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Verwendungen auf der normativen Ebene

B. Konkrete Befunde: Wikipedia im Prozess richterlicher Informationsgewinnung

II. Verwendungen auf der normativen Ebene

Zur semantischen Klärung diese Wertung nutzt das BpatG in aller Regel auch und vornehmlich Wikipedia.34

4.3 Im Wettbewerbsrecht sind es die Fälle, in denen es bei „geschäftlichen

Handlungen“ um die Frage geht, ob die Verwendung eines Begriffes, einer Bezeichnung oder einer Ortsangabe irreführend ist. Die Gerichte ziehen dann auch hier allein oder neben anderen Lexika Wikipedia zu Rate, um die Grenze zwischen einer noch vertretbaren und einer irreführenden Verwendung zu ermitteln. Genannt seien etwa die Verwendung des Begriffs „Stadtwerke“ in der Firma eines privaten überörtlichen Gasversorgers35, die Bezeichnung maßkonfektionierter Bekleidung als „Maßhemd“ und „maßgeschneiderte Hemden“36, Verwendung der Bezeichnung „Kundenanwalt“ in der Werbung einer Versicherungsgesellschaft37 oder das Wort „Textilleder“ für Kunstleder.

• Die Bezeichnung „Himalaya Salz“ für ein Steinsalz ist als schutzfähige geografische Herkunftsangabe im Sinne des § 126 Abs. 1 MarkenG zur Irreführung des Verbrauchers geeignet, wenn das Salz nicht im Bereich des Himalaya-Hochgebirgsmassivs …

abgebaut wird. … Die Annahme einer Fehlvorstellung des Verbrauchers über den Herkunftsort eines „Himalaya Salzes“ wird im Übrigen indiziell durch den von der Beklagten vorgelegten „Wikipedia“-Ausdruck gestützt, in dem ausgeführt wird:

„Anders als der Name nahelegt, stammt das Salz nicht aus dem Himalaya-Gebirge, sondern…“.38

„Wortlaut, Wörterbuch und Wikipedia – wo findet man die Wortlautgrenze?“ – die alte methodische Streitfrage um die Wortlautgrenze, die H. Kudlich und R. Christensen mit diesem Titel nochmals aufgriffen und die hier nicht rekapituliert werden kann, hatte sich an der Frage entzündet, ob Zahngold noch dem Begriff der „Asche“ i. S. d. § 168 StGB unterfällt oder nur „in der Asche“ liegt, selbst aber keine solche darstellt.39 Die u. a. von den OLGs Bamberg40 und Nürnberg41 sowie vom BGH42 hierzu ergangenen

Entscheidungen haben sich allerdings nur auf den Duden, den Brockhaus und Meyers Enzyklopädisches Lexikon gestützt – nicht auf Wikipedia. Entscheidungen, die demgegenüber für die Wortinterpretation ausdrücklich auf die offene Enzyklopädie zurückgreifen und zugleich ein besonderes methodisches Interesse beanspruchen können, hat die Recherche nicht ergeben.43

Die gefundenen Beispiele sind entsprechend unspektakulär. So hat das VG Regensburg seine Feststellung, dass die Wildschweinehaltung der Kläger nicht genehmigungsbedürftig sei, damit begründet, dass weder „Tierzucht“ noch „Tiermast“ vorliege und sich dabei für die Auslegung des letzteren Begriffs auf Wikipedia gestützt.44 In der

Argumentationsstruktur ähnlich das OLG Dresden für seine Entscheidung, dass das Verbot des Reitens außerhalb hierfür ausgewiesener Waldwege nach dem Sächsischen Waldgesetz nicht das Führen von Pferden am Zügel erfasst; für das, was nach allgemeiner Auffassung unter dem Wort „Reiten“ verstanden wird, hat es Duden online und Wikipedia zitiert.45 Näher, weil sie ein allgemeineres methodisches Problem deutlich werden lässt, ist in diesem Zusammenhang nur auf eine Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs Schleswig zu § 15 Fachanwaltsordnung einzugehen:

Zu beurteilen war, ob die Veröffentlichungen eines Fachanwalts für Familienrecht in der Fachzeitschrift "der Familienrechts-Berater" in Form von Urteilsanmerkungen

wissenschaftliche Publikationen i.S.d. § 15 FAO darstellen. Dazu des

Anwaltsgerichtshofes: „Sie erfüllen auch den Begriff <<wissenschaftlich>> im Sinne von § 15 FAO. Zum Begriff der „wissenschaftlichen Publikationen“ finden sich Definitionen im

39 Kudlich/Christensen, JR 2011, 146-151.

40 OLG Bamberg, Urteil vom 29. Januar 2008 – 2 Ss 125/07 –, juris.

41 OLG Nürnberg, Beschluss vom 20. November 2009 – 1 St OLG Ss 163/09 –, juris.

42 BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 5 StR 71/15 –, BGHSt 60, 302-308.

43 Weder unter den Stichworten „Wikipedia“ und „Wortauslegung“ noch für „Wikipedia“ und

„Wortlautgrenze“ ergaben sich relevante Treffer; juris-Recherche am 2017-02-03.

