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Theologische und hermeneutische Inspirationen durch den jüdisch-christlichen Dialog

Ein persönlicher Blick Gerlinde Baumann

1. Erfahrungen

Zunächst möchte ich dem Wunsch nach einem „Erfahrungsbericht“ hinsichtlich der Berührungen mit dem jüdisch-christlichen Dialog nachkommen, bevor Vertie-fungen an zwei Punkten (2. und 3.) sowie ein kurzes Fazit (4.) folgen.

Exegetisch „in die Wiege gelegt“ war mir eine jüdisch-christliche Auslegungs-perspektive nicht. Bei einer exegetisch eher konventionellen historisch-kritischen Ausbildung in den 1980er-Jahren an den evangelisch-theologischen Fakultäten in Tübingen und Hamburg haben jüdisch-christliche Fragen kaum eine Rolle ge-spielt. Erst während der Promotionsphase bin ich im Rahmen der Mitarbeit im Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt erstmals mit jüdisch-feministischer Herme-neutik in Berührung gekommen, und zwar in Gestalt des Entwurfs von Judith Plaskow.1 Eine weitere bestimmende Diskussion dieser Jahre war die Auseinan-dersetzung mit dem Vorwurf des Antijudaismus in der deutschen feministischen Theologie und Exegese. Diese Auseinandersetzung hat auch Spuren in der Arbeit des Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekts hinterlassen. So hat sie ihren Niederschlag im programmatischen Einleitungsartikel des Forschungsprojekts im Band „Femi-nistische Hermeneutik und Erstes Testament“ gefunden.2 Es folgte eine Einladung, am Band „Von der Wurzel getragen“ mitzuwirken, den Marie- Theres Wacker und Luise Schottroff 1996 herausgegeben haben.3 Hierbei habe ich mich erstmalig als

1 Plaskow, Judith: Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie, Luzern: Exodus 1992.

2 Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt: Feministische Hermeneutik und Erstes Testament in:

Hedwig Jahnow u. a.: Feministische Hermeneutik und Erstes Testament. Analysen und Interpretationen, Stuttgart: Kohlhammer 1994, 9–25, v. a. 20–22.

3 Marie-Theres Wacker / Luise Schottroff (Hg.): Von der Wurzel getragen. Christlich-feministi-sche Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus (BIS 17), Leiden: Brill 1996; darin mein Beitrag: „Zukunft feministischer Spiritualität“ oder „Werbefigur des Patriarchats“? Die Bedeu-tung der Weisheitsgestalt in Prov 1–9 für die feministisch-theologische Diskussion, 135–152.

Exegetin begriffen, die sich eigenständig innerhalb eines von jüdisch-christlichen Überlegungen geprägten Diskussionskontexts bewegt.

Bei einer Tagung zu diesem Band bin ich wohl zum ersten Mal Athalya Brenner begegnet, die mich als Person und von ihren Positionen her sehr beeindruckt hat.

Erneut habe ich sie 2004 auf der „Österreichischen Christlich-Jüdischen Bibelwo-che“ in Graz zur „Frau Weisheit“ getroffen. Bei dieser Tagung haben auch andere persönliche Begegnungen bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen; so etwa mit der damals bekanntesten evangelischen feministischen Theologin Österreichs, Evi Krobath, sowie mit Richard Ames, dem Opernsänger und Kantor der jüdischen Gemeinde Graz, die leider beide bald danach viel zu früh verstorben sind.

Einen entscheidenden „Schub“ bekam meine Auseinandersetzung mit jü-disch-christlichen Themen durch die 2003 begonnene Arbeit an der „Bibel in ge-rechter Sprache“: In zahlreichen Gesprächen und Diskussionen wurde mir bereits Bekanntes vertieft, aber auch Neues angeschnitten. Eine wichtige Rolle spielte der Versuch, beim Gottesnamen oder der Benennung Gottes jüdisch-christliche und feministisch-theologisch inspirierte Gedanken miteinander zu vereinbaren. Auch die umfassendere Perspektive der „Gerechtigkeit im Hinblick auf den christlich-jü-dischen Dialog“4 scheint mir für eine Bibelübersetzung nach wie vor sehr loh-nend zu sein.

