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Vereinten Nationen

5.2 Vom Ziehen und Wandeln kategorialer Grenzen

Das Indigene hat sich – unter den Labels »indigenous populations«, »indi-genous people« bzw. »indi»indi-genous peoples« – seit den 1970er Jahren als relevante Personenkategorie im Kontext der Vereinten Nationen etablieren können und ist zu einem festen Bestandteil des weltgesellschaftlichen Be-obachtungsfundus avanciert. Dieser Prozess der Institutionalisierung war begleitet von einer Reflektion des Wesens des Indigenen: Was hält die Kategorie zusammen und was unterscheidet sie von anderen? Der erste Teil der folgenden Überlegungen behandelt frühe Versuche, Indigene zu definieren. Er legt die gesellschaftliche Einbettung sich als »neutral« prä-sentierender Definitionen offen und identifiziert den Bedeutungsgewinn

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95 Vgl. https://www.un.org/development/desa/indigenouspeoples/about-us/members.ht ml. Der achte Sitz rotiert zwischen Afrika, Asien und Zentral- und Südamerika.

96 Ganz in diesem Sinne begründete der erste Vorsitzende der UN-Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen seine Entscheidung für eine Politik der offenen Türen rück-blickend: »At that time, almost no indigenous organizations had consultative status with ECOSOC, and it was difficult to get. In the role as Chairman however, the present author took the decision that in order to fulfill the mandate […] there would be a need to have the best possible experts present, and the best experts would be the indigenous representatives themselves« (Eide 2009: 34).

von Selbstbeschreibungen als zentralen Trend, der schließlich in dem Ver-zicht auf eine offizielle formale Definition seine radikale Zuspitzung fand (Kap. 5.2.1). Die Öffnung kategorialer Grenzen erlebte in den 1990er Jahren ihre – ungeahnte und ungeahnt folgenreiche – Fortsetzung, als Grup-pierungen in Asien und Afrika auf sich selbst die Beschreibung als »indigene Völker« anlegten und kategoriale Mitgliedschaft für sich in Anspruch nahmen. Jenseits von definitorischen Bestimmungen zeichnete sich also eine Ausweitung der Kategorie über den Mechanismus der Diffusion von Selbstbeschreibungen ab. Das Teilkapitel diskutiert Voraussetzungen und Fol-gen der kategorialen Grenzverschiebung und lotet das Zusammenspiel von diskursiver Neuakzentuierung und kategorialer Globalisierung aus (Kap.

5.2.2).

5.2.1 Definitionsversuche und Definitionsverzicht

Gerade vor dem Hintergrund, dass Indigene im Kontext der Vereinten Nationen auf keine kategoriale Geschichte zurückblicken konnten, war eine Definition des Gegenstandes vor allem in den 1970er und 1980er Jahren ein zentrales Anliegen. Zwar hatte es die UNO, als sie »indigene Bevölkerungen«

dann als eine relevante Kategorie in den Blick nahm, mit einer anderweit schon institutionalisierten, schon globalisierten, schon generalisierten Kategorie zu tun:

Sie war im lateinamerikanischen Kontext und in der ILO bereits etabliert (vgl. Kap. 3), und der sich internationalisierende indigene Aktivismus verschaffte ihr nicht nur eine neue Präsenz, sondern eine ganz eigene Faktizität (vgl. Kap. 4). Im organisationalen Umfeld der UNO jedoch musste sie an etablierte Beobachtungsroutinen angeschlossen und definito-risch bestimmt werden. Eine Beschäftigung mit frühen Definitions-versuchen führt unmittelbar zu der umfangreichen Study on Discrimination of Indigenous Populations, in der UN-Sonderberichterstatter Martinez Cobo in den 1970er und 1980er Jahren die indigene Welt analytisch zu durchdringen suchte (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1986/7 und Add. 1–4, vgl. Kap. 5.1.1).

Da sich im internationalen politischen Diskurs im Laufe der Jahrzehnte eine weitgehende Distanz gegenüber dem Vorhaben durchgesetzt hat, Indigene überhaupt formal zu bestimmen, und etwa die UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker auf eine Definition ganz verzichtet, wird die Cobo-Studie noch immer gerade wegen ihrer Definitionsversuche ausgiebig rezipiert.

