entscheidensnarrativ einen szenischen Charakter und erinnert an ein Kammerspiel:

»Ich fand meinen Vater allein und sehr bewegt. […] Der Assessor habe ihn um meine Hand gebeten, und er wünsche und hoffe, daß ich mich bereit finden lassen würde, sie anzunehmen. […] [I]ch erklärte […] unumwunden, daß es mir leid tue, meinem Vater seinen Wunsch und seine Hoffnung nicht erfüllen zu können. Er schwieg einen 15 Vgl. Andrea Albrecht, Bildung und Ehe »genialer Weiber«. Jean Pauls »Diesjährige

Nach-lesung an die Dichtinnen« als Erwiderung auf Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen, in:

Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), S. 377–406.

16 Vgl. hierzu auch exemplarisch: Rheinberg, Geschichte einer Emanzipation (wie Anm. 5), S. 28 f.; Ujma, 200 Jahre (wie Anm. 5), S. 13; Alexander Honold u. a., Einleitung, in: Dies.

(Hg.), Goethe als Literatur-Figur, Göttingen 2016, S. 7–14.

17 Mit dem verheirateten Adolf Stahr führt Lewald neun Jahre eine Beziehung und heiratet ihn 1855 nach der Scheidung von seiner Ehefrau Marie Stahr; vgl. hierzu exemplarisch:

Gabriele Schneider, Unziemliche Verhältnisse. Fanny Lewald und Adolf Stahr – »das vier-beinig zweigeschlechtige Tintentier«, in: Christina Ujma (Hg.), Fanny Lewald (1811–1889).

Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen, Bielefeld 2011, S. 43–63; vgl. Adolf Stahr, Goethe’s Frauengestalten, 2 Bde., Oldenburg 1865.

18 Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt a. M. 2001, S. 25.

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Augenblick und bemerkte danach: ›Überlege Dir die Verhältnisse, mein Kind! Du bist nicht mehr jung, du bist fünfundzwanzig Jahre. […]. Der Assessor wählt dich um deiner selbst willen […]; ganz abgesehen davon, daß eine Frau selbst in einer nicht ganz glücklichen Ehe noch immer besser daran ist als ein altes Mädchen‹. Ich fragte, ob der Vater diese letztere Erfahrung an seiner jüngsten Schwester gemacht habe […].

In mir wogten die verschiedensten Empfindungen auf und nieder. […] Ich mußte sol-chen Heiratsvorschlägen ein für allemal ein Ende masol-chen, das fühlte ich. Ich erklärte meinem Vater also, daß nichts mich bestimmen könne, eine Heirat ohne Neigung einzugehen, und sagte, wenn er mich zu einer solchen zu überreden gewünscht, […]

so hätte er mir die Erziehung nicht geben dürfen, die ich von ihm erhalten […]. Mir sei eine Dirne, die sich für Geld verkaufe, wenn sie nichts gelernt habe und ihre Fa-milie arm sei, nicht halb so verächtlich als ein Mädchen, das genug gelernt habe, um sich zu ernähren, und sich für Haus und Hof verkaufe. […]. Die[] Vorstellung, daß mein Vater, den ich so unsäglich liebte, mich zu zwingen, mich ins Unglück zu sto-ßen dachte […], brachte mich außer mir. ›Du willst mich zwingen, wie willst du das machen, lieber Vater?‹ fragte ich […]. Meinem armen Vater traten die Tränen in die Augen […]. Er nahm mich bei der Hand und sprach mit der Stimme, die mir so unwi-derstehlich war: ›Fanny! Wer denkt denn daran! Aber ich bitte dich, dein Vater bittet dich darum, diese Heirat einzugehen, du würdest mich und die Mutter sehr glück-lich dadurch machen.‹ – Ich fing zu weinen an. […] ›Quäle mich nicht, lieber Vater!‹

flehte ich, ›ich kann nicht! Ich kann nicht heiraten!‹ […] ›Also das ist dein letztes Wort, es bleibt bei nein!‹ – ›Ich kann nicht anders!‹ wiederholte ich. ›Gut denn! Also nein!

Und ich will hoffen, dass du es später nicht einmal bedauerst.‹ Er küsste mich und ging hinaus.«19

›Entscheiden‹ ist in beiden Textbeispielen dialogisch organisiert. Familienstruk-turen rahmen den Entscheidensprozess und offerieren zugleich Ressourcen des Entscheidens durch ihr Figurenrepertoire und als Sammelbecken wie Gene-rator von Narrativen. Die Fehlinterpretation des Trauerspiels »Die natürliche Tochter«, die der Vater der autobiographischen Figur attestiert, wird in dieser Szene konterkariert. Die Erziehung und die zur Verfügung gestellte Literatur des Vaters entwickelt in der autobiographischen Figur eine Eigendynamik und so präsentiert diese Passage die Interpretationsleistung des Trauerspiels als eine Emanzipationsleistung. Der Vergleich einer unglücklichen Ehe mit Prostitution wird in der Autobiographie wiederaufgenommen, wenn die Erzählerin ihren Roman »Clementine« bespricht und ihr autobiographisches Entscheidensnarra-tiv zu einer Abhandlung über Ehen im 19. Jahrhundert umgestaltet. Während sich die Erzählerin an den Schreibprozess ihres Romans erinnert, schildert sie die Passagen zur Ehe als »das Niederlegen eines Glaubensbekenntnisses«.20 In-folgedessen entwirft und inszeniert die autobiographische Figur das Ideal einer Liebesheirat, das auch leitmotivisch für die narrativierte Begegnung mit ihrem

19 Lewald, Meine Lebensgeschichte (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 133–136.

20 Ebd., Bd. 3, S. 13.

Heirat, Hausbau, Kinder 97 späteren Ehemann Stahr wird.21 Autofiktionales und autobiographisches Schrei-ben treten in dieser Passage in ein besonderes Näheverhältnis. Die Lektüre ihrer Schriften durch den Vater empfindet das autodiegetische Ich als bestandenen

»Freiheitskampf«.22 Den Entscheidensbedarf wie die Entscheidensnotwendig-keit für eine Ehe beschließt die Erzählerin selbstbestimmt, wenn sie darlegt: »Ich habe mich erst nach meinem vierzigsten Jahre verheiratet«.23

3. Abtreibung oder Adoption? Ressourcen reproduktiven Entscheidens in der Reagan-Ära in den USA

In den USA der 1970er und 1980er Jahre wurde engagiert über Reproduktion ge-stritten. Kristallisationspunkt war die Legalisierung der Abtreibung auf Antrag der Schwangeren durch eine Grundsatzentscheidung des Supreme Court vom 22. Januar 1973.24 In der folgenden öffentlichen Debatte argumentierten

In den USA der 1970er und 1980er Jahre wurde engagiert über Reproduktion ge-stritten. Kristallisationspunkt war die Legalisierung der Abtreibung auf Antrag der Schwangeren durch eine Grundsatzentscheidung des Supreme Court vom 22. Januar 1973.24 In der folgenden öffentlichen Debatte argumentierten

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