Durch diesen Lernprozess während der Arbeit an der „Bibel in gerechter Spra-che“ ist bei mir ein Verständnis des Neuen Testaments als eines Textkorpus erwach-sen, das vor allem einen Blick auf den Entstehungsprozess des frühen Christentums gewährt. In diesem historischen Rahmen sind wohl die hochproblematischen, anti-judaistisch klingenden Texte wie z. B. Mt 27,25; Joh 8,44; 1 Thess 2,14–16 oder Offb 2,9 zunächst einmal als Ausdruck eines innerjüdischen Streits beziehungsweise des

„Geschwisterstreits“ zu betrachten. Zum christlichen Umgang mit diesen Texten klingen mir auch noch die Worte Micha Brumliks auf einer der vorbereitenden Arbeitstagungen zur „Bibel in gerechter Sprache“ im Ohr: Auf die Frage, welche Vorschläge für eine nicht-antijudaistische Auslegung dieser neutestamentlichen Texte er denn von jüdischer Seite machen würde, reagierte er mit dem augenzwin-kernden Abweis, dass es schon „unsere“ Aufgabe sei – also die der ChristInnen –, uns mit „unserem“ Antijudaismus auseinanderzusetzen.

In den Jahren vor und nach dem Erscheinen der „Bibel in gerechter Sprache“ im Jahr 2006 habe ich zahlreiche Vorträge zu diesem Projekt vor unterschiedlichem Publikum gehalten. Ich muss leider sagen, dass mir hierbei mit Ausnahme

eini-4 Bail, Ulrike u. a. (Hg.): Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 10f.

ger weniger Male durchgängig antijudaistische Stereotype begegnet sind. Dadurch ist mir stärker zu Bewusstsein gekommen, dass ein Ansatzpunkt für eine Beschäf-tigung mit dem Antijudaismus in breiteren Kreisen – vor allem der kirchlichen Öffentlichkeit – wohl zunächst die Auseinandersetzung mit dem innerchristlichen Antijudaismus sein müsste, der auf einem bestimmten Verständnis des Neuen Tes-taments beruht – als eines Dokuments, in dem sich „die Christen“ „den Juden“

gegenübersehen, wobei die späteren historischen Konflikte in die Entstehungszeit des Neuen Testaments rückprojiziert werden. Hier bleibt meiner Wahrnehmung nach an der kirchlichen Basis noch viel zu tun.

Ähnliche Erfahrungen wie die gerade geschilderten habe ich in Vorträgen ge-macht, in denen ich versucht habe, breitere Kreise mit meinen hermeneutischen Leitlinien zum Verstehen von Gottesbildern der Gewalt im Alten Testament vertraut zu machen:5 Auch hier gab und gibt es in den meisten Diskussionsrunden mindes-tens eine Person, die sich zu Wort meldet und kundtut, dass doch der gewalttätige Gott des Alten Testaments (gerne auch als „jüdischer Gott des Alten Testaments“

bezeichnet) im Neuen Testament durch den Gott Jesu als den Gott der Liebe abge-löst und damit überwunden sei, und dass also „wir“ ChristInnen mit diesem „alttes-tamentarischen“ Gott kein Problem mehr hätten. Nicht erst dadurch ist mir bewusst geworden, dass beim christlichen Umgang mit problematischen Gottesbildern im Alten Testament sehr häufig Deutungsmuster greifen, die – vorsichtig gesagt – eine große Nähe zu antijudaistischen Denkweisen aufweisen (dazu siehe unten in Teil 3).

Die Erfahrungen aus diesen Vorträgen und Diskussionen mit „normalen“ Ge-meindechristInnen haben mich zunächst dazu bewogen, in einem populärwissen-schaftlich gehaltenen Buch zur Bibel auch einen Schwerpunkt darauf zu legen, wie problematisch die gängigen christlichen Verstehensweisen des Neuen Testaments sind, und Wege aufzuzeigen, wie das Neue Testament anders als antijudaistisch ausgelegt werden kann.6 Dieses Buch habe ich mit auslegungsgeschichtlichem und hermeneutischem Schwerpunkt angelegt, wobei ich nicht nur christliche Ausle-gungsrichtungen mit ihren Fragen behandle, sondern auch jüdische; das Gespräch mit der Schwesterreligion sehe ich nach wie vor als Notwendigkeit und Bereiche-rung jeder christlichen Beschäftigung mit der Auslegung der Bibel an.7

Bei den Vorarbeiten zu diesem Buch habe ich die Parallelität und Unterschied-lichkeit der jüdischen und christlichen Auslegungsgeschichte und Hermeneutik als 5 Dazu siehe die Monographie: Baumann, Gerlinde: Gottesbilder der Gewalt im Alten

Tes-tament verstehen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006.

