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2 THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND EMPIRISCHE VORARBEITEN

2.1.3 Ursachen und theoretische Konzepte

„Für die hyperkinetischen Störungen gibt es nicht eine einzige und allgemeingültige Ursache, sondern es müssen angesichts des Spektrumcharakters dieser Störungen mehrere Ursachen diskutiert werden“ (Steinhausen 2000b). Seit Mitte der 60er Jahre sind weit über 4000 Artikel zu diesem Thema in Medline und Psychlit veröffentlicht worden. Es wird heute angenommen, dass die Genese der hyperkinetischen Störungen letztendlich auf neuroanatomische, neurobiologische, genetische und psychosoziale Faktoren zurückzuführen ist (Biederman 2002; Tannock 1998; Barkley 1998).

2.1.3.1 Neurobiologische Ursachen

Wie zuvor erwähnt, wurde über viele Jahre das Konzept der „minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD)“ als Erklärungsmodell für hyperkinetische Störungen favorisiert.

Dieses gründet auf der Annahme, dass prä-, peri- oder postnatale ZNS Schädigungen zu strukturellen Hirnfunktionsstörungen führen und die frühkindliche Entwicklung verzögern (Döpfner 1995). Ein solcher Zusammenhang verlor jedoch in größeren epidemiologischen Studien an Signifikanz, sobald weitere Risikofaktoren wie mütterliches Rauchen/Alkoholkonsum oder ein niedriger sozio-ökonomischer Status miteinbezogen wurden (Goodman & Stevenson 1989; Nichols & Chen 1981).

Auch neurophysiologische Aufzeichnungen zentralnervöser Aktivität anhand von EEG-Untersuchungen ergeben keine pathognomischen Befunde bei hyperkinetischen Kindern (Steinhausen 2000b).

Indes lassen neuere Ergebnisse aus Magnetresonanztomographie-Studien (MRT) darauf schließen, dass definierte anatomische Strukturen in der Pathophysiologie des ADHS eine Rolle spielen. Durston (2004) und Castellanos (2002) wiesen in MRT-Untersuchungen bei hyperkinetischen Kindern vor allem Volumenverminderungen in Basalganglien und Kleinhirn nach, zwei Hirnregionen, die eine zentrale Rolle in der Modulation von motorischer Aktivität spielen.

Unter Verwendung von Methoden des Neuroimaging (Positronen-Emissions-Tomographie, PET) konnten Zametkin et al. (1998) eine Herabsetzung des Hirnstoffwechsels besonders in den fronto-striatalen Hirnregionen von Jugendlichen und Erwachsenen mit einem HKS nachweisen. Hierin unterstützen ihn eine Vielzahl zeitgenössischer Autoren (Krause et al. 2003; Tannock 1998; Arnsten, Steere & Hunt 1996). Jedoch gilt es diese Annahmen in Zukunft mit spezifischen Untersuchungs-designs an größeren Stichproben zu überprüfen.

Auf der Basis neurochemischer Erkenntnisse wird postuliert, dass dem ADHS eine Beeinträchtigung in der Metabolisierung der biogenen Amine Noradrenalin, Serotonin und Dopamin zu Grunde liegt. Dies soll ein gestörtes Zusammenspiel von exitatorischen und inhibitorischen Zentren des ZNS zur Folge haben (Steinhausen 2000b). Die Tatsache, dass Stimulanzien seit Jahren erfolgreich in der HKS-Therapie eingesetzt werden, scheint eine solche Annahme zu stützen. Substanzen wie Methylphenidat oder D-Amphetamin blockieren Dopamin- und Noradrenalintransporter,

die für die Wiederaufnahme der Neurotransmitter in die präsynaptische Zelle verantwortlich sind und erhöhen konsekutiv die Neurotransmitterkonzentration im synaptischen Spalt (Gatley et al. 1996).

Einzelne Autoren gehen davon aus, dass hyperkinetische Kinder eine funktional hypodopaminerge Ausgangsbasis aufweisen (Hässler & Irmisch 2000). Diese dopaminerge Unterfunktion betrifft nach Sagvolden u. Sergeant (1998) vor allem das Striatum, das mesolimbische System einschließlich Nucleus accumbens sowie das Frontalhirn. Die genannten Systeme spielen besonders im Rahmen der Regulation von Motorik, Emotionen, Motivation und Aufmerksamkeit eine bedeutsame Rolle (Everitt et al. 2001).

Krause et al. (2000) konnten mittels SPECT-Untersuchungen (Single-Photonen-Emissions-Computertomographie) bei ADHS-Patienten unter der Behandlung mit Stimulanzien eine Normalisierung der ursprünglich erhöhten Dopamintransporterdichte im Striatum nachweisen. Dies scheint deren therapeutischen Effekt zu bestätigen.

Paradoxerweise bewirken Dopaminagonisten wie Carbidopa bzw. Levodopa keine signifikante Verbesserung der Hypermotorik, wohingegen Dopamin-Antagonisten wie Neuroleptika in niedriger Dosierung mit Erfolg zur HKS Therapie eingesetzt werden (Langer et al. 1982; Steinhausen 2000b).

Aus den uneinheitlichen Studienergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass dem ADHS weder ein singulärer Transmitterdefekt noch ein einzelner topographischer Hirndefekt zu Grunde liegt, sondern vielmehr eine Reihe von Neurotransmittersystemen in unterschiedlichen Hirnregionen an dessen Regulierung beteiligt sind.

2.1.3.2 Genetische Ursachen

Die Mehrheit der Forschungsergebnisse deuten heute auf eine hereditäre Genese der hyperkinetischen Störung hin (Biederman 2002; Barkley 1998). Jedoch konnte anhand bisheriger genetischer Studien kein spezifischer Erbgang ermittelt werden, so dass am ehesten von einem polygenetischen Vererbungsmodus ausgegangen werden muss (Faraone 2004; Todd 2000).

In Familienstudien zeigte sich, dass Verwandte von Kindern mit hyperkinetischer Störung im Vergleich zu Kontrollgruppen höhere Prävalenzen von HKS, antisozialen Störungen, Drogenmissbrauch und affektiven Störungen aufwiesen (Biederman et al.

1992; Barkley et al. 1990).

Sprich (2000) konnte nachweisen, dass biologische Eltern von hyperkinetischen Kindern häufiger hyperaktives Verhalten zeigen, als dies bei Adoptiveltern der Fall ist.

Weiterhin ist aus der Zwillingsforschung bekannt, dass bei eineiigen Zwillingen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen eine weitaus höhere Konkordanz der ADHS- Symptome besteht, was auf eine starke Heritabilität des HKS hindeutet (Levy et al.

1997; Sherman et al. 1997).

Das Interesse molekularbiologischer Forschung konzentriert sich zum einen auf Varianten des Dopamin-Transporter-Gens (DAT1) (Hawi et al. 2003; Gill et al. 1997;

Cook et al. 1995), sowie auf eine Reihe von Dopamin-Rezeptor-Genen wie DRD1, DRD4 und DRD5 (Misener et al. 2004; Kustanovich et al. 2004). Diese scheinen gehäuft bei hyperkinetischen Kindern aufzutreten. Modifikationen im Genaufbau sollen neurochemisch einen hypodopaminergen Zustand zur Folge haben, der möglicherweise hyperkinetisches Verhalten hervorruft.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind derzeit noch durch eine Reihe von Faktoren wie mangelnde Reproduzierbarkeit und geringe Studiengröße limitiert. In Zukunft ist auf diesem Gebiet jedoch mit vielversprechenden Erkenntnisgewinnen zu rechnen.

2.1.3.3 Psychosoziale Ursachen

Betrachtet man die unterschiedlichen Ausprägungsgrade hyperkinetischer Symptomatik und das heterogene Ansprechen der Betroffenen auf die Behandlung, so wird deutlich, dass man den Verlauf des Störungsbildes nicht alleine biologisch-konstitutionell erklären kann (Steinhausen 2000b). Vielmehr lässt sich Hyperaktivität als eine

„Wechselwirkung von konstitutioneller bzw. biologischer Ausstattung eines Kindes mit den Umweltbedingungen in Familie und Schule“ auffassen (Sandberg & Gerralda 1996).

Taylor et al. (1991) wiesen bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen auf die schlechte emotionale Qualität der Eltern-Kind-Beziehung im Sinne eines Mangels an Wärme und eines hohen Ausmaßes an Kritik hin. Eine solche Entwicklung ist nicht verwunderlich, betrachtet man die Vielzahl an Stressoren, denen Kind und Eltern durch das Störungsbild ausgesetzt sind. Barkley et al. (1991) konnten überdies zeigen, dass

ein vornehmlich kritisierender, kontrollierender und aufdringlicher Erziehungsstil der Eltern eher zu einer Persistenz hyperkinetischen und vor allem oppositionellen Verhaltens beim Kind beiträgt. Die Wertigkeit sozialer Faktoren lässt sich nach Steinhausen (2000b) auch bei der häufigen komorbiden Verbindung von HKS und Störungen des Sozialverhaltens nachweisen: Faktoren wie „soziale Benachteiligung“

und „ungünstige Familienumwelten“ scheinen sich negativ auf eine Störung des Sozialverhaltens auszuwirken und das elterliche Erziehungsverhalten kann den Verlauf einer hyperkinetischen Störung ungünstig beeinflussen.