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Der eine Gott der Bibel als Subjekt und Adressat christlicher Liturgie

Zur Neuformatierung der Feiern des Glaubens und ihrer Theologie durch den jüdisch-christlichen Dialog

Peter Ebenbauer

Die Konzilserklärung des Zweiten Vatikanums über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nostra Aetate, spricht im Rückgriff auf Röm 9,4f.

unter anderem vom jüdischen Gottesdienst als einer Vorzugsgabe des Gottes Israels an sein ersterwähltes Bundesvolk: „... daß ‚ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verhei-ßungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt‘ (Röm 9,4–5)“ (Nostra Aetate 4). Schon aus dieser kurzen Passage könnte man schlussfolgern, dass jüdische Liturgie – bis in ihre zeitgenössischen Gestalten hinein – ein substantiell wertvolles Gegenüber für die christliche Liturgie bildet, und dass sie ein Lernpotential, möglicherweise auch ein Korrekturpotential für den christlichen Gottesdienst bereithält, analog zum exegetischen und bibeltheologi-schen Lernpotential, das dem christlichen Glauben und der christlichen Theologie aus der Hebräischen Bibel und ihren jüdischen Auslegungstraditionen zuwächst.

1. Nostra Aetate und ihre Folgewirkungen für den Gottesdienst und die Liturgiewissenschaft

Der Artikel vier von Nostra Aetate über das Verhältnis der Kirche zum Judentum und seine Folgewirkungen blieben auch im Kontext der konziliaren Liturgiereform nicht wirkungslos. Die hier in Gang gekommenen Transformationsprozesse sind nicht abgeschlossen und zielen im Sinn der konziliaren Reformdynamik auch nicht auf einen Abschluss, sondern auf ständige Erneuerung. Sie sind auch nicht auf die römisch-katholische Kirche und ihre Liturgien beschränkt. Reformatorische Got-tesdienstpraxis hat in manchen Punkten stärker auf die Umkehr im Verhältnis der Kirchen zum Judentum reagiert als katholische; die Welt der orthodoxen Liturgien bisher noch am wenigsten.

Einen ersten liturgischen Meilenstein für die israeltheologische Neuformatie-rung der römisch-katholischen Liturgie bildete die neue Fassung der Karfreitags-fürbitte für die Juden:

Oremus et pro Iudaeis,

ut, ad quos prius locutus est Dominus Deus noster,

eis tribuat in sui nominis amore et in sui foederis fidelitate proficere.

[Flectamus genus – Levate]

Omnipotens sempiterne Deus, qui promissiones tuas Abrahae eiusque semini contulisti,

Ecclesiae tuae preces clementer exaudi, ut populus acquisitionis prioris ad redemptionis mereatur plenitudinem pervenire.

Per Christum Dominum nostrum.1

Lasst uns auch beten für die Juden,

zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat:

Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen,

damit sie das Ziel erreichen,

zu dem sein Ratschluss sie führen will.

[Beuget die Knie. – Stille – Erhebet euch.]

Allmächtiger, ewiger Gott,

du hast Abraham und seinen Kindern deine Ver-heißung gegeben.

Erhöre das Gebet deiner Kirche

für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast:

Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt.

Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.2

Diese Fürbitte liegt klar auf einer Linie mit Nostra Aetate und setzt die neue Her-meneutik des Verhältnisses der Kirche zum Judentum an einer bedeutenden Stelle christlicher Liturgie, nämlich in dem großen und maßstäblichen Gebetsformular für das fürbittende Gebet der römisch-katholischen Kirche überhaupt, nicht zu-fällig innerhalb der Liturgie des Oster-Triduums und in unmittelbarer Nähe zum Gedenken des Heilstodes Jesu, in beeindruckender Weise um.

Das Gebet anerkennt den unwiderruflich bleibenden Bund Gottes mit seinem ersterwählten Bundesvolk. In allen Generationen und bis heute gilt Gottes Bund für Israel, und dieser Bund wird als Weg Israels mit seinem Gott geachtet, ja ex-plizit erbeten: „Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund …“, unmittelbar ver-bunden mit einer zentralen Kategorie genuin jüdischen Glaubens: „… und in der Liebe zu seinem Namen.“

Wenn Art. 4 von Nostra Aetate brennpunktartig für die durch Umkehr und Er-neuerung gekennzeichnete lehramtliche Neupositionierung der katholischen Kirche gegenüber dem Judentum steht, dann repräsentiert diese Fürbitte den konkreten 1 Missale Romanum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II, Editio typica

ter-tia, Città del Vaticano: Libreria editrice vaticana 2002, 319; gleichlautend bereits in den ersten beiden Ausgaben 1970 und 1975.

