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Verfassungsrechtliche Bewertungsmaßstäbe für Schutzmaßnahmen

E. Einzelfragen

VI. Bewertung bestehender Regelungen zur Abschirmung der MVZ gegen sachfremde Einflüsse

2. Verfassungsrechtliche Bewertungsmaßstäbe für Schutzmaßnahmen

Auch wenn die Gutachter nicht mit einem verfassungsrechtlichen Gutachten beauftragt wurden, spielt die Verfassungsmäßigkeit der bislang vom Gesetzgeber ergriffenen Maßnahmen für deren Bewertung eine bedeutsame Rolle. Im Folgenden werden deshalb die wesentlichen verfassungsrechtlichen

Maß-242 BT-Drs. 19/8351, S. 187.

243 Näher zum Regelungsmechanismus: Ladurner, MedR 2019, 519, 522.

244 BT-Drs. 19/8351, S. 187 ff.

stäbe dargelegt, an denen sich die bisherigen (und auch zukünftige) Maßnahmen zur Abschirmung der Behandlungstätigkeit in MVZ gegen sachfremde Einflüsse der Trägerebene messen lassen müssen.

a) Art. 12 Abs. 1 GG

Die beschränkenden Maßnahmen auf Ebene des Marktzugangs („Zulassung“ als MVZ) oder auch des MVZ-Betriebs (z. B. Notwendigkeit ärztlicher Leitung) sind als Eingriff in die umfassende geschützte Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Träger bzw. von Personen, die MVZ-Träger werden wollen, zu bewerten. Unabhängig davon, welcher Ebene (Berufsausübungsbe-schränkungen, Berufswahlbeschränkungen245) man die Eingriffe zuordnet, müssen sie vor allem einen legitimen Zweck verfolgen sowie geeignet und erforderlich sein.246 Außerdem muss die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn – unter Berücksichtigung der Eingriffsstufe – gewahrt sein.247

aa) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber verfolgt zweifelsfrei einen legitimen Zweck, wenn er die Beeinflussung ärztlicher Behandlungstätigkeit in MVZ durch sachfremde Einflüsse der Trägerebene zu verhindern sucht; die Sicherung der Integrität medizinischer Entscheidungen ist ein Ge-meinwohlbelang von hohem Gewicht.248

Kein legitimer gesetzgeberischer Zweck wäre allerdings gegeben, wenn jene die MVZ-Inhaberschaft beschränkenden Regelungen nur vordergründig dem Gesundheitsschutz dienten und eigentlich das Ziel verfolgten, einzelne Leistungserbringer(typen) vor unlieb-samer Konkurrenz zu schützen. Konkurrenzschutz um seiner selbst willen, stellt keinen verfassungsrechtlich anerkannten Gesetzeszweck dar.249 Art. 12 Abs. 1 GG schützt den Wettbewerb und nicht vor Wettbewerb. Das Grundgesetz kennt auch kein Recht auf die Erhaltung des bisherigen Geschäftsumfangs und Sicherung weiterer Erwerbsmöglichkeit der bereits im Markt Tätigen.250

bb) Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Zweckerreichung

Verfolgt der Gesetzgeber mit dem Schutz der Integrität der ärztlichen Diagnose und The-rapie zweifellos legitime Zwecke, so müssen die zur Zweckerreichung ergriffenen Maß-nahmen auch geeignet und erforderlich sein.

245 Welcher Stufe die gesetzliche Maßnahme zuzuordnen ist, hängt von ihrem Inhalt ab; Scholz/Buchner, NZS 2012, 401, 403, bewerten z. B. die Beschränkung der Gründereigenschaft auf im Wesentlichen zugelassene Ärzte und Kranken-häuser als subjektive Berufszugangsregelungen.

246 Zur Dogmatik der Prüfung materieller Anforderungen an die Grundrechtsbeschränkung bei Art. 12 Abs. 1 GG: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 12, Rn. 40; zum Verhältnis der Drei-Stufen-Lehre zur allgemeinen Verhältnismäßigkeits-prüfung: Ruffert, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 12, Rn. 101; Mann, in: Sachs, GG, Art. 12, Rn. 142 ff.

247 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 12, Rn. 44 ff.

248 Bei greifbaren Anhaltspunkten für eine systematische, flächendeckende und der Versorgungsqualität abträgliche Aus-richtung der ambulanten Behandlungstätigkeit in Deutschland an kommerziellen Interessen dürfte weitergehend – aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgend – eine Pflicht zum Eingreifen bestehen.

249 BVerfG, Beschl. v. 8.6.2010 – 1 BvR 2011/07 –, Rn. 99 juris, zur Neuordnung des Sächsischen Rettungswesens; Urt.

v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02 –, Rn. 118 juris.

250 So schon BVerfG, Beschl. v. 1.2.1973 – 1 BvR 426/72 –, Rn. 10 juris; siehe auch BSG, Urt. v. 12.2.2020 – B 6 KA 25/18 R –, Rn. 31 juris.