44 VG Regensburg, Urteil vom 24. November 2016 – RN 5 K 15.1278 –, Rn. 27, juris; ergänzend auch auf Duden-Online.

45 OLG Dresden, Beschluss vom 10. September 2015 – OLG 26 Ss 505/15 (Z) –, juris.

Internet bei <<Wikipedia>>, einer dort allgemein zugänglichen Enzyklopädie. Danach ist eine wissenschaftliche Publikation eine schriftliche Arbeit von einem oder mehreren Wissenschaftlern. Eine solche Arbeit muss formalen und inhaltlichen Kriterien genügen, um zur Veröffentlichung akzeptiert zu werden. Wissenschaftliche Publikationen können danach auch als Artikel in Fachzeitschriften erscheinen, als - im Vergleich etwa zu Büchern - weniger umfangreiche Beiträge, die oft neue Resultate für ein Fachpublikum

präsentieren.“ Dem folgen weitere Zitate aus dem Wikipediaartikel und ein Zitat aus dem Bescheid und daran anschließend: „Diese Ausführungen decken sich auch mit der

Formulierung des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 35, Seite 79 ff., 113), dass Wissenschaft alles ist, „was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist …“ Zu der in der Literatur vertretenen Meinung, dass Urteils- und Buchbesprechungen grundsätzlich nicht (als wissenschaftliche Publikationen) akzeptiert werden können, findet sich dann nur die Feststellung, diese Auffassung „ist mit der obigen Definition des Wissenschaftsbegriffs unvereinbar“.46

Dieser, hier etwas verkürzt dargestellte Gedankengang soll nun nicht als Grundlage für eine Diskussion um das richtige Ergebnis dienen. – Der BGH hat für einen nur auf der eigenen Homepage veröffentlichten Fachbeitrag entschieden, dass dieser keine wissenschaftliche Publikation darstellt, mit der ein Fachanwalt seine Fortbildungspflicht erfüllen kann.47– Entscheidend ist die unzureichende Methodik, zu der Recherchen im Netz verführen:

Kollage von Zitaten aus Wikipedia und anderen Quellen können zu vielen Aspekten eines Begriffes führen48, aber sie führen nicht zu der Definition eines Rechtsbegriffes, zu dem jeder Begriff wird, wenn er im Kontext einer Norm zu interpretieren ist49. Welchen

formalen und inhaltlichen Kriterien eine wissenschaftliche Publikation genügen muss, lässt sich also nicht abstrakt von einem lexikalischen Wissenschaftsbegriff aus bestimmen, sondern nur in Rückkoppelung mit dem konkreten Normzweck.50 Zu ermitteln ist nicht eine kontextunabhängige Bedeutung, sondern nur der Begriff „wissenschaftlich“ im Sinne von § 15 FAO.

46 Anwaltsgerichtshof Schleswig, Beschluss vom 14. Dezember 2005 – 2 AGH 9/05 –, Rn. 17- 21, juris.

47 BGH, Urteil vom 20. Juni 2016 – AnwZ (Brfg) 10/15 –, juris.

48 Zitiert wurde in dem Beschluss des Anwaltsgerichtshofes auch ausführlich aus dem Kommentar von Maunz-Dürig zur Lehrfreiheit.

49 Näher dazu Strauch, Methodenlehre, S. 356 ff.

50 Das wird verkannt, wenn ausgeführt wird: Abgrenzungskriterium kann insoweit nach Auffassung des Senates nur sein, ob ein Beitrag die Definition des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, dass er sich „nach Form und Inhalt als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit“ oder der Belehrung darstellt.

Daran bestehen jedoch durchgreifende Zweifel nicht.“ Anwaltsgerichtshof Schleswig, Rn. 24, juris.

C Wikipedianutzung: Trends und prozessrechtliche Vorgaben

Wenn Greger in seinem Aufsatz „Der surfende Richter“ das Fazit zieht: „Das Internet eröffnet der Sachverhaltsfeststellung im Prozess völlig neue Dimensionen.“51 dann stellt sich für den Juristen natürlich die Frage, ob die so eröffneten Wege auch rechtlich gangbar sind (II). Zuvor seien jedoch die drei Trends genannt, die diese Dimensionen wesentlich bestimmen: