• Keine Ergebnisse gefunden

Vom „Alten Testament“ zu einem Buch mit Eigenwert

Stationen von Erfahrungen mit Leseweisen der Bibel Israels Johannes Marböck

Die Einladung zu diesem Forschungskolloquium mit der Herausforderung, eine Thematik für den eigenen Beitrag zu formulieren, war Impuls zu einem Nachden-ken, in dem mir wie bisher noch nie in diesem Ausmaß überraschend bewusst wur-de, wie sehr sich mein eigenes Denken zur Frage Altes Testament und Bibel Israels gewandelt hat. Ich möchte daher „ebenerdig“ einige Stationen und Erfahrungen meines persönlichen Weges im Umgang mit dem Alten Testament erinnernd skiz-zieren, die sehr viele Menschen heute wohl gar nicht mehr gemacht haben. Dies sind:

• Stationen aus der Zeit meiner eigenen theologischen Ausbildung und Praxis in Linz (Oberösterreich) vor dem II. Vatikanum;

• Johannes XXIII. und Nostra Aetate – Impulse der Zeit um das II. Vatikanum;

• Erfahrungen und Stationen von Lehre und Praxis meiner Tätigkeit in Linz und Graz zwischen 1970 und 2003;

• Der bleibende Eigenwert der Bibel Israels in einer christlich-jüdischen Herme-neutik.

1. Vorbemerkung: Stimmen für das Alte Testament in der Kirche von Linz zwischen 1931 und 1938

Aus meinem näheren kirchlichen Umfeld der Diözese Linz, aus dem ich komme, scheinen mir im Kontext unserer Thematik drei Stimmen aus der Zeit vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus bis heute der Erinnerung wert.

Im Jahr 1931 veröffentlichte der an der Grazer Theologischen Fakultät 1922 mit dem Dr. h. c. ausgezeichnete damalige Linzer Domprediger Franz Stingeder1 (†

1936) das für jene Epoche höchst bemerkenswerte Werk „Homiletischer Führer durch das Alte Testament“, in dem er grundsätzlich und mit zahlreichen Beispielen

1 Stingeder, Franz: Homiletischer Führer durch das Alte Testament. Mit einem Verzeichnis der wichtigsten exegetisch-homiletischen Literatur, der dogmatischen Stellen im A. T., ei-nem Verwendungsregister nebst eiei-nem Anhang von Predigt-Dispositionen über alttesta-mentliche Texte, Linz an der Donau: Preßverein 1931.

die Predigt über das damals von Christinnen und Christen kaum gekannte und vor allem wenig geschätzte Alte Testament als Pflicht (!) hinstellt. Gewiss trägt jener umfangreiche (396 + IX S.), aber in der homiletischen kirchlichen Literatur an-gesichts der damaligen Leseordnung völlig außergewöhnliche Versuch die Spuren und Grenzen zeitbedingten theologischen Denkens, wonach das Alte Testament Vorstufe, Vorhersage und Vorausdarstellung des Neuen ist, das jedoch ohne das Alte unverständlich bleibt.2 Bis heute aktuell aber bleiben seine damaligen Hin-weise auf die reiche Fülle von Impulsen der Texte für die Verkündigung, aber auch auf die Notwendigkeit exegetischer Gewissenhaftigkeit des Homileten und die Kenntnis der wichtigsten alttestamentlichen Fragen.3

Neben diesem angesichts der damals schon feststellbaren Abwertung des Alten Testamentes in der Tat wegweisenden, leider weithin unbeachteten Werk ist auch eine zweite Stimme interessant. Gegenüber dem aus politisch-nationalistischen und antisemitischen Kreisen bereits zu hörenden unchristlichen Ruf „Fort mit dem Alten Testament“, der an theologischen Fakultäten Deutschlands bereits Wirkung gezeigt hatte, etwa in Tübingen, erhebt der exegetisch äußerst traditionelle Alttestamentler Dr. Karl Fruhstorfer 1933 in der Linzer Theologisch-praktischen Quartalschrift seine Stimme zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für das Alte Testament in Theologie, Religionsunterricht und Gottesdienst.4 Nach ihm liegt im Alten Testament nicht Rassenoffenbarung, sondern Offenbarung Gottes vor. Für Jesus war das Alte Testa-ment Gottes Wort. Allerdings werden auch in seiner scharfen und mutigen Kritik an den ausdrücklich genannten Namen und Stimmen von Alfred Rosenberg und Adolf Hitler wiederum Grenzen spürbar, wenn das Alte Testament als lex imperfecta und lex timoris dem Neuen Testament als lex perfecta und lex amoris gegenüber gestellt wird und vor allem die Aufgabe hatte, auf Christus vorzubereiten, Christus durch Weissagungen voraus zu verkünden und durch Vorbilder anzudeuten.5

