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Entscheiden als retroaktives Regelfolgen

Im Dokument Kulturen des Entscheidens (Seite 53-70)

1. Einleitung

Entscheiden wird im in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften vorherr-schenden methodologisch-individualistischen Paradigma als eine vorwiegend mentale Aktivität verstanden, die sich – ähnlich wie etwa ›Planen‹, ›Abwägen‹,

›Analysieren‹ oder ›Reflektieren‹ – ›im Kopf‹ individueller Akteure (Entscheider) abspielt und dem Handeln vorausgeht – einem Handeln, das in dieser Sicht le-diglich vorausgegangene mentale Entscheidungsvorgänge realisiert. Der Erfolg dieses Paradigmas in wissenschaftlichen, öffentlich-medialen und alltäglichen Diskursen ratifiziert die historische Herausbildung einer Kultur der Reflexi-vierung, die Entstehung von Wahlmöglichkeiten und Entscheidbarkeiten. Die-ser Prozess kulminiert im Aufstieg des modernen Entscheidungssubjektes, das sich – wie Ulrich Beck in seiner Zeitdiagnose »Risikogesellschaft« in den 1980er Jahren formuliert hatte – als »Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebens-lauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw.«1 begreifen müsse.

Im Folgenden wird eine von diesem in Alltag und Wissenschaft verbreite-ten Verständnis abweichende kulturanalytische und praxeologische Perspektive entfaltet. Sie ist darauf ausgerichtet, mikroanalytische empirische Neubeschrei-bungen und Neubewertungen tatsächlichen empirischen Entscheidungsgesche-hens zu ermöglichen – jener Vorgänge also, die von den Teilnehmern und vom Mainstream der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften als in einem mentalen

›Planungsbüro‹ im Inneren von Individuen sich vollziehende, unbeobachtbare und dem Handeln vorgeschaltete Entscheidungen interpretiert und klassifiziert werden. Die Argumentation gliedert sich in die folgenden Abschnitte:

In einem ersten Schritt werden Aufschwung und Verbreitung individualisti-scher und mentalistiindividualisti-scher Konzeptionen des Entscheidens in Wissenschaft und Alltag vor dem Hintergrund eines Angleichungsprozesses zwischen dem in den westlichen Gesellschaften vorherrschenden Kulturmuster des Individualismus und individualistischen sozialwissenschaftlichen Vokabularen erläutert (2). Dar-aufhin werden soziologische und sozialtheoretische Ansätze zur Dezentrierung des Entscheidungssubjektes skizziert und mentalismuskritische Absetzbewe-gungen vom vorherrschenden individualistischen Paradigma nachgezeichnet (3). Im nächsten Schritt werden dann eine Praxeologisierung und empirische

1 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.

1986, S. 216 f.

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Entscheiden als retroaktives Regelfolgen 53 Perspektivierung sowie die analytische Entschlüsselung der spezifischen Me-thodizität von Entscheidungsaktivitäten und -prozessen vorgeschlagen. Dazu beziehe ich mich vor allem auf die von Harold Garfinkel und Saul Mendlowitz vorgenommenen Analysen des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von Ge-schworenen in Gerichtsprozessen (4). Im vierten und abschließenden Schritt werden mit Bezug auf die vorangegangene praxeologische Neuperspektivierung von Entscheidungsaktivitäten und mit Blick auf Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen kritische Fragen formuliert, denen gerade angesichts einer häu-fig beschriebenen Omnipräsenz von Wahlmöglichkeiten und Entscheidungs-notwendigkeiten im Alltagsleben der Gegenwart besondere Relevanz zukommt (5). Diese kritischen Fragen bilden das zentrale Ergebnis, auf das die vorangegan-genen Überlegungen zulaufen. Sie sollen, bevor die einzelnen Argumentations-schritte auf sie hinführen, hier bereits formuliert und vorweggenommen werden.

Die Fragen lauten: Wie genau werden soziale Aktivitäten von Teilnehmern ex post als Entscheidungsfolgen, das heißt als Resultate vorgängiger mentaler Ent-scheidungen ausgewiesen und berichtbar gemacht? Welche Beglaubigungs-, Le-gitimations- und Machtwirkungen sind mit diesem accounting des Entscheidens und seinen kulturellen Wirklichkeitseffekten verknüpft?