Genau genommen enthält die Studie zwei Ansätze: eine frühe Arbeits-definition aus dem Jahr 1972, die als Voraussetzung für »a certain degree of comparability in the content of the information collected« interpretiert wird (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/L. 566: § 21),97 und einen späteren Entwurf aus dem Jahre 1983, der eigentlich, gewissermaßen als Ergebnis der Studie, eine verbindliche Definition »from the international point of view« re-präsentieren sollte (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1983/21/Add. 8).98 Ich kontrastiere im Folgenden die beiden Definitionsvorschläge: Wie wurden die kategorialen Grenzen der Kategorie der »indigenen Bevölkerungen«

1972 und 1983 gezogen? Wie haben sich die Vorstellungen vom Indigenen in diesem Zeitraum verändert, der einerseits vergleichsweise kurz ist, ande-rerseits jedoch einen Bedeutungsgewinn der Kategorie des Indigenen wie auch eine wachsende Einflussnahme des indigenen Aktivismus zu ver-zeichnen hatte?

Im Jahre 1972 schlug Cobo vor, »indigenous populations« – wie er die Zielgruppe ganz im Einklang mit den zeitgenössischen Debatten begrifflich fasste – wie folgt zu definieren:

»Indigenous populations are composed of the existing descendants of the peoples who inhabited the present territory of a country wholly or partially at the time when persons of a different culture or ethnic origin arrived there from other parts of the

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97 Die Auseinandersetzung mit der Frage der Definition indigener Bevölkerungen soll, so wird in dem Bericht aus dem Jahre 1972 differenziert, vier Stufen umfassen (UN Doc.

E/N. 4/Sub. 2/L. 566: § 19): erstens die Erstellung einer Arbeitsdefinition (s.o.), zweitens die Identifikation von Bevölkerungsgruppen in den einzelnen Ländern, die der Kategorie zugewiesen werden können; diese Bestimmung findet vor allem in den einzelnen Länderberichten statt. Drittens sieht der Bericht einen umfassenden Vergleich von Defi-nitionen vor, die in unterschiedlichen nationalen Kontexten genutzt werden. Dieser Vergleich wird in Kapitel V der Studie unternommen, welches auf 70 Seiten verschiedene Definitionskriterien differenziert, diskutiert und über ihre Verwendung in verschiedenen Staaten Auskunft gibt (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1982/2/Add. 6). Schließlich solle aus diesen Vorarbeiten eine allgemeine Definition abgeleitet werden (s.o.). Ich gehe im Folgenden nur auf die erste und letzte der beiden Stufen ausführlicher ein.

98 Damit entsprach der Sonderberichterstatter einer Erwartung, die bereits 1971 formuliert worden war: Aus der detaillierten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand solle eine fundierte Definition abgeleitet werden (UN Doc. E/N. 4/Sub. 2/L. 566: § 19 d). Aller-dings verhehlt Cobo kaum sein »definitorisches Unbehagen«, mit dem er sich der Aufgabe nähert: »The Special Rapporteur has felt tempted to say nothing more, feeling that he has already presented all the elements at his disposal on this particular subject. […] However […] he feels that he must do his duty« (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1983/21/Add. 8: § 365). Diese Distanzierung kann bereits als Hinweis auf den nahenden Bedeutungsverlust expliziter Definitionen gelten.

world, overcame, and, by conquest, settlement or other means, reduced them to a non-dominant or colonial condition; who today live more in conformity with their particular social, economic and cultural customs and traditions than with the institutions of the country of which they now form part, under a State structure which incorporates mainly the national, social and cultural characteristics of other segments of the population which are predominant« (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/

L. 566: § 34).

Im Kern schließt diese Definition an eine etablierte Vorstellung vom Indi-genen an: Indigene Bevölkerungen sind Nachfahren der vorkolonialen Bevölkerung eines bestimmten Gebietes, die ihr Leben nach eigenen sozia-len, wirtschaftlichen und kulturellen Sitten und Traditionen ausrichten – also kulturell distinkte Populationen im Kontext von Staaten. Allerdings ist diese Bestimmung des Indigenen frei von den negativen Konnotationen, die für den integrationistischen Diskurs der ILO der 1950er Jahre charakteristisch waren: Verweise auf die »Primitivität« der Indigenen sind ebenso verschwunden wie die Subdifferenzierung indigener Bevölkerungen anhand ihres Grades bereits erreichter Integration in »tribal« und »semi-tribal populations« (328 UNTS 247: Art. 2). Vielmehr durchzieht die Definition, wie auch die begleitenden Paragrafen, die diese näher ausführen und kon-textualisieren, eine latente Kolonialismuskritik: Eroberung und Besiedlung hätten in der »imposition of political, economic and cultural dependence of a ›metropolitan‹ Power which exploited land, goods and peoples to its own advantage« resultiert (ebd.: § 41). Die Marginalisierung indigener Bevölker-ung finde ihre FortsetzBevölker-ung »under a State structure which incorporates mainly the national, social and cultural characteristics of other segments of the population which are predominant« (ebd.: § 34). Cobo geht nicht so weit, auch die aktuelle Position indigener Bevölkerungen in unabhängigen Nationalstaaten explizit als »colonial condition« zu benennen, wie es im Kontext des aktivistischen Diskurses gängig war. Dennoch ist es aus seiner Perspektive die »non-neutral state structure« (§ 44) und nicht die »Primitivi-tät« der Indigenen, die »protective measures in their favour, affording them special rights and services« (ebd.) notwendig machten.

Die Grenzen der Kategorie scheinen auf den ersten Blick recht eng ge-zogen, insofern Cobo die Situation des Überseekolonialismus in den Fokus rückt, bei der die Eroberer »of a different culture or ethnic origin […] from other parts of the world« seien (ebd: § 34); anderenfalls handle es sich um ein »problem between indigenous populations« (ebd.: § 39). Dieser engen Bestimmung zum Trotz thematisiert die Cobo-Studie auch die Indigenen Skandinaviens sowie asiatische (nicht aber afrikanische) Gruppierungen. Im

Unterschied zu dem Ansatz der ILO werden diese nicht in die Nach-barkategorie der »tribalen Bevölkerungen« ausgelagert, sondern ohne weitere Problematisierung innerhalb der Kategorie der »indigenen Bevölkerungen«

verortet.99 Die Differenzierung zwischen »tribalen« und »indigen-tribalen Bevölkerungen« wurde nicht aufgegriffen. Vielmehr werden auch »rein tribale Bevölkerungen« nach und nach unter dem Label der »indigenen Bevölkerungen« subsumiert (vgl. Kap. 5.2.2).

Als Cobo 1983 einen zweiten Definitionsversuch präsentierte, tat er das ganz ausdrücklich vor dem Hintergrund eines erstarkenden indigenen Aktivismus und offizieller Institutionalisierungsbemühungen innerhalb der neu gegründeten Arbeitsgruppe zu Indigenen.100 Diese sei auch der Ort, an dem eine offizielle Definition zu erarbeiten sei; Cobo sieht seine eigene Aufgabe in der Formulierung von »only tentative concepts and criteria for placing on the table a merely preliminary and provisional efforts on the basis of what are felt to be the relevant criteria« (UN Doc. E/CN. 4/Sub.

2/1983/21/Add. 8: §§ 366f.). Diese lauten:

»Indigenous communities, peoples and nations are those which, having a historical continuity with pre-invasion and pre-colonial societies that developed on their territories, consider themselves distinct from other sectors of the societies now prevailing in those territories, or part of them. They form at present non-dominant sectors of society and are determined to preserve, develop and transmit to future generations their ancestral territories, and their ethnic identity, as the basis for their continued existence as peoples, in accordance with their own cultural patterns, social institutions and legal systems« (ebd.: § 379).

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99 Cobo merkt in einem Zusatzparagrafen an, »isolated or marginal populations«, die nicht über genuine Kolonialisierungserfahrungen verfügten, »should also be regarded as covered by the notion of ›indigenous populations‹« (ebd.: § 45). Als Begründung für diese klassifikatorische Zuordnung verweist Cobo auf den Aspekt der frühen Besiedlung von Gebieten, die Beibehaltung spezifischer Sitten und Traditionen »which are similar to those characterized as indigenous« (ebd.: § 45 c) und die Dominanz »fremder« staatlicher Strukturen.

