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4. Diskussion

4.2. Diskussion der Ergebnisse

4.2.1. Vergleich der Insertionswinkel

Die im Programm Rascal eingestellten Insertionswinkel (siehe Kapitel 2.3.3.) sind nach Rücksprache mit einem Ohrchirurgen mit langjähriger Erfahrung in der Cochlea-Implantat-Chirurgie entstanden. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei der Blickwinkeleinstellung um ein subjektives Verfahren, welches bei erneuter Einstellung Schwankungen unterliegt. Um die intra- und interindividuellen Abweichungen gering zu halten, wurden die räumliche Lage der Bogengänge, sowie der Blick durch den Recessus facialis als Landmarken herangezogen. Da die Weite des Recessus facialis zwischen 1,0 – 3,5 mm variieren kann85, bot es sich dementsprechend an, zwei unterschiedliche Insertionswinkel (s. S. 50) für jedes Humanpräparat zu ermitteln. Dadurch wird in dieser Arbeit der intraoperative Ermessensspielraum bei der Wahl

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der Zugangsrichtung durch den Recessus facialis wiedergespiegelt, den jeder Chirurg bei Einführung der Implantatelektroden hat. Die Trajektorie aus Blickwinkel 1 verlief mittig durch den Recessus facialis und trat tangential in die ST ein (siehe Abbildung 21 a). Die Trajektorie des Winkels 2 wurde näher an der Chorda tympani gewählt, woraus ein größerer Abstand zum Nervus facialis resultierte. Sie trat steil von antero-lateral in die ST ein und verließ diese nach kurzem Verlauf distal der RWM nach postero-medial (siehe Abbildung 21 b).

a): Winkel 1 b): Winkel 2

Abbildung 21: Blick durch den Recessus facialis für Winkel 1 und 2, Datensatz TB5L, Rascal

Benutzerindividuelle Standardabweichung: Um die dennoch unvermeidbaren benutzerindividuellen Abweichungen hinsichtlich der Winkeleinstellung erfassen zu können, wurden für jeweils ein Präparat jeder Gütekategorie an acht Terminen, die Standardabweichungen des gleichen Benutzers ermittelt. Die Resultate sind in Kapitel 3.2.

ausgearbeitet (Tabelle 7, Tabelle 8). Sie zeigen, dass die Reproduzierbarkeit für Insertionswinkel 2 höher ist als für Winkel 1. Die SD von ± 0,02 mm für die Vermessung des Radius des Zielgebietes, lässt darauf schließen, dass die erneute Einstellung des zweiten Winkels leichter wiederholbar ist, gegenüber der SD des Radius von ± 0,03 mm für Winkel 1.

Bei Kategorie-II-Präparaten zeigten sich ähnliche Ergebnisse, mit einer SD des Radius von

± 0,02 mm für Winkel 2 und von ± 0,04 mm für Zugangsrichtung 1.

Die Ergebnisse der benutzerindividuellen Standardabweichung weisen keinerlei Einschränkungen oder Verschlechterung der Wiederholbarkeit der Messresultate für Kategorie II gegenüber I auf. Dies bedeutet, dass trotz Reduktion der anatomischen Strukturen,

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Messungen am Kategorie-II-Datensatz gleichwertig zu Messungen der Gütekategorie I durchführbar waren. Zur Demonstration zeigt die

Abbildung 22 (a-f) eine Gegenüberstellung von Kategorie-I- zu Kategorie-II-Daten mit der jeweils geplanten Trajektorie. Nicht nur die Messergebnisse, sondern auch die gesammelte Arbeitsexpertise können bestätigen, dass Kategorie-II-Daten keinen Nachteil für Winkel- und Cochleostomiegebieteinstellungen darstellten, sodass ein äquivalentes Arbeiten mit dem Bildmaterial möglich war.

Die Konstellation der Messergebnisse zugunsten der geringeren SD für Zugangsrichtung 2, ist auf die unmittelbar anliegenden anteriore Begrenzung der manuell zu setzenden Punkte durch die Chorda tympani zurückführbar. Im Gegensatz dazu verlief für Winkel 1 der Anwenderblick mittig durch den Recessus facialis, wodurch nach anterior ein großzügigeres Setzen der Punkte auf der Oberfläche des ST-Verlaufs möglich war (siehe Abbildung 21 a, b). Dementsprechend liegt die geringere SD für Winkel 2 an dem stärker eingeschränkten Cochleostomiegebiet.