Eine dritte Äußerung mit diesem spannungsreichen Ineinander von persönli-chem couragiertem Engagement zur Verteidigung des Alten Testamentes und da-maligen theologischen Grenzen war die Antrittsvorlesung meines Vorgängers als Lehrer der alttestamentlichen Bibelwissenschaft in Linz, Professor Dr. Maximilian Hollnsteiner, der im Oktober 1938, nur einige Wochen vor dem Brand der in un-mittelbarerer Nachbarschaft gelegenen Synagoge Religion und heilsgeschichtliche Bedeutung des Alten Testamentes gegen den schon begonnenen

Vernichtungs-2 Ebd., 34f.

3 Ebd., 44f.

4 Fruhstorfer, Karl: Der Ruf: Fort mit dem Alten Testament! in: ThPQ 86 (1933) 280–290.

5 Ebd., 286.

kampf verteidigte. Der Achtzigjährige verweist in einer Notiz zur persönlichen Übermittlung des Manuskriptes im Jahr 1984 ausdrücklich auf „den Antisemitis-mus teilweise auch bei der katholischen Jugend (Theologen)“. Dennoch: Bei aller Gewichtung des Bekenntnisses zum Einen und Einzigen (Dtn 6,4) sowie des pro-phetischen Ideals von Recht tun und Güte lieben und achtsam umgehen mit Gott (Mi 6,8) bleibt auch bei ihm das größte der Güter im Alten Testament die Hinfüh-rung auf Christus und sein Reich, die Funktion des παιδαγωγός auf Christus hin (Gal 3,23f.).6 Neben der politischen Situation ließ die Betonung der Einheit der christlichen Bibel mit der Überzeugung vom großen Prozess des Sprechens Gottes nach Hebr 1,1 damals offenbar noch kaum Räume für Reflexionen über eine Eigen-ständigkeit des Alten Testamentes als Bibel Israels bzw. als Hebräische Bibel.

2. Das Alte Testament in Theologiestudium und Pastoral 1954–1965 Dieser Zwiespalt und diese Spannung bestimmten im Wesentlichen auch noch mein Studium der Theologie in Linz 1954–1959. Der Enzyklika Divino afflante spi-ritu Pius XII. vom Jahr 1943, an der der Professor am Bibelinstitut Augustin Bea SJ wesentlichen Anteil hatte, war es ja um die damals zweifellos höchst wichti-ge dankenswerte Öffnung der katholischen Exewichti-gese für aktuelle historische und literarische Fragestellungen gegangen und noch keineswegs um exegetische und theologisch-systematische Auseinandersetzungen über den Stellenwert des Alten Testamentes in christlicher und jüdischer Sicht bzw. um das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Bibel.

Dankbar bin ich aber immer noch, dass wir von unserem Lehrer des Alten Tes-tamentes, Max Hollnsteiner, für die Auslegung der Genesis bereits damals auf den gewichtigen jüdischen Genesiskommentar von Benno Jacob (Berlin 1934) hinge-wiesen wurden. In der uns in jener Periode zur Verfügung stehenden bescheidenen zeitgenössischen exegetischen Literatur waren es vor allem Werke von Professor Claus Schedl CSsR in Wien, Mautern und Graz (1914–1986), die mich und gewiss auch viele andere mit ihrer suggestiven emotionalen Sprachkraft und ihrem Wis-senshorizont für das Alte Testament zu interessieren vermochten, angefangen von seiner Antrittsvorlesung „Sieben Thesen wider des Alten Testaments Verächter“7 und dem Buch „Die Sehnsucht der ewigen Hügel. Christus im Alten Testament“.8

6 Kopie des am 6.6.1984 von Maximilian Hollnsteiner erhaltenen Manuskriptes vom Okto-ber 1938: Zur Einleitung in das Alte Testament.