100 In einleitenden Bemerkungen, die der Definition vorangehen, nimmt Cobo – affirmativ und nahe am aktivistischen Sprachgebrauch – auf eine Reihe von Rechten Bezug, die im Indigenendiskurs formuliert wurden, etwa »the right of indigenous peoples themselves to define what and who is indigenous« (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1983/21/Add. 8.: § 369),

»historical rights to their lands« (ebd.: § 373), »right to be different and to be considered as such« (ebd.) und schließlich das »right to continue to exist, to defend their lands, to keep and to transmit their culture, their language, their social and legal institutions and their systems and their way of life, which have been illegally and unjustifiably attacked«

(ebd.: § 374).

Trotz der offensichtlichen Parallelen zu dem ersten Definitionsvorschlag – etwa dem Verweis auf vorkoloniale Gesellschaften, eigene Institutionen und Strukturen oder eine gegenwärtig nicht-dominante Position – zeigen sich auch neue Akzentsetzungen. Diese bilden den Einfluss des indigenen Aktivismus ab: Cobo spricht beispielsweise nicht mehr von »indigenen Bevölkerungen«, sondern von »indigenen Gemeinschaften, Völkern und Nationen« oder betont die Bedeutung, die Länder der Ahnen und ethnische Identität für den Fortbestand als Völker haben. Er aktualisiert damit eine typische Argumentationsfigur des indigenen Aktivismus, die den Vorwurf des Ethnozids impliziert (vgl. Kap. 6).

Damit einher ging ein Trend zur »De-Essentialisierung«.101 So gewinnt in dieser Arbeitsdefinition das Verhältnis indigener Bevölkerungen zu sich selbst an Bedeutung. Wenngleich »objektive« Züge wie eine nicht-dominante Position im staatlichen Gefüge und eigene »kulturelle Muster, soziale Institutionen und Rechtssysteme« erwähnt werden, sind es auch »subjektive« Aspekte wie Selbstbeobachtung von Differenz (»consider themselves distinct«), der Wunsch zu deren Aufrechterhaltung (»determined to preserve, develop and transmit«) sowie Identität (»ethnic identity«), die als zentrale Merkmale hervorgehoben werden. Die Schwerpunktverlagerung zur Selbstbeschreibung, spiegelt ein konstruktivistisches Verständnis von Ethnizität, welches sich im Anschluss an Frederik Barth (1969) in der zeitgenössischen Anthropologie zu etablieren begann: »Social scientists«, betont Cobo, »have reached the conclusion that ethnic groups can be characterized only by the distinctions which they themselves perceive between themselves and other groups with which they have to interact« (ebd.: § 375). Für das Anliegen einer Definition indigener Völker impliziert dies, dass von der Ebene der Beobachtung erster Ordnung auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt wird:

Die Aufgabe lautet nicht mehr in erster Linie, »objektive« kategoriale

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101 Auch mit Blick auf das für die Kategorien konstitutive Merkmal der Beziehung zu vorkolonialen Gesellschaften ist eine Akzentverschiebung zu beobachten: Indigene wer-den nicht mehr als »existing descendants of the peoples« bezeichnet (UN Doc. E/CN.

4/Sub. 2/L. 566: § 34), sondern als jene, die eine »historical continuity with […] societies«

aufweisen. Das essentialistisch konnotierte Konzept der »Abstammung« erklärt Cobo in einigen erläuternden Bemerkungen nur zu einer von verschiedenen Ausdrucksformen, die diese Kontinuität annehmen kann (ebd.: § 380 b) – neben »occupation of ancestral land«

(a.), »culture in general« (c.), »language« (d.), und »residence in certain parts of the country, or in certain regions of the world« (e.). Diese ohnehin sehr breite Liste, die unterschiedlichste Anschlussmöglichkeiten anbietet, wird schließlich durch den Verweis auf »other relevant factors« (ebd.: § 380) noch weiter geöffnet.