2 Die Feier der heiligen Messe. Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes.

Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, Teil 1, Freiburg: Herder 1975, [48].

gottesdienstlichen Maßstab für die Neuformatierung ihrer liturgischen Theologie und Praxis im Hinblick auf Gottes Bundesvolk Israel und den jüdischen Glauben.

Dieses Gebet markiert eine Veränderung der Israeltheologie der Kirche, deren liturgische Reichweite vermutlich erst mit der von Papst Benedikt XVI. ausgelös-ten Debatte um die von ihm behauptete bruchlose Kohärenz zwischen dem alausgelös-ten Ritus im Gefolge des Trienter Konzils (bis 1962) und dem erneuerten Ritus der römischen Liturgie (seit 1970) voll ins Bewusstsein getreten ist,3 und mit seiner umstrittenen Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte für den Gebrauch jenes al-ten, außerordentlichen Ritus der Osterliturgie.4

In den letzten Jahrzehnten hat sich im Bereich christlicher Israeltheologie li-turgiepraktisch und liturgietheologisch einiges verändert, nicht zuletzt im Diskurs zwischen christlichen und jüdischen Forscher/inne/n, Theolog/inn/en und Prakti-ker/inne/n auf dem Gebiet der Liturgie;5 und durchaus auch mit Auswirkungen 3 Vgl. dazu die von Papst Benedikt in seinem Motu Proprio aus dem Jahr 2007 gefällte Entscheidung über den parallelen Gebrauch des alten und des erneuerten römischen Ritus:

Summorum Pontificum. Über den Gebrauch der Römischen Liturgie in der Gestalt vor der Reform von 1970, gegeben zu Rom bei Sankt Peter am 7 Juli im Jahr des Herrn 2007, dem dritten Jahr Unseres Pontifikats, Benedictus PP. XVI. Dort heißt es in Nr. 1: „Diese zwei Ausdrucksformen der ‚Lex orandi‘ der Kirche werden aber keineswegs zu einer Spaltung der ‚Lex credendi‘ der Kirche führen; denn sie sind zwei Anwendungsformen des einen Römischen Ritus.“ Vgl. http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/motu_proprio/

documents/hf_ben-xvi_motu-proprio_20070707_summorum-pontificum_ge.html [ab-gerufen am 26.6.2014].

4 Vgl. Homolka, Walter / Zenger, Erich (Hg.): „... damit sie Jesus Christus erkennen“. Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden (Theologie kontrovers) Freiburg: Herder 2008.

5 Ich weise hier exemplarisch auf einige Forschungsinitiativen mit einschlägigen Publikatio-nen hin: Unter der Leitung von Albert Gerhards (Bonn) wurde ab 1999 ein breit angeleg-tes internationales Projekt zur Erforschung liturgiehistorischer und liturgietheologischer Interdependenzen zwischen Judentum und Christentum bearbeitet, aus dem zahlreiche Publikationen hervorgegangen sind. Vgl. dazu Gerhards, Albert / Henrix, Hans Hermann (Hg.): Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Chris-tentum (QD 208) Freiburg: Herder 2004; Boschki, Reinhold / Gerhards, Albert (Hg.):

Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den christlich-jüdi-schen Dialog (Studien zu Judentum und Christentum) Paderborn: Schöningh 2010. Cle-mens Leonhard (Münster) leitet verwandte Projekte unter intensiver Einbindung jüdischer Forscher/innen; vgl. die informative Website http://www.uni-muenster.de/FB2/personen/

liturgie/leonhard.html [abgerufen am 23.6.2014] und folgende aktuelle Publikationen:

Leonhard, Clemens: The Jewish Pesach and the Origins of the Christian Easter. Open Questions in Current Research, Berlin: de Gruyter 2006; Leonhard, Clemens / Gerhards, Albert (Hg.): Jewish and Christian Liturgy and Worship. New Insights into its History and Interaction, Leiden: Brill 2007.

auf liturgiewissenschaftliche und theologische Standards. Allerdings ist immer mit zu bedenken, dass die Etablierung eines neuen Standards unterschieden werden muss von der konkreten Rezeption auf den unterschiedlichen Ebenen kirchlicher Reflexion und Praxis. Das gilt für die neuen Standards des Zweiten Vatikanischen Konzils ebenso wie für jene der Liturgie und ihrer Theologie.

In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass der zuletzt erschienene Band 2/2 des Handbuchs der Liturgiewissenschaft unter der Großüberschrift Theolo-gie des Gottesdienstes eine eigene Abhandlung zum Thema „Christliche und jüdische Liturgie“ beinhaltet, deren Absicht und Ziel genau darin besteht, die in einigen Punkten doch grundlegend veränderte Forschungslage darzustellen und einen neu-en liturgiehistorischneu-en sowie theologischneu-en Standard zu etablierneu-en. Diesbezüglich heißt es im Vorwort des genannten Handbuchs:

[...] vor allem durch die Konzilserklärung ‚Nostra aetate‘ und die nachfolgende Dis-kussion, [ist] die Fragestellung nach dem Verhältnis der christlichen Liturgie zum jü-dischen Gottesdienst auf eine völlig neue Basis gestellt worden. Das betrifft auch die Gestalt des christlichen Gottesdienstes sowie sein theologisches Selbstverständnis.6 Die Abhandlung selbst hat Gerard Rouwhorst verfasst, der sich durch seine Arbei-ten zur Frühgeschichte der christlichen Liturgie und ihren Interdependenzen mit dem Gottesdienst Israels bzw. mit der Entwicklung jüdisch-rabbinischer Liturgie international einen Namen gemacht hat.

Bevor in diesem Beitrag drei konkrete und aktuelle Fragenkreise im Kontext einer Neuformatierung christlicher Liturgie durch den jüdischen-christlichen Dialog er-örtert werden, seien an dieser Stelle stichwortartig die zentralen Aspekte zusammen-gefasst, die in diesem Handbuchbeitrag den in den vergangenen Jahrzehnten neu er-rungenen Standard liturgiegeschichtlicher und liturgietheologischer Art bezeichnen:

Zur Erforschung der historischen Zusammenhänge zwischen jüdischer und christlicher Liturgie werden die folgenden methodischen und inhaltlichen Prinzi-pien festgehalten:

a) Weder die liturgischen Traditionen des frühen Christentums noch diejenigen des frühen Judentums dürfen von ihrer antiken, d. h. hellenistisch-römischen Umwelt isoliert werden. [...]

6 Klöckener, Martin / Häußling, Angelus A. / Meßner, Reinhard (Hg.): Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. Theologie des Gottesdienstes 2/2, Regens-burg: Pustet 2008, 11.

b) Rekonstruktionen der frühjüdischen Liturgie, die in Hypothesen über die früh-christliche Liturgiegeschichte eine Rolle spielen, müssen auf einer gediegenen Kenntnis der jüdischen Quellen und auf einem kritischen Umgang mit ihnen ba-sieren. [...]

c) Die Komplexität sowohl des frühen Christentums als auch des frühen Judentums, namentlich in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, muss sehr ernst genommen werden. [...]

d) Anstatt von einem einfachen Modell der Übernahme einzelner Riten oder ritu-eller Elemente der einen Tradition durch die andere sollte von einem dynamischen Interaktionsmodell ausgegangen werden. [...]

e) Es könnte hilfreich sein, zwischen verschiedenen Formen der Beeinflussung [...]

zu unterscheiden.7

Im Hinblick auf liturgietheologische und liturgiepraktische Neuformatierungen resümiert Rouwhorst:

Ausgehend von den zwei Hauptprinzipien, die in Nostra aetate und in anderen kirchlichen Dokumenten formuliert worden sind, nämlich der Verbundenheit mit dem jüdischen Erbe und der Abweisung des Antijudaismus und der Substitutions-theologie, sollten folgende Punkte in der Theologie der Liturgie weiter reflektiert und ausgearbeitet werden, besonders auch im Hinblick auf die liturgische Praxis.8 Die Verwurzelung besonders der frühchristlichen Liturgie in jüdischen gottes-dienstlichen Traditionen sollte theologisch weiter reflektiert werden und auch im Gottesdienst heute sichtbar sein. Lesung und Auslegung des Alten Testaments ver-dienen besondere Beachtung, dürfen auf keinen Fall der obsolet gewordenen Sub-stitutionstheologie folgen. Weitere in jüdischen Traditionen wurzelnde Elemente 7 Rouwhorst, Gerard: Christlicher Gottesdienst und der Gottesdienst Israels.