6 Baumann, Gerlinde: Die Bibel. Wissen was stimmt (Herder spektrum 5955), Freiburg:

Herder 2008, v. a. 105–111.

7 Z. B. ebd., 48–50, 84–90.

interessantes Arbeitsgebiet entdeckt. Daraus hervorgegangen ist meine Vorlesung über „Biblische Hermeneutik“ bzw. „Hermeneutik des Alten Testaments“, die ich an unterschiedlichen Orten in Deutschland und Österreich gehalten habe und hal-ten werde.

Aus diesem „Bündel“ schriftlicher und mündlicher Auseinandersetzungen habe ich für meine Tätigkeit als Forscherin, Autorin, Dozentin und Referentin im Blick auf das Gespräch zwischen Christentum und Judentum folgende Schlüsse gezogen:

Zunächst halte ich es für dringlich, Antijudaismus und antijudaistische Denkwei-sen schon im Bereich der Hermeneutik zu thematisieren und ihnen so bereits bei der Klärung des Verstehens und der Verstehensbedingungen der Bibel entgegenzutre-ten. Dabei scheint es mir wichtig, möglichst aufklärend und unter Rückgriff auf historische Informationen vorzugehen. Hierbei sollten meines Erachtens vor allem folgende zwei Punkte thematisiert werden:

• Bei der Auseinandersetzung mit der Bibelauslegung sollte der Ausgangspunkt beim TaNaK bzw. dem Alten Testament genommen werden, mit der innerbib-lischen Auslegung als Beginn aller späteren Auslegung, und mit diesem Korpus als gemeinsamer und im weiteren Sinne autoritativer Schrift. Das Alte Testa-ment erscheint so für den christlichen Blick als „die Bibel“ der sich herausbil-denden frühen Kirche. Die Schriften, die später das Neue Testament bilden, gehören so zunächst einmal zur Gattung der Auslegungsliteratur. Dabei stellen jüdische und christliche Auslegungen zwei mögliche Bezüge auf ein in weiten Teilen übereinstimmendes Schriftkorpus dar.

• Essentiell ist der Hinweis auf historische Parallelentwicklungen und Begeg-nungen zwischen jüdischer und christlicher Auslegung seit den Anfängen, über die Jahrhunderte und bis heute (siehe unten Teil 2 im Anschluss). Dabei sollte das Potenzial betont werden, das den Begegnungen miteinander inne-wohnt, ohne die Auseinandersetzungen zu verschweigen, die eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung vor allem der christlichen Identität gespielt haben und spielen.

Diese Gedanken sollen nun noch einmal in zwei Punkten vertieft werden: erstens an der Schrifthermeneutik und zweitens am Thema des Gottesbildes.

2. Schrifthermeneutik

Wie sich die Früchte des christlich-jüdischen Dialogs und der entsprechenden For-schungen zur Schrifthermeneutik erschließen lassen, möchte ich am Beispiel einer überblickshaften Lehrveranstaltung zur Bibelauslegung oder zur Biblischen Her-meneutik erläutern. Neben hermeneutischen Positionen verschiedener christlicher

Konfessionen sollte dabei selbstverständlich auch jüdische Schrifthermeneutik in Grundzügen behandelt werden.8

Wichtig erscheint mir der Hinweis auf die – bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen – vorhandenen Parallelen zwischen der christlich-antiochenischen bzw.

jüdisch-frührabbinischen Exegese einerseits (mit der Betonung des Literalsinns) und der christlich-alexandrinischen bzw. frühjüdisch-hellenistischen Exegese (mit dem Schwerpunkt auf der allegorischen Auslegung). Entsprechend zu betonen wäre für das Mittelalter die Parallelität zwischen (jüdischem) PaRDeS und (christ-lichem) vierfachem Schriftsinn.9

Illustrieren lässt sich die lange Geschichte des Austauschs zwischen JüdInnen und ChristInnen durch den Hinweis auf punktuelle Begegnungen, auf den Kon-takt, die Gespräche und die Anregung zwischen den ExegetInnen. Ein Beispiel für das direkte Gespräch und die literarische Inspiration wäre etwa Origenes im 3.

Jahrhundert, dessen Anlehnung an Philo10 oder sein Gespräch mit Rabbinen11; ein anderes Beispiel wäre die Schule von St. Viktor in Paris mit ihrer Kenntnis Abraham Ibn Esras oder Raschis im 12. Jahrhundert.12 Bei diesen Bezugnahmen dürfen allerdings die jeweiligen gesellschaftlichen oder religiösen Machtverhältnis-se nicht unberücksichtigt bleiben, die den oft begrenzenden Rahmen für solche punktuellen Kontakte und „Dialoge“ gesetzt haben.

Seitdem die historisch-kritische Methode keine hegemoniale Position mehr im christlichen Methodendiskurs beanspruchen kann, ist nicht nur eine Pluralisierung im Bereich der Bibelauslegungsmethoden zu beobachten, sondern auch bei der Schrifthermeneutik. Dadurch werden Seitenblicke auf jüdische Auslegungen und Gespräche mit zeitgenössischen jüdischen AuslegerInnen leichter und produktiver 8 Beispielsweise unter Bezug auf Dohmen, Christoph / Stemberger, Günter: Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart: Kohlhammer 1996, v. a. 23–132.

9 Hierzu vgl. ebd., 128f.

10 Siehe Signer, Michael A.: Auf der Suche nach der Schrift. Juden, Christen und das Buch, in: Ders.: Brücken bauen. Aufsätze und Vorträge zum jüdisch-christlichen Verhältnis, hg.

von Rainer Kampling / Hans Hermann Henrix / Peter von der Osten-Sacken (SKI 29), Berlin: Institut Kirche und Judentum 2013, 13–27, v. a. 21f.

11 Siehe Signer, Michael A.: Die gemeinsame Bibel lesen? Juden und Christen 25 Jahre nach der Erklärung der Rheinischen Synode von 1980. Auf dem Weg zu einem neuen Verhältnis zwischen Juden und Christen, in: ebd., 397–407, v. a. 403.

12 Dazu siehe mehrere Beiträge von Michael A. Signer im eben genannten Band: Die Erneuerung der Erzählung. Jüdische und christliche Exegese im 12. Jahrhundert, 29–45; Polemik und Exe-gese. Spielarten der Hebraistik im 12. Jahrhundert, 47–59; Rabbi und Magister. Überschnei-dungen zwischen Denkmodellen in der „Renaissance des 12. Jahrhunderts“, 61–85; sowie: Trös-tung und Streit. Jüdische und christliche Auslegungen der Prophetenbücher, 127–144.

möglich. An dieser Stelle möchte ich zwei ForscherInnen nennen, die für mich prägend gewesen sind. Zum einen ist dies Athalya Brenner mit ihren vielfältigen feministisch-theologischen Inspirationen, auch und vor allem durch das Projekt des „Feminist Companion of the Bibel“, in dem sie und andere Forscherinnen sich alttestamentlichen Texten unter unterschiedlichsten methodischen und hermeneu-tischen Perspektiven genähert haben.13 Zum anderen ist dies Michael Fishbane mit seiner „innerbiblical exegesis“14. Eine solche Betrachtung der Texte kann einen Anstoß dazu geben, den hierzulande immer noch stark diachron geprägten Blick auf die Texte hinter sich zu lassen, der vor allem nach „Brüchen“ in den Texten sucht. Gerade für späte Texte ist häufig mit der Möglichkeit von Anspielungen, intertextuellen Verknüpfungen oder insgesamt mit innerbiblischer Exegese zu rech-nen. Besonders gut verdeutlichen ließe sich das am Beispiel der „Gnadenformel“ in Ex 34,6f. und ihren zahlreichen alttestamentlichen Modifikationen.15

Eine Faszination geht von jüdischer Exegese aus, wenn hier die alttestament-lichen Texte als Quelle unerschöpflich vieler Auslegungen und „Weisheiten“ be-trachtet werden. Diese Perspektive bildet einen anregenden Kontrast zum christ-lich-dogmatischen Bemühen, den biblischen Texten möglichst nur eine Bedeutung zuzuschreiben. Der jüdische Blick, der tendenziell eher eine Pluralität von Textbe-deutungen zulässt, scheint den heutigen Erkenntnissen literaturwissenschaftlicher und philosophischer, poststrukturalistischer oder postmoderner Diskussionen eher zu entsprechen.16 Hier würde ich mir für den christlichen Kontext mehr Mut

wün-13 Dazu siehe Brenner, Athalya (Hg.): A Feminist Companion to the Bible, Sheffield: Shef-field Academic Press bzw. T&T Clark 1993–2001; insgesamt 19 Bände in zwei Reihen, da-von drei Bände gemeinsam mit Carole R. Fontaine herausgegeben.

