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Gerichte nutzen Wikipedia! Dieser Satz beschreibt weder eine neue Erkenntnis, noch weist er auf ein Einzelphänomen hin, dem sich das Recht verschließen könnte oder das es

kategorisch bekämpfen müsste. Allein die in den großen juristischen Datenbanken nachweisbaren Entscheidungsfundstellen, bei denen Gerichte auf Wikipedia

zurückgegriffen haben, liegen im Tausenderbereich. Weitaus größer dürfte zudem die Dunkelziffer in nicht veröffentlichten Entscheidungen sein. Das Prozessrecht steht daher vor der Aufgabe, den Spagat zwischen der Akzeptanz neuer (zeitgemäßer)

Informationsquellen und der Notwendigkeit einer richtigen und seriösen richterlichen Entscheidungsbegründung zu schaffen. Dabei ist es jedoch nicht Aufgabe der Enzyklopädie Wikipedia, die niemals für diesen Zweck konzipiert war, ihre Tauglichkeit als richterliche Informationsquelle zu beweisen. Vielmehr müssen Juristen lernen, mit den Besonderheiten und insbesondere den unterschiedlichen Seriositätsstufen von Onlinequellen umzugehen.

Das ist mit den vorhandenen Rahmenbedingungen des Prozessrechts möglich. Allgemein zugängliche Informationen – zu denen die Inhalte von Wikipedia-Artikeln zählen – sind allgemeinkundig im Sinne von § 291 ZPO, wenn sie ohne besondere Sachkenntnis verständlich sind und zuverlässigen Quellen entstammen. Das bedeutet zum einen, dass Wikipedia-Artikel – wie bisher auch die Inhalte traditioneller Lexika – als Quelle

allgemeinkundiger Informationen geeignet sind, soweit sie „einfache“ Informationen wie etwa Begriffserklärungen oder statistische Werte wiedergeben. Komplexe Zusammenhänge

57 Vgl. dazu Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018).

58 Möllers, juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 6. Aufl. 2012, Rn. 503.

sind dagegen nicht erfasst. Die größte Schwierigkeit besteht aber in der Beantwortung der Frage nach der Zuverlässigkeit von Wikipedia-Inhalten. Wie bei traditionellen

Enzyklopädien kann sich diese nicht auf den Einzelartikel beziehen, sondern muss sich an der Vertrauenswürdigkeit des Gesamtwerks orientieren. Ist diese gegeben, strahlt sie als Indiz auf den Einzelartikel aus. Diese Frage zu beantworten ist Aufgabe der betroffenen Fachdisziplinen, deren Bewertung dem Rechtsanwender Sicherheit im Rückgriff auf Wikipedia verschaffen kann. Ist die Grundfrage nach der Zitierfähigkeit (positiv) beantwortet, steht der Richter zudem vor der Herausforderung, sich auch bei seiner

Zitierweise an die Besonderheiten des Internets anzupassen. Hierbei liefert Wikipedia durch die Versionsgeschichte der Artikel ein entscheidendes Mittel, um das Vertrauen in die Beständigkeit des gelesenen Onlinetextes zu stärken.

Prof. Dr. Joachim Strauch, Präsident des OVG Thüringen a. D.

Wandel in der Rechtsprechung durch Wikipedia?

Vor 10 Jahren hatte ich auf dem 15. Deutschen Verwaltungsrichtertag in Weimar die Frage nach einem Wandel des Rechts durch juristische Datenbanken gestellt.1 Was ich damals noch als Frage formuliert habe – heute ist der Wandel nahezu evident. Und dieser Wandel betrifft nicht nur die Äußerlichkeiten juristischer Arbeitsweise, wie die unvergleichlich schnellere und umfassendere Recherche. Viel entscheidender ist eine grundlegend veränderte Technik in der Erarbeitung der Falllösung. Dieser veränderten Praxis des methodischen Vorgehens entsprechend, haben sich typische Prozesse richterlicher Kognition, d. h. die der „Rechtsfindung“ – und mittelbar auch die der

Sachverhaltsermittlung – den Bedingungen und Möglichkeiten der Datenrecherche und des IT-Arbeitsplatzes angepasst.2 Vor allem in Gestalt des „Hypertext-Rechts“ erfasst der Wandel auch das Recht selbst.3

Wenn wir uns heute – wieder mit einem Fragezeichen - mit einem Wandel der Rechtsprechungspraxis durch Wikipedia beschäftigen, liegt es nahe, zunächst nach Parallelen zu fragen:

Eine erste und entscheidende Parallelität liegt augenscheinlich darin, dass der Richter das Netz zur Informationsbeschaffung nutzt. Gilt also für den Umgang der Richterinnen und Richter mit Google im Allgemeinen und Wikipedia im Besonderen ähnliches wie für die Nutzung von Datenbanken? Hinreichend präzise Antworten gibt es dazu nicht. Wie das Arbeiten der Richter im und mit dem Netz genauer aussieht, darüber lassen sich vielfach nur Vermutungen anstellen; noch haben wir, soweit ich sehe, hier keine detaillierten empirischen Untersuchungen. Wir können für unsere Überlegungen derzeit also nur auf indizielle Befunde zurückgreifen, etwa solche, die sich aus dem Datenmaterial von

„juris“ erschließen lassen.

1 Strauch, Wandel des Rechts durch juristische Datenbanken? In: Deutsches Verwaltungsblatt 16, S. 1000-1007. Auch veröffentlich in: Dokumentation 15. Deutscher Verwaltungsrichtertag, Weimar 2007. Hrsg. vom Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e.V. Stuttgart 2008, S. 45-59. – Ferner: Strauch, Litera, Bytes und Mustererkennung. Die Nutzung juristischer Datenbanken. Paradigmenwechsel in der Rechtsfindung mit unbekanntem Ausgang. In: Rüßmann, Helmut (Hrsg.): Festschrift für Gerhard Käfer. Saarbrücken, S. 387-412.

2 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens - Prozesse richterlicher Kognition.

Freiburg/München, S. 603-613.

3 Näher: Strauch, Methodenlehre, S. 356-364; 632.

Entscheidend wird dabei allerdings nicht nur die bloße Beschreibung neuer Phänomene des richterlichen Arbeitens sein –vereinfacht „juris“ statt „Palandt“ und „Wikipedia“ statt

„Brockhaus“. Was interessiert, sind nicht nur die neuen Wege der Informationsbeschaffung und –verarbeitung, sondern vor allem auch die Frage: Haben wir es deshalb auch mit neuen rechtstechnischen oder gar rechtstheoretischen Problemen zu tun?

Schon erste strukturelle Überlegungen zeigen dann allerdings bereits gravierende

strukturelle Unterschiede zwischen Wikipedia und juristischen Datenbanken auf. Sie sind bekannt und müssen im Einzelnen hier nicht dargestellt werden. Nur zwei Punkte:

1. Die Professionalität von „juris“ steht nicht zur Debatte, die von Wikipedia ist dagegen nach wie vor ein zentrales Thema und Problem und so auch ein zentraler Gegenstand dieses Symposions. Um den Rahmen meines Beitrages nicht zu sprengen, werde ich diese Problematik allerdings nur insoweit ansprechen, als es darauf ankommt, die Schnittstellen zwischen Prozessrecht und Gerichtspraxis zu markieren, bei denen die Fragen der „Verlässlichkeit“ und „Richtigkeit“ der Wikipediainformationen unmittelbar relevant werden.

2. Zu nennen ist ein weiterer Punkt, der mit dem ersten unmittelbar zusammenhängt:

Wir müssen als sicher davon ausgehen, dass es sich beim Umgang mit Wikipedia ähnlich verhält, wie häufig beim Umgang mit Schmuddelkindern: man tut es, spricht aber nicht darüber. Man nutzt Wikipedia, zitiert die „offene Enzyklopädie“ aber nicht. Diese

„Dunkelziffer“ muss man bei allen Befunden, die man aus dem Datenmaterial von

„juris“ entnehmen kann, im Auge behalten.

Gleichwohl gibt uns der Rückgriff auf die Rechtsprechungsdatenbank von „Juris“ eine gute Möglichkeit, die Zusammenhänge herauszuarbeiten und zu analysieren, in denen

Wikipedia von der Rechtsprechung genutzt wird. Wesentlich sind, wie eben gesagt, auch die Begründungs- und Erörterungszusammenhänge, in denen das Stichwort Wikipedia nicht auftaucht.

In der nun folgenden Bestandaufnahme (A.) sind also auch die „negativen Befunde“ in den Fokus zu nehmen. Diese Befunde sind zu konkretisieren und zu typisieren (B.). Dann folgen Überlegungen zu diesen Befunden (C. Trends und prozessrechtliche Vorgaben), um daraus im letzten Abschnitt (D.) erste Antworten auf die Ausgangsfrage zu gewinnen:

Haben wir es tatsächlich bereits mit einem grundlegenden Wandel in der richterlichen Sachverhaltsermittlung zu tun?