Grenzziehungskriterien zu bestimmen, sondern vielmehr, »(inter-)subjektive« Grenzziehungsprozesse zu beobachten. Cobo geht in seinen Überlegungen noch einen Schritt weiter, indem er – ganz in Einklang mit aktivistischen Forderungen – »the sovereign right and power to decide who belongs to them, without external interference« betont, die den indigenen Gemeinschaften zukämen (UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1983/21/Add. 8: § 382).

Diese Tendenz zur Anerkennung eines Rechts auf Selbstbeschreibung indigener Völker verfestigte sich in den folgenden Jahren im internationalen politischen und rechtlichen Diskurs – und gipfelte schließlich in dem Verzicht auf festlegende Fremdbeschreibungen, die als Verletzung des Rechts auf Selbstbeschreibung interpretiert werden. Zwar war das Anliegen, die Zielgruppe zu definieren, in den ersten Sitzungen der UN Working Group on Indigenous Populations unübersehbar – schließlich würde kategoriale Zugehörigkeit über den Anspruch oder Nicht-Anspruch auf die zu proklamierenden Indigenenrechte entscheiden (zu den Diskussionen der 1980er Jahre vgl. etwa Barsh 1986; Sanders 1989). Dennoch wurden schon in den 1980er Jahren Stimmen laut, die sich explizit gegen die Aufnahme einer formalen Definition in den Deklarationstext aussprachen, und das waren vor allem die Stimmen indigener Aktivistinnen (vgl. Barsh 1986:

375f.). Im Jahr 1996 formulierten diese eine gemeinsame Erklärung, in der sie für eine Abstinenz der Deklaration in Sachen Definition plädierten, obschon sie die von Cobo vorgeschlagene Arbeitsdefinition im Prinzip bestätigten: »We categorically rejectany attempts that Governments define Indigenous Peoples. We further endorse the Martinez Cobo report […] in regard to the concept of ›indigenous‹« (zitiert in UN Doc. E/CN. 4/Sub.

2/1996/21). Wenngleich diese Position bis zuletzt nicht unwidersprochen geblieben ist, verfestigte und generalisierte sie sich im Lauf der 1990er Jahre auch über die Reihen der Aktivisten hinaus. Der 2007 verabschiedete Text der »Declaration on the Rights of Indigenous Peoples« schließlich enthält keine Definition, sondern verlagert in Artikel 33 die Bestimmung von Indigenität in den Kompetenzbereich der Selbstbeschreiber: »Indigenous peoples have the right to determine their own identity or membership in accordance with their customs and traditions« (UN Doc. A/

RES/61/295: Art. 33.1).

Der Verzicht auf eine verbindliche internationale Definition kann als Radikalisierung der sich bereits in den 1980er Jahren abzeichnenden

»Subjektivierung« des Indigenen interpretiert werden. Gleichzeitig steht er

für eine Öffnung und Dynamisierung kategorialer Grenzen, die der Kategorie der

»indigenen Völker« ein enormes Globalisierungspotential bereitstellt, welches seit den 1990er Jahren in nie dagewesenem Maß ausgeschöpft wurde. Die Globalisierung der Kategorie und ihre Rückwirkungen auf Mechanismen kategorialer Grenzziehung stehen im Zentrum des folgenden Teilkapitels.

5.2.2 Zur Globalisierung und Neu-Akzentuierung der Kategorie

Am 3. August 1989 hielt Moringe Ole Parkipuny, tansanischer Maasai und zu jener Zeit Mitglied des Parlaments, als erster afrikanischer Repräsentant während einer der Sitzungen der Working Group on Indigenous Populations eine Rede (zum Folgenden vgl. etwa Muehlebach 2001: 437ff.; Hodgson 2011:

25ff.) – und übertrug die Kategorie des Indigenen auf afrikanische Völker.

Auch in unabhängigen afrikanischen Nationalstaaten gäbe es

»peoples who have continued […] to resist assimilation impositions. They have not become any more amenable to state control now than under European colonial regimes. For that defiance they received the stigma of resisting modernization and even of being incapable of adopting ›civilized‹ ways. […]. It is specifically indigenous African cultures which are well known to have firm roots in value systems, languages, lifestyles [that] are profoundly different from those of the mainstream population« (Moringe Parkipuny, KIPOC, Organization of Pastoral Peoples in Tanzania, zitiert nach Muehlebach 2001: 437).