14 Fishbane, Michael: Inner-Biblical Exegesis. Types and Strategies of Interpretation in An-cient Israel, in: Ders.: The Garments of Torah. Essays in Biblical Hermeneutics, Blooming-ton: Indiana University Press 1989, 3–18; von ihm dazu auch: Inner-Biblical Exegesis, in:

Sæbø, Magne u. a. (Hg.): Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation.

1: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300). Teil 1: Antiquity, Göttingen: Van-denhoeck & Ruprecht 1996, 33–48.

15 So z. B. in: Fishbane, Michael: Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford: Clarendon 1985, 335–350; sowie auch: Spieckermann, Hermann: „Barmherzig und gnädig ist der Herr

…“, in: ZAW 102 (1990) 1–18 (Nachdruck in: Ders.: Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments [FAT 33], Tübingen: Mohr Siebeck 2001, 3–19); sowie:

Franz, Matthias: Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stutt-gart: Kohlhammer 2003.

16 Dies führt Marianne Grohmann aus: Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Re-zeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2000, v. a. 231–249.

schen, auch dogmatisch unbequeme und plurale exegetische Ergebnisse zuzulassen, und mehr Zutrauen dazu, dass sich solche Ergebnisse auch systematisch-theolo-gisch einholen ließen.

Natürlich gehört zu einer vom jüdisch-christlichen Dialog inspirierten Bibelher-meneutik auch eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Altem und Neu-em Testament beziehungsweise ein neuer Denkansatz im Hinblick auf das christli-che Verständnis des Alten Testaments. Hier schristli-cheinen mir besonders drei Gedanken produktiv zu sein:

Erstens hat Jürgen Ebach bereits 2002 für den christlichen Blick auf das Alte Tes-tament einen Wechsel der hermeneutischen Perspektive vorgeschlagen. Und zwar dergestalt, dass sich ChristInnen nicht mehr länger selbst (als „Kirche“) an die Stelle Israels setzen, sondern sich bei den Menschen außerhalb Israels in der Perspektive des Alten Testaments verorten. In Ebachs Worten lautet der Vorschlag, „nach dem Ort [zu] fragen, der Menschen außerhalb Israels in der Perspektive der hebräischen Bibel selbst und ihrer jüdischen Lektüregeschichte eingeräumt wird“17. Auch hier wird die Frage der Identität angesprochen, die für das Verhältnis zwischen Christen-tum und JudenChristen-tum so lange bedeutsam war und ist. Ebach beantwortet diese Frage eben nicht durch den bekannten wie unguten Modus des Ersetzens, sondern regt zu einer neuen Positionierung heutiger ChristInnen durch eine neue innertextliche Selbstverortung im Alten Testament als NichtisraelitInnen an.

Eine zweite hilfreiche Anregung für eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Altem und Neuem Testament sehe ich in Frank Crüsemanns Verwendung der Me-tapher des „Wahrheitsraums“, den das Alte Testament für das Neue bildet. Dieser Raum könnte offen gehalten werden auch für jüdische Auslegungen des Textes, denen dann ein gleiches Recht zukommt wie den christlichen.18

Ein dritter Versuch könnte darin bestehen, neu damit Ernst zu machen, dass sich Judentum und Christentum sowie Altes und Neues Testament schwerpunkt-mäßig um das Handeln Gottes an der Welt und den Menschen drehen – nicht im Sinne einer Vereinheitlichung von jüdischer und christlichen Botschaft, son-dern als gemeinsame Basis, auf die sich aufbauen ließe, und von der aus dann die unterschiedlichen Botschaften entfaltet werden könnten. In diese Richtung einer

17 Ebach, Jürgen: Hören auf das, was Israel gesagt ist – hören auf das, was in Israel gesagt ist. Perspektiven einer „Theologie des Alten Testaments“ im Angesicht Israels, in: EvTh 62 (2002) 37–53, 43f.