Forschungsge-schichte, historische Interaktionen, Theologie, in: Klöckener, Martin / Häußling, Angelus A. / Meßner, Reinhard (Hg.): Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 2/2, Regensburg: Pustet 2008, 491–572, 511f. Die zuletzt genannten unterschiedlichen For-men der Beeinflussung werden weiter ausdifferenziert: „tiefgehende Beeinflussung durch die Übernahme, Aneignung und Transformation jüdischer Riten und ritueller Elemente in der formativen Phase des Christentums“ (in den ersten drei Jahrhunderten); ab dem 4.

Jh. „Beeinflussung durch Interaktion mit jüdischen liturgischen Traditionen“; weiters „die Beeinflussung durch das Alte Testament“ in Form von Rezeptionsprozessen innerhalb der Kirchen und ihrer Liturgien; sowie die Beeinflussung von Ritualen durch (neue) Vorstellun-gen, Bilder, Motive unterschiedlicher Herkunft. Rouwhorst: Christlicher Gottesdienst, 512f.

8 Ebd., 571.

sollten wieder eine prominente Stellung in der Theologie und Praxis christlicher Liturgie erhalten, so etwa der durchgängige „Gemeinschaftscharakter der gottes-dienstlichen Feiern und die zentrale Rolle des Lobpreises und der Danksagung in den Gebeten.“ Schließlich wird mit Nachdruck die „Bekämpfung zählebiger For-men von Antijudaismus in der Liturgie“ eingefordert. Dies betrifft sowohl bibli-sche Lesungen mit ihren Auslegungstraditionen als auch liturgibibli-sche Gebete und gottesdienstliche Gesänge.9

Besonderes Augenmerk sei schließlich auf die jeweils eigenen Wege und die Dif-ferenzen zu legen, die jüdische und christliche Liturgie kennzeichnen. Rouwhorst konstatiert abschließend dazu: „Dies kann nämlich für Christen und Juden eine Herausforderung bedeuten, die Traditionen der anderen Religion gerade in ihrem Anderssein kennenzulernen, zu schätzen, sich mit ihnen selbstkritisch auseinan-derzusetzen und möglichst von ihnen zu lernen.“10 Damit ist auch evident, dass sich die Liturgiewissenschaft nicht mehr einfach isoliert innerhalb christlicher For-schungs- und Lernkontexte bewegen darf, um ihrem Gegenstand und ihrer theolo-gischen Aufgabe gerecht zu werden. Gespräch und Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten und Liturgieexpert/inn/en sind essentiell geworden.

Ausgehend von diesem letzten Punkt möchte ich drei konkrete Fragenkreise thematisieren, die für die Neuformatierung christlicher Liturgie und ihrer Theolo-gie – angesichts der fundamentalen Neubesinnung auf den bleibenden Bund Got-tes mit seinem ersterwählten Volk Israel und auf die „geistliche Verbundenheit“

(vgl. NA 4) der Kirche mit dem Judentum – bedeutsam erscheinen.11 2. Überwindung liturgischer Substitutionstheologie

Aus der gesamtkirchlich und ökumenisch geteilten Neupositionierung gegenüber dem Judentum, wie sie in Nostra Aetate exemplarisch vorliegt, ergibt sich die Not-wendigkeit, dass alle Formen christlicher Abwertung oder Herabsetzung von alt-testamentlichen und jüdischen Gotteszeugnissen strikt zu vermeiden sind; das gilt selbstverständlich auch für die Liturgie.

Dieser Grundsatz gerät nun allerdings in Konflikt mit typologischen Überbie-tungsschemata, wie wir sie seit der Schriftwerdung des Neuen Testaments in den 9 Ebd., 571f.