7 Schedl, Claus: Sieben Thesen wider des Alten Testaments Verächter, Wien: Herder 1947.

8 Ders.: Die Sehnsucht der ewigen Hügel. Christus im Alten Testament, Graz: Anton Pustet 1947.

In diesem viel gelesenen, aus der Bildungsarbeit in der Erzdiözese Wien hervorge-gangenem Werk, das Studierende und Prediger zweifellos für das Alte Testament begeistern konnte, war das Alte Testament noch notwendig „ein Christusbuch“,9

„Vorläufer für Christus wie der Täufer“,10 ja „nichts anderes als eine einzige offene Wunde auf Christus hin“.11 Auch für sein als Synthese von Geschichte, Einleitung und Theologie konzipiertes Studienbuch „Geschichte des Alten Testaments“12 galt:

„Das Alte Testament ist ‚der Erzieher auf Christus hin‘. Sag mir daher, wie Du zu Christus stehst, und ich sage Dir, wie Du das Alte Testament liest.“13 Zum Glück ließ die Behandlung konkreter Probleme von Geschichte, Texten und Theologie eine rein christologisch-neutestamentliche Sicht immer wieder zugunsten spezifi-scher Aussagen einzelner Schriften und Texte zurücktreten.

Anstöße für die Beschäftigung mit der theologischen Frage einer eigenständigen Hebräischen/Jüdischen Bibel unabhängig vom Neuen Testament waren für uns Studierende damals kaum präsent; fehlte doch das Alte Testament bis nach dem Konzil in den Texten unserer liturgisch-biblischen Leseordnung (ausgenommen in der Karwochenliturgie) und damit nahezu völlig auch für die Verkündigung. Es bedurfte offenbar selbst nach 1945 noch eines längeren mühevollen Prozesses, bis die katholische Kirche Israel und seine heiligen Schriften als schuldhaft vernach-lässigte, vergessene eigene theologische Größe und Wirklichkeit wahrzunehmen und zu akzeptieren gelernt hat. Claus Schedl hatte dies 1947 in der sechsten seiner sieben Thesen zumindest theoretisch bereits zu formulieren versucht, wenn er dort für das Gespräch mit den Kindern Israels gefordert hat, „es müsste geschehen in der großen Demut einer Begegnung, die Gegensätze nicht verwischt, sondern über den Gegensätzen das Gemeinsame sieht, den Glauben an Gott und seinen Mes-sias-Christus!“14 Als äußeres Zeichen dafür hatte er übrigens 1948 an der Katho-lisch-Theologischen Fakultät in Wien für drei Studierende, eine Moskauer Jüdin, einen katholischen Studenten aus Ungarn und einen evangelischen aus Österreich ein Semester lang eine „Einführung in den Talmud“ gehalten. Er hatte sich näm-lich 1945 noch unter Beschuss der Roten Armee antiquarisch eine Ausgabe der Mi-schna besorgt und sichergestellt.15

9 Ebd., 305.

10 Ebd., 297.

11 Ebd., 7.

12 Schedl, Claus: Geschichte des Alten Testaments. 1–5, Innsbruck: Tyrolia 1952–1964.

13 Ebd. 1, XXIV.

14 Schedl: Wider des Alten Testaments Verächter, 26.

15 Ders.: Talmud. Evangelium. Synagoge, Innsbruck: Tyrolia 1969, 7.

Was damals für meine eigene Ausbildung und weithin wohl für die meisten katholischen Theologiestudierenden in Österreich galt, galt umso mehr für die pastoralen Konsequenzen biblischer Bildung in Pfarren und Gemeinden. Anfragen zum Alten Testament, das ja umfangmäßig und theologisch sehr begrenzt nur im Religionsunterricht in der Schule, aber nicht in Liturgie und Predigt vorkam, be-trafen meist nur das Nachholbedürfnis zu aktuellen historischen und literarischen Fragen der Mosebücher (Urgeschichte, Erzelternerzählungen, Exodus), zu Wun-dergeschichten oder noch zu den so genannten messianischen Texten. Die theo-logische Dimension einer Bibel Israels, der Jüdischen Bibel als Bibel Jesu und der werdenden Kirche war kaum eine Frage, die katholische Christinnen und Christen berührte. Außerdem gab es ja in den Jahrzehnten nach der Schoah selbst in größe-ren Städten wie Linz kaum mehr größere jüdische Gemeinden; d. h. die Israelver-gessenheit existierte leider auf mehreren Ebenen. – Die zehn Seelisberger Thesen von 1947 mit ihrer Weiterführung in Schwalbach 195016 als erste Magna Charta für einen neuen, weiterführenden christlich-jüdischen Dialog blieben sowohl auf der Ebene der theologischen Ausbildung als auch der Verkündigung und Praxis in den Gemeinden, jedenfalls bei uns, leider weithin unbeachtet oder überhaupt unbekannt.

3. Johannes XXIII. und Nostra Aetate Nr. 4 – Impulse um die Zeit des II.

Vatikanischen Konzils

Entscheidend für Theologie und Verkündigung der Bibel Israels als eigenständige Größe in der katholischen Kirche wurde zweifellos, auch für mich persönlich, die Gestalt Papst Johannes XXIII. (1958–1963), seine persönlichen charismatischen Im-pulse und vor allem der Anstoß zu Nostra Aetate.17

Dies gilt nach seinen Einsätzen für Jüdinnen und Juden schon als Apostolischer Delegat in der Türkei und in Griechenland (1934–1944) bereits für die Streichung der antijüdischen liturgischen Karfreitagsbitte „pro perfidis Judaeis“ bzw. der „Ju-daeorum perfidia“ im Jahr 1959 sowie für sein berührendes Wort „Ich bin Josef, euer Bruder“ (Gen 45,4) vor einer Gruppe amerikanischer Juden im Oktober 1960.

Vor allem aber war es sein vom Besuch des französischen jüdischen Historikers Ju-les Isaac inspirierter und Kardinal Bea anvertrauter Auftrag zu einer Erklärung über

16 Rendtorff, Rolf / Henrix, Hans Hermann (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. 1. Doku-mente von 1945–1985, Paderborn: Bonifatius 21989, 646–650.

17 Henrix, Hans Hermann: „Die eigentliche Quelle ist das Herz Johannes´ XXIII.“ Entste-hung und Wirkung der Konzilskonstitution „Nostra Aetate“, in: ThPQ 161(2013) 280–291.

die Beziehungen der Kirche zum jüdischen Volk, die als Artikel 4 zum Ursprung und Herzstück des in einem spannenden und schwierigen Prozess von 1960 bis 1965 gewachsenen Dokumentes Nostra Aetate, der Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, geworden ist. Der ehemalige Lehrer am Bibelinstitut, Kardinal Bea (1891–1968), hat, nach außen diskret, zurückhaltend und entsagungsvoll, aber zuletzt erfolgreich, alle Kräfte der Physis und des Glau-bens seiner letzten LeGlau-bensjahre in dieses Dokument investiert.18 Es sind bis heute und auch für die Zukunft entscheidende Weichenstellungen für eine neue Sicht auch der alttestamentlichen Bibel in der katholischen Kirche, die da begegnen:

• Der Glaube Israels ist der gute Ölbaum (Röm 11,16ff.), dem sich auch die Kirche der Völker verdankt.

• Israel bleibt nach Paulus das erwählte Volk.

• Die jüdische Gemeinschaft ist entscheidend in die Suche nach dem christlichen und kirchlichen Selbstverständnis einzubinden.

• Das Evangelium ist ohne das zeitgenössische Judentum nicht zu verstehen.

Dies war bereits der weite und neue theologische Horizont, den uns am Ende des Konzils 1965 die Lehrer am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom vermittelt haben, von denen ja selber 19 Professoren einen Vorschlag „De antisemitismo vitando“ an die Konzilsväter übermittelt hatten. Der Ansatz zum Ernstnehmen der Eigenständig-keit alttestamentlicher Texte der hebräischen oder auch der griechischen Gestalt der Bibel Israels zeigte sich neben der Exegese in Einladungen jüdischer Historiker, Archäologen und Exegeten nach Rom. So erinnere ich mich bis heute an das be-troffen machende Schlusswort eines Vortrages von Yigael Yadin über seine Ausgra-bungen in Masada: „It’s a remind and a challenge.“

Solche Erfahrungen der Erinnerung und Herausforderung sowohl im Bereich der exegetischen Wissenschaft als auch in Begegnungen haben mich insbesondere durch ein anschließendes Studienjahr an der École Biblique der Dominikaner in Jerusalem nach dem Sechstagekrieg 1967/68 geprägt. Der bekannte Neutestament-ler Pierre Benoit OP hatte auch selber an Nostra Aetate mitgearbeitet. Dazu kam dort die neue Möglichkeit, nicht bloß die historisch-archäologischen Gestalten der Stadt Jerusalem mit ihrer dramatischen Geschichte, sondern auch die Stati-onen und Spuren der ganzen Geschichte Israels und seiner Bibel im Land selber abzuschreiten und ausführlich kennen und schätzen zu lernen, von Tell Dan im 18 Schmidt, Stjepan: Augustin Bea. Der Kardinal der Einheit, Graz: Styria 1989, 640–689;

Siebenrock, Roman: Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kir-che zu den nichtchristliKir-chen Religionen: Nostra Aetate, in: Hünermann, Peter / Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Kon-zil. 3, Freiburg: Herder 2005, 591–693.

Norden über die Siedlungen am Toten Meer mit dem Ausgräber Roland de Vaux bis in die Oasengegend von Kadesch Barnea im Gebiet des Sinai. Die in den bib-lischen Erzählungen überlieferten Zeugnisse des Glaubens haben durch so man-che Spuren in den Schichten der Erde, in den Stätten des Landes für mich ein eigenes, neues Gewicht gewonnen, über bloße Vorstufen hinaus als Zeichen und Botschaft der spannenden Geschichte eines nicht mehr rückgängig zu machenden Wohnungnehmens Gottes in Israel, seines Ja zu konkreten Menschen mit ihrer Geschichte.

4. Wachsen der Neugewichtung des Alten Testamentes – Stationen und Er-fahrungen in Österreich 1968–2003

Dieses doppelte Fundament, die Konzilsbotschaft von Nostra Aetate Nr. 4 sowie die realen Zeichen einer nicht mehr zu löschenden eigenständigen Geschichte des erwählten Volkes Israel, haben die weiteren Stationen meines Umgangs mit dem Alten Testament mitbestimmt und geprägt.

4.1. Das war vorerst eine kurze Tätigkeit als Assistent in Graz (1968–1970) mit der Habilitation beim hoch verdienten damaligen Rektor des Österreichischen Pilgerhospizes in Jerusalem, Univ.-Prof. DDr. Franz Sauer (1906–1990). Die ge-wählte Thematik der Weisheitstheologie beim frühjüdischen Schriftgelehrten Je-sus Sirach19 stellt ja mit Kapitel 24 als bedeutsame Interpretation von Spr 8,22–

36, so sehe ich es heute, einen bis zur Stunde zukunftsträchtigen Impuls für eine ganzheitliche, eigenständige Sicht der Bibel Israels dar, vielleicht auch für das jü-disch-christliche Gespräch überhaupt. Enthält doch Sir 24 die bis dahin umfas-sendste Synthese alttestamentlichen theologischen Denkens. Sie fasst ja Offenba-rung, Wohnung nehmen (Zelt aufschlagen/σκηνοῦν), Gegenwart und Wirken Gottes in Gestalt der Frau Weisheit in Kosmos und Geschichte Israels (Jerusalem, Kult, Land, Menschen) im Zeugnis der Weisung des Mose sowie schließlich in der Person des Weisen selber zusammen. Die Theologie der Schekina, der Einwoh-nung Gottes in Israel, erreicht in Sir 24 einen Höhepunkt. Der in sich geschlossene Text des Kapitels bleibt aber auch offen und wird zu einem Grenztext für jüdisches Denken, wenn wir fragen, ob und wie diese Einwohnung der Weisheit Gottes in Jerusalem und Israel nochmals weiter geführt werden kann und darf, wie es Joh 1,14 nach mehreren Stationen schließlich im Anklang an Sir 24 vom göttlichen Logos

19 Marböck, Johann: Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira. Mit Nachwort und Bibliographie zur Neuauflage (BZAW 272), Berlin: de Gruyter 1999; Erstveröffentlichung in: BBB 37, Bonn: Peter Hanstein 1971.