18 Crüsemann, Frank: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011.

stärkeren Theozentrik gehen beispielsweise Erich Zenger19 oder Bernhard Lang.20 Letzterer schlägt vor:

Will man dem AT gerecht werden, dann ist die theologische Voraussetzung zu än-dern. An die Stelle der ‚Christus-allein-Theologie’, die man als Christomonismus bezeichnet, muss die ‚Gott-und-Christus-Theologie’ treten. Diese würdigt die Ge-schichte Israels als Raum echter und vollgültiger Gotteserfahrung und entsagt je-ner einseitigen Betonung des NT, für die ich in Amerika den treffenden Ausdruck

‚Neutestamentismus’ gehört habe. Der neue Standpunkt erlaubt eine ungezwungene Auslegung des AT und verpflichtet den Theologen nicht, in alle Texte Christus ‚hi-neinzulegen’ oder sie vom NT her abzuwerten. Er macht eine Lektüre des AT ohne Christus nicht mehr zu einer Lektüre gegen ihn […].21

Diesem Problemkreis, der Frage nach Gott, soll nun im dritten Teil meiner Aus-führungen die besondere Aufmerksamkeit gelten.

3. Theologische Inspirationen, oder: die Frage nach Gott

Wie schon erwähnt habe ich mich intensiver mit den „Gottesbildern der Gewalt im Alten Testament“ auseinandergesetzt. In meiner Monographie von 2006 habe ich mich darum bemüht, Verstehensmodelle für diese problematischen Gottesvor-stellungen zu finden.22 Ich habe bereits angedeutet, dass mir in Vorträgen und auch stellenweise in der Literatur Deutungsmuster begegnet sind, die sich als antijudais-tisch bezeichnen lassen. Das geläufigste Denkmuster lautet dabei: Als ChristInnen haben „wir“ doch mit solchen Gottesbildern kein großes Problem, weil „uns“ doch Jesus Christus die Botschaft von seinem Vater, dem Gott der Liebe, gebracht hat – und damit den „alttestamentarischen“ Gott der Gewalt, des Zorns und der Rache überwunden hat. Dieses Denkmuster trägt deutliche Züge einer Überwindungs-23 oder Substitutionshermeneutik24. Erich Zenger beschreibt dieses Verstehensmodell 19 Zenger, Erich: Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart: Kohlhammer 31995, 21 (spätere

Auflagen passim).

20 Lang, Bernhard: Die Bibel. Eine kritische Einführung, Paderborn: Schöningh 21994, 217.

21 Ebd.

22 Baumann: Gottesbilder der Gewalt.

23 Vgl. ebd., 74f.

24 So bei Zenger, Erich: Heilige Schrift der Juden und der Christen, in: Ders. u. a.: Einlei-tung in das Alte Testament, Stuttgart: Kohlhammer 52004, 12–35, 17f.; sowie bei Michel, Andreas: Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament (FAT 37), Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 4.

des Alten Testaments so, dass es durch „den Atem jenes ‚teaching of contempt’

[gekennzeichnet ist], der ein Aspekt jener fatalen theologischen Judenfeindschaft ist, die einer der Auslöser des rassischen Antisemitismus war“.25 Denn der Verweis auf das Neue Testament als mögliche „Lösung“ des Problems göttlicher Gewalt-tätigkeit im Alten Testament birgt die Gefahr, dass das Judentum aus christlicher Perspektive mit diesem Problem behaftet bleibt.26 Die Frage nach den gewalthaften Zügen Gottes in der Bibel wird durch die Ausgliederung bzw. „Judaisierung“ des Alten Testaments quasi „entsorgt“. Das Problem mit den Gottesbildern der Gewalt im Alten Testament ist dann nicht mehr „unser“ christliches, sondern „deren“ jü-disches Problem.

Varianten dieses Deutungsmodells finden sich öfter in christlichen Auslegun-gen von Texten, in denen Gott als Gewalttäter erscheint. Zur Vermeidung solcher Deutungsstrategien möchte ich an dieser Stelle zwei hermeneutische Strategien vorschlagen: Einmal eine Strategie der Ehrlichkeit, nach der zunächst auch einmal

Varianten dieses Deutungsmodells finden sich öfter in christlichen Auslegun-gen von Texten, in denen Gott als Gewalttäter erscheint. Zur Vermeidung solcher Deutungsstrategien möchte ich an dieser Stelle zwei hermeneutische Strategien vorschlagen: Einmal eine Strategie der Ehrlichkeit, nach der zunächst auch einmal