2. Das Kulturmuster des Individualismus und individualistische Soziologien des Entscheidens

Die Soziologie verfügt über eine bedeutende Forschungstradition, die die Bezie-hungen zwischen Individualismus und Moderne untersucht und den kulturellen Individualismus – in analytischer Distanz – als ein modernes Glaubens- und Wertesystem beschreibt. So beobachtet etwa Durkheim, dass »in dem Maße, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger reli-giösen Charakter annehmen, […] das Individuum Gegenstand einer Art Reli-gion [wird].«2 Die moderne Gesellschaft verleiht ihren Mitgliedern eine heilige Aura und das Individuum »wird in den Stand der sakrosankten, unantastbaren Dingen erhoben.«3 Der kulturelle Individualismus der Moderne leitet sich für Durkheim nicht aus individuell-egoistischen, sondern aus kollektiven gesell-schaftlichen Gefühlen ab. Er durchdringt das gesamte gesellschaftliche Leben und seine moralische Organisation und fungiert als gesellschaftliche Kosmo-logie, kultureller Mechanismus der Integration und notwendige Doktrin des modernen Soziallebens.

Die von Durkheim begründete kulturanalytische Forschungstradition zur Kultur des Individualismus wurde in den 1970er und 1980er Jahren von einer

2 Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation höherer Ge-sellschaften, Frankfurt a. M. 1988, S. 22.

3 Ders., Der Individualismus und die Intellektuellen, in: H. Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a. M. 1986, S. 54–70, hier S. 56 f.

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Reihe einflussreicher Studien fortgeführt.4 Auch diese Arbeiten entwickeln – ähnlich wie Durkheim – eine analytische Distanz zum Kulturmuster des Indivi-dualismus, um die Konjunktur individualistischer Normen und Deutungsmuster sowie die Grundlagen und den Aufschwung individualistischer Selbstbeschrei-bungen bestimmter kultureller Milieus zu untersuchen.

Einen aufschlussreichen Grenzfall der Soziologie des Individualismus bildet die etwa zur selben Zeit von Ulrich Beck formulierte Individualisierungsthese.5 Becks Diagnose belässt im Unklaren, ob unter Individualisierung eine faktische Erosion sozialer Bindungen oder aber neue Formen der Selbstthematisierung in bestimmten sozialen Milieus verstanden werden sollen.6 Diese Ambivalenz weist darauf hin, dass Beck die analytische Distanz zu den von ihm beschriebe-nen Phänomebeschriebe-nen nicht aufrechterhalten kann. In dem Maße, in dem er selbst zu mythologischen individualistischen Beschreibungsmitteln greift, wird seine Diagnose zum Bestandteil jenes Phänomenkomplexes, den er analytisch zu ent-schlüsseln beansprucht. Die Individualisierungsthese wird auf diese Weise zu einem Fall von going native. Sie gerät zu einer – gerade in individualisierten sozialen Milieus eminent erfolgreichen – individualistischen Beschreibung der Gesellschaft, die die individualistischen Doktrinen und Selbstbeschreibungen sozialer Milieus und Institutionen reproduziert – und als soziologische Indivi-dualismus-Analyse misslingt.7

In anderen einflussreichen sozialwissenschaftlichen Ansätzen wie der Analy-tischen Soziologie oder der Rational-Choice-Theorie, in denen individuelles Ent-scheidungsverhalten eine zentrale Rolle spielt, ist die Distanz und Differenz zum Kulturmuster des Individualismus noch weiter eingeebnet. Der kulturelle Indi-vidualismus fungiert hier nicht als Gegenstand, sondern er geht als – als solche nicht problematisierte – Ressource in die jeweiligen analytischen Voka bulare ein.8

4 R. Sennett, The Fall of Public Man, Cambridge 1977; Christopher Lasch, The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York 1979; Robert N. Bellah u. a., Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life, California 1985.

5 Beck, Risikogesellschaft (wie Anm. 1).

6 Vgl. dazu Hans Joas, Das Risiko der Gegenwartsdiagnose. Beitrag zum Symposium über Ulrich Beck, Risikogesellschaft, in: Soziologische Revue 1 (1988), S. 1–6.

7 Becks Individualisierungserzählung ist also weder wahr noch falsch, sondern selbst ein Pro-dukt jener individualistischen Kultur, zu der sie die analytische Distanz nicht aufbringt, die notwendig ist, um sie als solche zu beschreiben; vgl. dazu auch Alain Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2012, S. 20 ff. Anstatt – wie häufig geschehen – eine Gegenmythologie zur Individualisierungsthese zu entwerfen (und zum Beispiel die starken sozialen Bindungen in bestimmten Klassenmilieus zu beschwören), sollte die Soziologie – wie Ehrenberg fordert – eher die Grundlagen des Erfolgs der Individualisierungsthese un-tersuchen. Sie bestehen nicht zuletzt in ihrer lebensweltlichen Anschaulichkeit, also darin, dass die Beschreibungen die individualistischen Deutungsmuster der Teilnehmerinnen nicht distanzieren oder irritieren, sondern übernehmen und bestätigen.

8 Gleiches gilt für Poppers Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften. In Poppers me-thodologischem Individualismus dominiert ein personalistisches Motiv: Im Kampf gegen

Entscheiden als retroaktives Regelfolgen 55 Dies versetzt die methodologisch individualistischen Soziologien in die Lage, den durch dieselbe Kultur des Individualismus geprägten gesellschaftlichen In-stitutionen überaus erfolgreich zuzuarbeiten.

Alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen und Subsysteme wie die Öko-nomie, das Recht, die Politik oder das Bildungs- und das Gesundheitssystem werden in den westlichen Gegenwartsgesellschaften durch einen kulturellen Individualismus fundiert. Sie wenden sich an Konsumentinnen, Klienten oder Wählerinnen und sehen individualistische Mitgliedschaftsrollen vor. Indivi-dualistische Soziologien schließen hier an, beforschen die Entscheidungen von Marktteilnehmerinnen, Rechtspersonen oder Kundinnen und erheben diese Entscheidungen am einzelnen Individuum. Durch dieses going native9 sind individualistische Soziologien einerseits höchst erfolgreich, denn sie sprechen die Sprache ihrer Auftraggeber, bedienen deren Selbst-, Situations- und Pro-blemdefinitionen und bieten institutionell zugeschnittene Daten und Experti-sen. Andererseits drohen sie in ihren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umwelten aufzugehen und als Gesellschafts- und Reflexionswissenschaften zu verschwinden.

Auf diese Kehrseiten des anhaltenden Erfolgs individualistischer Soziologien, das heißt auf die Distanzverluste und die schwindenden analytischen Kapazi-täten soziologischer Gegenwartsanalysen haben in den letzten Jahren einige vielbeachtete Studien aufmerksam gemacht.10 Dabei wird darauf hingewiesen,

totalitaristische Systeme und Denkweisen soll – ganz im Einklang mit und als Bestäti-gung von Durkheims Analyse des sakrosankten Status des Individuums in der Kultur der Moderne – der unersetzliche Wert der menschlichen Person verteidigt werden; vgl.

dazu Marco Buzzoni, Poppers Methodologischer Individualismus und die Sozialwissen-schaften, in: Journal for General Philosophy of Science 35 (2004), S. 157–173.

9 In der Rational-Choice-Theorie wird dieses going native, das heißt die Übernahme von kulturellen Teilnehmerdeutungen und Selbstverständnissen in die soziologische Begriffs-apparatur, freimütig bekannt und als Vorzug verstanden, der die Akzeptanz indivi-dualistischer Soziologien erhöhe. So erläutert Braun in einem Überblicksartikel zur Ra-tional-Choice-Theorie, dass in sozialen Gebilden wie »Gruppen, Organisationen und Gesellschaften […] ein Menschenbild zugrunde gelegt [wird], wonach Individuen ten-denziell intentional und anreizgeleitet handeln und deswegen durch hinreichende Straf-bewehrungen im Allgemeinen von sozial unliebsamen Verhaltensweisen […] abgehalten werden können.«, s. Norman Braun, Rational Choice Theorie, in: Georg Kneer / Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 395–418, hier S. 395.

Die RC-Theorie baut nun – wie Braun erläutert – freiweg auf eben diesem von den sozialen Institutionen kultivierten individualistischen Menschenbild auf: »Es verwundert nicht, dass sich diese Sichtweise des Menschen auch im Rahmen der soziologischen Theorie-bildung niedergeschlagen hat. Die Bezeichnung ›Rational Choice‹ (RC) dient als Sammel-begriff für eine Art der Theoriebildung, die den jeweiligen Handlungsträgern […] jeweils bestimmte Intentionen und anreizgeleitetes Entscheidungsverhalten unter spezifizierten Gegebenheiten unterstellt, um daraus resultierende soziale Folgen zu erklären.« (ebd.).

10 Vgl. unter anderem Ehrenberg, Unbehagen (wie Anm. 7); Oliver Marchart, Das unmög-liche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013; An-dreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.