Geeignet ist eine gesetzgeberische Maßnahme, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg erzielt werden kann; dabei genügt die bloße Möglichkeit der Zweckerreichung.251

Auf der Ebene der Erforderlichkeit ist sicherzustellen, dass der gesetzliche Eingriff in das Grundrecht nicht weiter geht als der verfolgte Gesetzeszweck dies erfordert. An der Erfor-derlichkeit fehlt es mithin, wenn der Gesetzgeber hierfür ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen kön-nen.252

cc) Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers

Mit Blick auf das verfassungsrechtlich Zulässige billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auf der Ebene der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Grundrechtseingrif-fen grundsätzlich einen Einschätzungs- und Prognosespielraum zu.253 Dieser ist gerade bei Berufsausübungsregeln weit; geht es – wie teilweise hier – um gesetzgeberische Ein-griffe, die sich Regeln der Berufswahl zumindest annähern, verengt sich der Einschät-zungsspielraum, ohne indes ganz zu entfallen.254 Unter Achtung des gesetzgeberischen Ein-schätzungsspielraums können Maßnahmen, die der Gesetzgeber zur Abwehr von Gefahren für erforderlich hält, verfassungsrechtlich nur beanstandet werden, wenn nach den dem Gesetzgeber bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisher gemachten Erfahrungen feststellbar ist, dass Beschränkungen, die als Alternativen in Betracht kommen, zwar die gleiche Wirksamkeit versprechen, indessen die Betroffenen weniger belasten.255 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht – mit Blick auf Kehrtwenden in der Atompolitik – be-tont, dass es zur Rechtfertigung jedenfalls erheblicher Grundrechtseingriffe hinreichend gewichtiger Gemeinwohlgründe auf der Grundlage einer Würdigung der realitätsgerecht erkennbaren Gefahren oder Risiken bedarf.256 Das bloße „Herbeireden“ von Gefahren insbesondere durch Interessenvertreter erlaubt es deshalb nicht, die Erforderlichkeit zu be-gründen. Stützt sich der Gesetzgeber bei der Einschränkung der Berufsfreiheit auf Progno-sen, so muss er seine Beurteilung bei sich ändernden Verhältnissen oder im Lichte neuer Erkenntnisse gegebenenfalls anpassen.257 Nachbesserungspflichtig ist der Gesetzgeber, so-weit die Änderung einer zunächst verfassungskonform getroffenen Regelung erforderlich ist, um diese unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts veränderter Er-kenntnislage mit der Verfassung in Einklang zu halten.258

251 St. Rspr. BVerfG, z. B. Beschl. v. 29.6.2016 – 1 BvR 1015/15 –, Rn. 69 juris; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 12, Rn. 42.

252 St. Rspr. BVerfG, z. B. Beschl. v. 14.1.2014 – 1 BvR 2998/11 –, Rn. 80 juris m. w. N.

253 St. Rspr. BVerfG, z. B. Urt. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 –, Rn. 115 juris; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 123 f.; den weiten gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum bei Maßnahmen der MVZ-Zugangsregulierung be-tonen Kämmerer/Kleiner, MedR 2019, 531, 536 zum Beurteilungsspielraum in diesem Zusammenhang auch: Axer, GesR 2012, 714, 721.

254 Zur Verengung bei Berufswahlregelungen: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 12, Rn. 50 m. w. N.; eine Verengung des Beurteilungs- und Prognosespielraums des Gesetzgebers gilt z. B. im Bereich existenzsichernder Leistungen:

BVerfG, Urt. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn. 134, juris; dazu auch Becker, GuP 2020, 41, 47.

255 BVerfG, Beschl. v. 8.6.2010 – 1 BvR 2011/07 –, Rn. 103 juris; auch Beschl. v. 14.10.2008 – 1 BvR 928/08 –, Rn. 44 juris.

256 BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11 –, Rn. 308 juris; auch Urt. v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 –, Rn. 115 juris.

257 Zur abnehmenden oder sich verändernden Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers: BVerfG, Besch. v. 22.11.2016 – 1 BvL 6/14 –, Rn. 71 juris;

258 BVerfG, Beschl. v. 6.11.2012 – 2 BvL 51/06 –, Rn. 68 juris m. w. N.

dd) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne stellt auf der Beeinträchtigungsstufe der bloßen Berufsausübungsregelung keine wesentliche verfassungsrechtliche Hürde dar. Insoweit ge-nügen bereits „vernünftige Gründe des Allgemeinwohls“,259 die – ist die Erforderlichkeit zur Bekämpfung von Gesundheitsgefahren zu bejahen – stets vorliegen dürften. Je stärker sich indes eine gesetzliche Begrenzung der MVZ-Trägerschaft der Berufswahlregelung an-nähert, desto höhere Anforderungen sind zu beachten: Subjektive Einschränkungen des Berufszugangs sind z. B. nur statthaft, soweit sie – ein überragendes Gemeinschaftsgut schützend – nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck der Regelung stehen und keine übermäßige unzumutbare Belastung enthalten.260

b) Art. 3 Abs. 1 GG

Art 3 Abs 1 GG fordert vom Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet dem Gesetzgeber damit nicht jede Differenzierung, jedoch bedürfen Differenzierungen stets der Rechtfertigung durch Sach-gründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbe-troffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Die Grenzen, die der allgemeine Gleichheitssatz dem Gesetz-geber vorgibt, können sich von lediglich auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen erstrecken. Es gilt ein am Verhältnismäßigkeits-grundsatz orientierter, stufenloser Prüfungsmaßstab, der nicht abstrakt, sondern nur nach dem jeweils betroffenen Sach- und Regelungsbereich näher bestimmbar ist. Maßgebend ist dabei, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können.261