(Joh 1,1) bekennt: „Und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns das Zelt aufgeschlagen […].“20

4.2. Meine selbstständige Lehrtätigkeit in Linz (1970–1976), zum Teil auch in Graz, war Möglichkeit, aber auch Herausforderung, die Sicht des Alten Testamen-tes als Bibel Israels mit Eigenwert in der Auslegung von Pentateuch, Propheten und Schriften zu konkretisieren, zu vertiefen und zu vermitteln. Erfahrung und Ein-sicht, dass wir da Quellen kraftvoller und tiefer eigenständiger Geistigkeit begeg-nen, sind dabei Schritt für Schritt gewachsen. Die damals maßgebende exegetische Literatur der Kommentarwerke (Altes Testament Deutsch, Biblischer Kommentar Altes Testament) sowie zur Theologie des Alten Testamentes, durchwegs aus der evangelischen Wissenschaft, stellte dafür eine wichtige Orientierung dar. Die Frage der Beziehung zum Neuen Testament war dabei bereits gegenwärtig, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. So sprach etwa Gerhard von Rad in seinem Genesis-kommentar sehr zurückhaltend von der Möglichkeit einer Lektüre auch „zur Ein-übung auf die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus hin“.21 Er war aber auch überzeugt, die alttestamentliche Theologie „wird von ihrem Stoff selbst von einer Aktualisierung zur anderen getragen und schließlich wird sie bis an die Schwelle des Neuen Testamentes, ja über diese Schwelle geführt werden.“22

Von wegweisender Bedeutung in diesem Prozess wachsender eigenständiger Gewichtung des Alten Testamentes, in einer zweiten Line seiner Auslegung im Judentum, waren auf der einen Seite für mich vor allem frühe kollegiale, freund-schaftliche Begegnungen mit Kurt Schubert († 2007). Seine Persönlichkeit, sein Engagement und sein literarisches Werk für die Umsetzung von Nostra Aetate und die Verankerung des Dialoges mit dem Judentum in der Kirche können zweifellos Kollegen und Nachfolger in der ganzen Tragweite kompetenter beurteilen. Der an-dere Impuls war selbstverständlich bestimmt von der Lektüre und vom Studium jüdischer Auslegung biblischer Texte, etwa dem Midrasch Tehillim sowie in den

20 Janowski, Bernd: Gottes Weisheit in Jerusalem. Sirach 24 und die biblische Schekina-Theo-logie, in: Lichtenberger, Hermann / Mittmann-Reichert, Ulrike (Hg.): Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature (DCLY 2008), Berlin: de Gruyter 2009, 1–29 verweist auf den gewichtigen Beitrag: Wyschogrod, Michael: Inkarnation aus jüdischer Sicht, in: EvTh 55 / 1(1995) 13–28.

21 Rad, Gerhard von: Das erste Buch Mose. Genesis Kap. 1–12 (ATD 2/2), Göttingen: Van-denhoeck & Ruprecht 91972, 26.

22 Rad, Gerhard von: Theologie des Alten Testaments. 2. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels (Einführung in die evangelische Theologie 1,2), München: Kaiser

41965, 447.

Schriften zur Bibel von Martin Buber23 oder etwa von Abraham J. Heschel24 so-wie anderer jüdischer Kommentarwerke. Da wurde mir immer so-wieder beeindru-ckend bewusst, dass es ein exegetisch ernst zu nehmendes und zugleich tief religiö-ses gläubiges Verständnis von alttestamentlichen Texten durchaus auch ohne eine/

die christliche Weiterführung zum Neuen Testament gibt und geben kann.

4.3. Die Weitung dieses meines Zugangs zum Alten Testament hat sich während meiner Tätigkeit gerade in Graz (1976–2003) nach außen vielleicht eher unmerk-lich, aber doch wirksam mit mehreren neuen Akzenten in Wissenschaft, Bildungs-arbeit und vor allem durch Begegnungen fortgesetzt. Lehrveranstaltungen von Kollegen der Judaistik aus Wien haben das Verständnis für das Judentum gefördert, jüdische Exegetinnen wie Chana Safrai oder Athalya Brenner und Exegeten haben

4.3. Die Weitung dieses meines Zugangs zum Alten Testament hat sich während meiner Tätigkeit gerade in Graz (1976–2003) nach außen vielleicht eher unmerk-lich, aber doch wirksam mit mehreren neuen Akzenten in Wissenschaft, Bildungs-arbeit und vor allem durch Begegnungen fortgesetzt. Lehrveranstaltungen von Kollegen der Judaistik aus Wien haben das Verständnis für das Judentum gefördert, jüdische Exegetinnen wie Chana Safrai oder Athalya Brenner und Exegeten haben