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dass der Aufschwung individualistischer Soziologien mit einer »Austreibung des Sozialen aus den Sozialwissenschaften« und der »Umstellung vom Gesell-schafts- auf das Marktmodell«11 verknüpft ist. In der Kulturanthropologie wird beobachtet, dass »das jüngste Eindringen extremer Tendenzen der modernen individualistischen Ideologie in die Disziplin der Soziologie von einer immer größeren Schwierigkeit begleitet wird, in den zeitgenössischen abendländischen Sprachen auszudrücken, was eine Gesellschaft ist.«12

Das mit Bezug auf die Individualisierungsthese und den Methodologischen Individualismus aufgezeigte going native, das heißt der Verlust der analytischen Distanz zum gesellschaftlichen Mythos des Individualismus13 sowie die un-reflektierte Übernahme von auf der Gegenstandsebene vorherrschenden Kul-turmustern und Entscheidungstheorien sind konstitutive Gefährdungen und typische Risiken soziologischer Analysen. Die Soziologie ist als ein Ensemble sozialer Praktiken des doing science immer auch selbst Teil ihres Gegenstandes.

Dieser Gegenstand, das heißt Sozialität liegt nur als ein veränderlicher, immer schon und immer wieder neu gedeuteter und von den Teilnehmern interpre-tierter Gegenstand vor. Er existiert nicht getrennt von diesen Deutungen und Interpretationen, in die auch Soziologinnen – als Wissenschaftlerinnen und als Alltagsteilnehmer – involviert sind. Sozialität wird auch den soziologischen Ana-lysen immer nur durch diese Teilnehmerinnendeutungen zugänglich.

Die Soziologie kann diese Deutungen und Interpretationen jedoch nicht ein-fach übernehmen und reproduzieren. Die Möglichkeit soziologischer Erkenntnis ist vielmehr davon abhängig, dass es gelingt, die Teilnehmerdeutungen ernst zu nehmen und zugleich methodisch eine Distanz zu ihnen aufzubauen, um sie ana-lytisch zu handhaben.14 Eine soziologische Analyse des Entscheidens muss sich entsprechend darum bemühen, Entscheidungsvorgänge in prononcierter Dis-tanz zu den vorherrschenden individualistischen kulturellen Deutungen nicht als dem Handeln vorgeschaltete, vorwiegend mentale Aktivität individueller Ak-teure zu verstehen. Sie muss diese Teilnehmerverständnisse auf Distanz bringen und sie als Aspekte der kulturellen Verfasstheit des zu analysierenden Phäno-mens, das heißt von Vorgängen und Praktiken des Entscheidens untersuchen.

11 Marchart, Das unmögliche Objekt (wie Anm. 10).

12 Daniel de Coppet, zitiert nach Ehrenberg, Unbehagen (wie Anm. 7), S. 346.

13 Vgl. Liza Cortois, The Myth of Individualism. From Individualisation to a Cultural Socio-logy of Individualism, in: European Journal of Cultural and Political SocioSocio-logy 4 (2017), S. 407–429.

14 Dafür stehen verschiedene Verfahren bereit. Sie reichen von den epistemologischen Techniken der Konstruktion des Objektes (Pierre Bourdieu u. a., Soziologie als Beruf.

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin 1991) über die ethnomethodologische Indifferenz (Harold Garfinkel / Harvey Sacks, On Formal Structures of Practical Actions, in: Harold Garfinkel (Hg.), Ethnomethodological Studies of Work, London 1996, S. 160–193) bis hin zu den Verfahren der Ver- und Befremdung (Stefan Hirschauer / Klaus Amann, Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnogra-fischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a. M. 1997).

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3. Methodologischer Individualismus und Mentalismus

In den individualistischen Soziologien tritt das Individuum in unterschiedlichen Varianten auf. Es fungiert nicht nur als selbstverständlicher Ausgangspunkt der soziologischen Erkenntnisgewinnung und als kleinste, unteilbare Einheit des So-zialen, sondern häufig auch als sinnsetzende Instanz. Für diese Rolle wird es mit einer inneren mentalen Planungs-, Entscheidungs- und Steuerungszentrale aus-gestattet.15 Solche mentalistischen Konzeptionen unterstellen ein abwägendes, entscheidendes und handelndes Individuum, dessen Handlungen seinem men-talen Inneren zugerechnet werden und als bloße Ausführungen vorgängiger in-nerer Prozesse (Willens- und Glaubensregungen, Motive, Pläne, Absichten etc.) gelten. Sie bilden eine Gemeinsamkeit so unterschiedlicher individualistischer Vokabulare wie der Sozialphänomenologie und der Rational-Choice-Theorie und sie kennzeichnen darüber hinaus eine gesellschaftlich weit verbreitete Eth-nosemantik und folk theory of mind.16

Dem mentalistischen Individualismus liegt die spezifische Selbsterfahrung des »homo clausus«17 zugrunde. Diese Selbsterfahrung ist Elias zufolge »etwa seit der Renaissance für immer weiterer Kreise der europäischen Gesellschaften cha-rakteristisch […]. Es ist eine Erfahrung, die es Menschen so erscheinen lässt, als ob sie selbst, als ob ihr eigentliches ›Selbst‹ irgendwie in einem eigenen ›Inneren‹

existiere, und als ob es dort im ›Innern‹ wie durch eine unsichtbare Mauer von allem, was ›draußen‹ ist, von der sogenannten ›Außenwelt‹ abgetrennt sei. Diese Erfahrung ihrer selbst als einer Art von verschlossenem Gehäuse, als homo clau-sus, erscheint den Menschen, die sie haben, als unmittelbar einleuchtend […]. Sie fragen sich nicht, was eigentlich an ihnen das abschließende Gehäuse und was das darin abgeschlossene ist. Ist die Haut die Wand des Gefäßes, die das

eigent-15 Wie Rod Watson / Jeff Coulter, The Debate over Cognitivism, in: Theory, Culture & So-ciety 25, 2 (2008), S. 1–17 deutlich machen, sind mentalistische Konzeptionen individuel-len Entscheidens und Handelns mit dem methodologischen Individualismus aber nicht notwendigerweise verknüpft. So werden zum Beispiel in der Konzeption Poppers Menta-lismus und Psychologismus explizit verworfen; vgl. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern 1980, S. 114.

Poppers Konzept der Situationslogik rückt die Beziehungen zwischen menschlichen Handlungen und ihrer sozialen Umgebung an jene Zentralstelle, die in mentalistischen Vokabularen das mentale Verarbeitungsmodell eines isolierten Individuums einnimmt.

Die Gesetze des sozialen Lebens sind Popper zufolge nicht auf psychologische Gesetze reduzierbar. Demgemäß lässt sich keine Handlung allein durch innere, mentale Beweg-gründe erklären, denn diese BewegBeweg-gründe stehen immer in Bezug zu sozialen Situationen, Umgebungen und Institutionen; vgl. dazu Buzzoni, Poppers Methodologischer Indivi-dualismus (wie Anm. 8).

16 Betram F. Malle, Folk Theory of Mind. Conceptual Foundations of Human Social tion, in: Ran R. Hassin u. a. (Hg.), The New Unconscious. Oxford Series in Social Cogni-tion and Social Neuroscience, Oxford 2005, S. 225–255.

17 Norbert Elias, Was ist Soziologie?, München 1970, S. 128.

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liche Selbst enthält? Ist es der Schädel, der Brustkorb? […] Es ist schwer zu sagen, denn im Inneren des Schädels findet man nur Gehirn […]«.18

Die von Elias beschriebene historisch spezifische kulturelle Selbsterfahrung bildet die Grundlage der Vorstellung von einem ›inneren‹ psychischen Apparat, der das ›äußere‹ Handeln und Verhalten ›mental verursacht‹, auslöst und lenkt.

Mentale Vorgänge der Zwecksetzung, des Abwägens und Entscheidens wären demnach dem Handeln kausal und zeitlich vorgeordnet.19 Damit ist eine folgen-reiche Vorentscheidung getroffen: Da es lediglich als Realisierung vorab gefasster Pläne und Entschlüsse gilt, wird das tatsächliche Entscheidungsgeschehen auch analytisch vernachlässigt und bleibt empirisch unbemerkt. Im Folgenden sollen daher nun einige wichtige konzeptionelle Absetzbewegungen vom mentalisti-schen Individualismus und seinen Akteur-Theorien des Entscheidens skizziert werden. Sie bereiten eine praxeologische Neuperspektivierung vor, die das tat-sächliche Entscheidungsgeschehen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und sich darum bemüht, dessen praktische Logiken, Materialitäten, Ressourcen, impliziten Wissensformen und schließlich seine Methodizität zu entschlüsseln.