Er verweist also auf die Existenz distinkter Völker im Kontext unabhängiger Nationalstaaten, die aufgrund ihres Widerstandes gegen – koloniale und staatliche – Assimilationsbemühungen Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt seien. Sie seien, so betont er im weiteren Verlauf seiner Rede, durch staatliche Maßnahmen wie die Einrichtung von Naturschutzgebieten und Nationalparks in ihrer besonderen Lebensweise bedroht, die in ureigener Weise mit Land und Boden verbunden sei (vgl. ebd.). Die Zugehörigkeit dieser Völker zur generalisierten Kategorie der »indigenen Völker« wird nicht nur implizit, sondern explizit hergestellt, und zwar als das Ergebnis eines spezifischen Lernprozesses, während dessen die Indigenen Afrikas

»have learned from our sisters and brothers that we are indeed one extended family with a shared plight, a unified value system, and a deep-rooted determination to recover through restoration to humanity, the respect to Mother Earth and the fundamental human right to cultural diversity« (Moringe Parkipuny, KIPOC, Or-ganization of Pastoral Peoples in Tanzania, zitiert nach ebd.).

Beschworen wird die Mitgliedschaft in einer globalen indigenen Gemein-schaft, deren Einheit als Familie der »Mutter Erde« symbolisch imaginiert wird.

Diese »Familie« gewann im Laufe der 1990er Jahre rapide an neuen Mitgliedern. Es wurde zur Regel, dass indigene Organisationen und Völker aus Asien, (etwa Indien, Bangladesch, Pakistan, Myanmar, Vietnam oder Indonesien), Afrika (etwa Ruanda, Marokko, Algerien oder Kenia) sowie kleine Völker aus Sibirien oder dem Kaukasus bei den Treffen der Arbeits-gruppe vertreten waren. Während zu Beginn der 1990er Jahre noch fast 90 Prozent der indigenen Delegierten aus Amerika stammten, fiel ihr Anteil Mitte der 1990er Jahre auf unter 40% (vgl. Kemner 2013b: 217). 1993 war nur eine afrikanische NGO anwesend, 2002 waren es mehr als 26, die entweder gelegentlich oder regelmäßig an den Treffen der Arbeitsgruppe teilnahmen (vgl. Hodgson 2011: 32). Deren Anwesenheit war auf Dauer gestellt - »it looks as if these new indigenous groups at the WGIP are here to stay« (Muehlebach 2001: 436) – und reflektiert die Genese neuer kategori-aler Einheiten:

»diverse peoples throughout the world are self-consciously claiming an indigenous identity, often for the first time in history. That is, ― ›aboriginal‹, minority peoples who in other contexts may identify as Kumeyaay, Hopi, Shavante, Dayak, Batwa, Tarahumara, Inuit, Taureg, Dogrib, Khanty, Sami, Yolgnu, etc. or any other of over 4,000 so-called ―›tribes‹ scattered across the globe are, individually and together, doing something radical. They are becoming indigenous« (Levi/Maybury-Lewis 2012:

33, Hervorhebung im Original).

Dieser Radikalität und einiger skeptischer Stimmen zum Trotz hat sich die Erwartung, dass sich die »indigene Welt« fast über den ganzen Globus erstreckt, in den 2000er Jahren auch über Selbstbeschreibungen hinaus institutionalisiert.102 Auch wenn die Indigenität einzelner Kollektive im Einzelfall bestritten werden mag, hat sich die Kategorie der »indigenen Völker« als globale Personenkategorie institutionalisieren können, die einen

Dieser Radikalität und einiger skeptischer Stimmen zum Trotz hat sich die Erwartung, dass sich die »indigene Welt« fast über den ganzen Globus erstreckt, in den 2000er Jahren auch über Selbstbeschreibungen hinaus institutionalisiert.102 Auch wenn die Indigenität einzelner Kollektive im Einzelfall bestritten werden mag, hat sich die Kategorie der »indigenen Völker« als globale Personenkategorie institutionalisieren können, die einen