10 Ebd., 572.

11 Vgl. dazu auch Ebenbauer, Peter: Mehr als ein Gespräch. Zur Dialogik von Gebet und Of-fenbarung in jüdischer und christlicher Liturgie (Studien zu Judentum und Christentum) Paderborn: Schöningh 2010; ich greife im Folgenden Einzelaspekte aus meiner Habilitati-onsschrift auf und entwickle sie weiter.

kanonischen Texten sowie in den Traditionen der christlichen Kirchen finden. Sie wurzeln in der fundamentalen christlichen Überzeugung von der endzeitlichen und endgültig ergangenen Offenbarung Gottes in Jesus Christus und der fortdau-ernden Repräsentation dieser Offenbarung durch die Kirche. Die für unser The-ma entscheidende Frage lautet: Wie ist es möglich, diese Überzeugung zu wahren, ohne das alttestamentliche und jüdische Gegenüber in seiner theologischen und glaubensgeschichtlichen Dignität zu verletzen? – Die Bearbeitung dieses Problems erfordert auf liturgischer Ebene die Untersuchung und gegebenenfalls die Revision konkreter Texte, Gesänge und weiterer Rituselemente, die eine solche Abwertung oder Ausblendung zum Ausdruck bringen. Beispielhaft ist dies ja wie bereits er-wähnt an der Karfreitagsfürbitte für die Juden durchgeführt worden.

Dafür liegen seitens der Liturgiewissenschaft bereits einige detaillierte Analysen und Vorschläge vor. So etwa Entwürfe für die explizite Erwähnung des Gottesbun-des mit Israel anstelle der unspezifischen Rede von den BunGottesbun-desangeboten Gottes an die Menschen im Vierten Hochgebet des Missale Romanum. Georg Braulik hat diesbezüglich einen konkreten Vorstoß gemacht.12 Ähnlich Heinzgerd Brakmann, der innerhalb der Interzessionen dieses Hochgebetes die Einfügung „... für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast“ vorschlägt und darüber hinaus die Schaffung eines eigenen, neuen Hochgebetes einfordert, das speziell die Heilsfunktion Israels thematisiert.13

Ein anderes Beispiel betrifft ein Detail der Leseordnung biblischer Schriften in der römisch-katholischen Liturgie, das hier Pars pro Toto für die umfangreiche und komplexe Diskussion um die Zuordnung von Altem und Neuem Testament im Gottesdienst der Kirche kurz beschrieben wird.

In der neuen Leseordnung des Pfingstfestes, genauer: im Kontext der vorabend-lichen Pfingst-Vigil, findet sich nun sinnvollerweise auch die Sinaiperikope Ex 19 im Kanon der alttestamentlichen Lesungen. Damit ist ein alter Konnex wie-der hergestellt, nämlich wie-der Zusammenhang zwischen dem jüdischen Wochenfest (Schavuot) und dem christlichen Pfingstfest. Die damit zugleich fällig gewordene theologische Zuordnung der Offenbarung der Tora am Sinai zum neutestament-lichen Pfingstwunder kommt in der Oration nach der Lesung Ex 19,3–8a.16–20 zum Ausdruck. Allerdings muss dieser Gebetstext als Rückfall in eine nicht mehr tragbare Form abwertender Typologie bezeichnet werden.14

12 Vgl. Braulik, Georg: Gott für Israel preisen. Zur Heilsprärogative Israels und zum 4. Hoch-gebet, in: Gerhards / Henrix (Hg.): Dialog oder Monolog?, 223–253.

13 Vgl. Brakmann, Heinzgerd: Foedera pluries hominibus. Anmerkungen zur Revision des Eucharistischen Hochgebets IV, in: LJ 50 (2000) 211–234.

14 Vgl. Kranemann, Daniela: Teilhabe an der Würde Israels. Anmerkungen zur Israeltheologie

Allmächtiger Gott,

im Feuer des Sinai hast du dem Mose das alte Gesetz gegeben und am Pfingstfest im Feuer des Geistes den Neuen Bund kundgetan.

Erfülle uns mit der Glut des Heiligen Geistes, den du am heutigen Tag den Aposteln gesandt hast.

Schenke dem neuen Volk Israel, das du aus allen Völkern zusammenführst, Freude an deinem ewigen Gebot der Liebe.

Darum bitten wir [...].15

Im anamnetischen Teil dieses Gebetes werden das Sinaigeschehen und die Ausgie-ßung des Geistes Gottes gemäß der Pfingsterzählung des Lukas als zwei Offenba-rungsereignisse dargestellt, von denen das Sinaigeschehen als Stiftungsereignis des

„alten Gesetzes“ und das neutestamentliche Pfingstwunder als Offenbarung des

„neuen Bundes“ gedeutet wird: Gott hat „... im Feuer des Sinai [...] dem Mose das alte Gesetz gegeben und am Pfingstfest im Feuer des Geistes den Neuen Bund kundgetan“. Im bittenden Passus des Gebetes wird dann in einer Zuspitzung die-ser Relation das Volk des neuen Bundes als „neues Volk Israel“ bezeichnet. Die-sem neuen Volk Israel, also der Kirche, wird „Freude am ewigen Gebot der Liebe“

zugedacht, womit eine letzte Gegenüberstellung – „altes Gesetz“ versus „ewiges Gebot der Liebe“ – konstruiert wird, die weder bibeltheologisch noch lehramtlich vertretbar erscheint: „Schenke dem neuen Volk Israel, das du aus allen Völkern zusammenführst, Freude an deinem ewigen Gebot der Liebe.“

Zu Recht hält Daniela Kranemann dazu fest: „Nicht nur vor dem Hintergrund der Karfreitagsfürbitte für die Juden, sondern auch im Hinblick auf die konsti-tutive Bedeutung der Tora für jüdische Identität ist eine solche Gebetstheologie nicht haltbar.“16 Daniela Kranemann hat auch auf mögliche Auswege aus einer enterbungstheologischen bzw. das Judentum abwertenden Typologie innerhalb der Liturgie hingewiesen, ohne auf die typologische Methodik gänzlich verzichten zu müssen.17 Die typologischen Zuordnungen müssten nach folgendem

Struktursche-in den Gebetstexten des Messbuches, Struktursche-in: Gerhards / Henrix (Hg.): Dialog oder Monolog?, 284–305, 298–302; dies.: „Unsere Väter, die Söhne Israels ...“. Zeitgenossenschaft von Israel und Kirche in der christlichen Liturgie – Chancen und Desiderate, in: HID 58 (2004) 45–58, 50f.

15 Ad Missam in Vigilia Pentecostes, in: Notitiae 24 (1988) 156–159.

16 Kranemann: Teilhabe an der Würde Israels, 298. Zum selben Gebet vgl. Steins, Georg:

Gegen die Bibel beten? Kritische Auseinandersetzung mit dem Wortlaut und Inhalt liturgi-schen Betens anhand eines Beispiels, in: Gottesdienst 30 (1996) 153–155.

17 Vgl. Kranemann: Teilhabe an der Würde Israels, 300–302.

ma gestaltet sein: „wie einst – so auch heute“; bzw. „wie an ihnen – so auch an uns“.18 Dafür gibt es übrigens sowohl biblische als auch liturgische Vorbilder aus jüdischen wie christlichen Kontexten. Ich füge einen konkreten Vorschlag für eine Revision des Gebetstextes an:

Allmächtiger Gott,

wie du im Feuer des Sinai dem Mose die Tora für dein Volk Israel gegeben hast,

so hast du am Pfingstfest im Feuer des Geistes deinen Bund besiegelt.

Erfülle uns mit der Glut des Heiligen Geistes,

den du am heutigen Tag den Jüngerinnen und Jüngern gesandt hast, und schenke auch uns die Freude am ewigen Gebot der Liebe.

Darum bitten wir [...].

Liturgische Gesänge und Gebete, die weiterhin entweder explizit oder in ihren bestimmenden Rezeptionssträngen eine den jüdischen Glaubensweg diskriminie-rende Konnotation aufweisen,19 sollten u. a. mit Hilfe dieses Schemas konsequent revidiert werden.

Auf diesem Weg ist es möglich, Partnerschaft und Zeitgenossenschaft zwischen Christ/inn/en und Juden/Jüdinnen auf ihren Bundes-Wegen zu signalisieren, und dabei gleichzeitig das jeweilige Proprium der beiden Wege zu achten, ohne verein-nahmend oder verletzend sprechen bzw. handeln zu müssen.

18 Vgl. den Hinweis von Angelus Häußling, dass eine solche Redeweise in liturgischen Ora-tionen der lateinischen Tradition bereits vertreten ist: „sicut […] ita et nos/wie diese […]

so auch wir“. Häußling, Angelus A.: Gemeinschaft aus Identität der Erfahrung, in: Klö-ckener, Martin / Kranemann, Benedikt / Merz, Michael B. (Hg.): Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche (LQF 79)

so auch wir“. Häußling, Angelus A.: Gemeinschaft aus Identität der Erfahrung, in: Klö-ckener, Martin / Kranemann, Benedikt / Merz, Michael B. (Hg.): Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche (LQF 79)