Nicht nur die Blickwinkeleinstellungen, sondern auch das manuelle Setzen der Punkte zur Festlegung des jeweils größtmöglichen Cochleostomiegebietes erfolgte nach subjektivem Ermessen. Die oben aufgeführten Ergebnisse der benutzerindividuellen Standardabweichung zeigen, dass Abweichungen durch die Festlegungen des geplanten Zugangswegs durch den Recessus facialis, des Zielgebietes der erweiterten Rundfensterinsertion und der Anwendung verschiedener Insertionswinkel gering waren und das Verfahren eine geringe benutzerindividuelle Standardabweichung vorweist. Letztlich ist auch die CI-Versorgung durch einen Ohrchirurgen von subjektiven Erfahrungswerten und Entscheidungen bestimmt, z.B. an welcher Stelle die Cochlea zur Insertion eröffnet wird oder mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Winkel die Implantate eingeführt werden sollen. Auch bei Anwendung mechatronischer Assistenzsysteme werden zwar Landmarken zur Definition des Zielgebietes herangezogen, dennoch zeigten durchgeführte Studien, dass auch navigationsgestützte Robotersysteme keine 100 % Reproduzierbarkeit und Treffsicherheit des Zielpunktes erreichen können.14, 44, 63, 74, 102, 103 In der Studie von Schipper et al.102 aus dem Jahr 2004 ergab sich durch das Navigationssystem (Stryker-Leibinger®, Freiburg, Germany) eine reelle Abweichung vom geplanten Zielpunkt von 1,6 mm an der Cochleostomiestelle. Klenzner et al.63 nutzten 2009 einen Roboterzugang, welcher eine Zielpunktabweichung von 0,25 mm erreichte. Eine neuere Studie aus dem Jahr 2013 von Bell et al.14 nutzte ein spezifisch für Eingriffe an der lateralen Schädelbasis entwickeltes chirurgisches Robotersystem zur Untersuchung des DCA. Der anvisierte Zielpunkt war das runde Fenster. Die Abweichung durch den Roboterzugang lag hier

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bei durchschnittlich 0,15 mm (± 0,08 mm), mit einem Minimum von 0,02 mm und einer maximalen Abweichung von 0,26 mm. Dies zeigt, dass Assistenzsysteme mittlerweile eine Genauigkeit im Bereich einiger Zehntelmillimeter erreichen. Die Unsicherheit des hier durchgeführten Messverfahrens lag wie bereits oben angeführt bei ± 0,02 mm bzw. ± 0,04 mm, sodass die Methodik noch präziser und reproduzierbarer ist, als die aktuellen navigationsgestützten Robotersysteme. Aus diesem Grund ist das Vorgehen zur Erfassung der Genauigkeitsanforderungen in dieser Studie zu rechtfertigen.

Mittelwerte der acht verschiedenen Cochleamodelle: Der Vergleich der Messergebnisse aus Tabelle 4 und Tabelle 5, in welchen die Mittelwerte für Winkel 1 bzw. Winkel 2 (s. S.50) aufgeführt sind, zeigt durchschnittlich größere Ergebnisse für Winkel 1 als für Winkel 2. Nach Auswertung der Resultate für die acht verschiedenen Präparate bei Implantation von 0,6-mm-Implantaten ergaben sich für Winkel 1 ein durchschnittlicher Sicherheitsradius von 0,48 mm (± 0,05 mm), wohingegen der durchschnittliche Sicherheitsradius für Winkel 2 bei 0,43 mm (± 0,04 mm) lag. Die Durchführung eines einfaktoriellen Signifikanztests zeigte, dass es sich hierbei um einen signifikanten Größenunterschied zwischen den beiden Messwinkeln handelt.

Klinische Bedeutung der Messergebnisse: Ursächlich für die um den Faktor 1,12 kleineren Mittelwerte für Winkel 2 gegenüber Winkel 1 ist die anteriore Begrenzung der manuell setzbaren Punkte durch die Chorda tympani für Winkel 2. Die Begrenzung durch den Fazialisast führt zwar zu einer geringeren benutzerindividuellen Standardabweichung dieser Blickwinkeleinstellung, sie verhindert aber auch gleichzeitig ein Setzen der Punkte weiter in Richtung des ST-Verlaufs. Daraus resultieren nicht nur die kleineren Werte für das pro Präparat größtmögliche Eröffnungsgebiet, sondern auch der steilere und ungünstigere Eindringwinkel in die Scala tympani. Gleichzeitig erfordern die kleineren Messergebnisse für Winkel 2 eine höhere Genauigkeitsanforderung an die navigationsgestützten Assistenzsysteme. Die starre Simulationstrajektorie des Winkels 2 trat bei allen Präparaten nach kurzem Verlauf innerhalb der ST nach postero-medial aus dieser aus, sodass der Modiolus und die OSL in diesem Bereich gefährdet waren. Die

Abbildung 19, Markierung f im Kapitel 2.3.3. zeigt, die für ein Kategorie-II-Präparat geplante Simulationstrajektorie, welche eine Verletzung der oben genannten Strukturen in vivo verursachen würde. Dieses Messresultat zeigt, dass die bewusste intraoperative Opferung der Chorda tympani im Rahmen des extended facial approach80, zwar zu einem breiteren Recessus facialis führt, dies allerdings zu einer Verkleinerung der eigentlichen Zielfläche auf der Oberfläche der Cochlea. Letztlich resultiert aus der zusätzlich erreichten Fläche durch den

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Recessus facialis ein ungünstiger Eintrittswinkel in die ST, ein höheres Risiko für Verletzungen und höhere Genauigkeitsanforderungen. Der Winkel 2 bietet also den Vorteil, dass ein größerer Sicherheitsabstand zum Nervus facialis gewonnen und eine höhere Reproduzierbarkeit der Blickwinkeleinstellung erreicht wird. Die Nachteile sind allerdings, dass aufgrund der kleineren Messresultate höhere Anforderungen an die navigationsgestützten Assistenzsysteme erforderlich sind, sowie ein höheres Risiko für Verletzungen der Chorda tympani, der OSL, der ST und des Modiolus bestehen, mit damit einhergehendem Resthörverlust und weiteren neurologischen Ausfällen. Zwar könnte mithilfe flexibler bzw. vorgeformter Elektrodenträger die Verletzungsgefahr für diese Strukturen wohlmöglich minimiert werden, dennoch weisen nicht nur die gewonnenen Messergebnisse auf günstigere Bedingungen bei Nutzung des tangentialen Winkels 1 hin, sondern auch weitere Arbeitsgruppe postulieren dieses Vorgehen als idealen Zugangswinkel. Bettman et al.18 veröffentlichten 2003 den tangentialen Eintritt in die Cochlea als bestmöglichen Zugangswinkel aufgrund des Einführens des Implantats in einen geraden Abschnitt der basalen Windung der Cochlea. Rask-Andersen et al.95 beschrieben 2011 den tangentialen Eintritt als ideal, da sich durch die flache Insertion das Risiko für Verletzungen apikaler Cochleastrukturen minimiert. Majdani et al.74 untersuchten mit Hilfe robotergestützter Verfahren den DCA, der ebenfalls eine tangentiale Ausrichtung auf die basale Windung der Cochlea aufgrund des dadurch entstehenden optimalen Eindringwinkels besaß. Auch Gerber et al.44 empfahlen nach einer durchgeführten CAS-Studie, zukünftig den tangentialen Eintrittswinkel in die ST zu bevorzugen, um das intracochleäre Trauma während der Insertion zu reduzieren. Diese Resultate decken sich mit den Beobachtungen in dieser Studie, dass sich durch das tangentiale Eintreten der Trajektorie der mögliche gerade Verlauf des Implantats innerhalb der ST verlängert. Dadurch tritt in der hier durchgeführten Studie die geplante Trajektorie erst am distalen Pol der unteren Schneckenwindung aus, wodurch sich das Verletzungsrisiko für Modiolus, BM, Corti-Organ und SV deutlich verringert.