3.1 Entscheiden als situatives decisionmaking

Eine erste Absetzbewegung führt vom methodologischen Individualismus zum methodologischen Situationalismus und vom individuellen Akteur zu den Situa-tionsteilnehmern.20 Eine solche situationalistische Dezentrierung des

Entschei-18 Ebd., S. 128. Die Annahme vieler wissenschaftlicher und Laientheorien, Sinnstiftung ge-schehe in einem mentalen Inneren beziehungsweise im Kopf des Individuums ist vielfach, zum Beispiel als »Dogma vom Gespenst in der Maschine« (Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 22) kritisiert worden. Praxeologische Ansätze gehen im Gegen-satz zu diesem Dogma davon aus, dass es sich bei Sinnstiftungen um ein öffentliches und beobachtbares Interaktionsgeschehen handelt. Es gibt daher – wie Garfinkel in Überein-stimmung mit Elias anmerkt – keinen Grund, unter die Schädeldecke zu schauen, denn dort ist »nothing but brains.« (Harold Garfinkel, A Conception of, and Experiments with

»Trust« as a Condition of Stable Concerted Actions, in: O. J. Harvey (Hg.), Motivation and Social Interaction, New York 1963, S. 187–238).

19 Joas und Knöbl haben diese auf den cartesianischen Dualismus zurückführbare teleologi-sche Struktur wissenschaftlicher und Common-Sense-Handlungstheorien mit Bezug auf pragmatistische Argumente kritisiert. Sie schlagen vor, die bei genauerer Prüfung unplau-sible Annahme einer ›mentalen Verursachung‹ von sozialem Handeln aufzugeben und entsprechend Wahrnehmung und Erkenntnis nicht der Handlung vorzuordnen, sondern sie als Phasen des Handelns aufzufassen. Motive, Pläne, Entschlüsse und Entscheidungen wären demnach »Produkte der Reflexion in Handlungssituationen und nicht (zeitlich vorhergehende) Ursachen des Handelns.«, s. Hans Joas / Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie.

Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2004, S. 712. Die im Folgenden ent-wickelten praxeologischen Überlegungen zum Entscheiden knüpfen an diese Revision der kausalen und zeitlichen Logik herkömmlicher Entscheidungstheorien an.

20 Auch Popper führt in seiner Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften das Konzept der Situationslogik ein. Dieses Konzept dient dazu, mentalistische und psychologistische

Entscheiden als retroaktives Regelfolgen 59 dungssubjektes lässt sich zum Beispiel mit Bezug auf die interaktionsanalytische Soziologie Erving Goffmans erläutern. Goffman unterstreicht die Relevanz des Situativen und die Eigenständigkeit sozialer Situationen. Entscheidend für deren analytische Entschlüsselung ist nicht »das Individuum und seine Psychologie […], sondern [es sind; R. S.] eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen. […] Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.«21

Goffmans methodologisch-situationalistische Perspektive verschiebt die ana-lytische Aufmerksamkeit also vom individuellen Akteur und Handlungssubjekt auf die Eigenschaften der Situation. Denn – so Goffmans These – wir verstehen soziale Situationen und die Eigenlogik des Situativen nicht, solange wir sie vom individuellen entscheidenden und handelnden Akteur aus denken und beschrei-ben. Das situative sensemaking und decisionmaking muss als ein überindividuell gemeinsames, konzertiertes, beobachtbares, immer auch körperliches Inter-aktions-, Darstellungs- und Interpretationsverhalten von Situationsteilnehmern konzeptualisiert werden. Es kann nicht auf innere mentale Vorgänge im Entschei-dungs- und Handlungssubjekt zurückgeführt und aus ihnen abgeleitet werden.

Im situativen decisionmaking werden darüber hinaus immer auch transsituative Rahmungen, Ressourcen und Wissensordnungen situativ verwendet.22 Goff-mans Interaktionsanalysen fokussieren also nicht nur Situationen und ihre Men-schen, sondern zugleich transsituative Bedeutungsrahmen und ihre situativen Modulierungen. In der durch Goffman markierten Absetzbewegung vom me-thodologischen Individualismus wird das Entscheidungssubjekt also durch die dezentrierten Teilnehmerinnen an situierten Praktiken des Entscheidens ersetzt.

3.2 Praktiken des Entscheidens als öffentliche Sinnzusammenhänge Mit diesem Situationalismus eng verknüpft ist ein Verständnis von situierten

3.2 Praktiken des Entscheidens als öffentliche Sinnzusammenhänge Mit diesem Situationalismus eng verknüpft ist ein Verständnis von situierten

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