• Keine Ergebnisse gefunden

2 THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND EMPIRISCHE VORARBEITEN

2.5 R ETROSPEKTIVE D IAGNOSTIK DES ADHS BEI E RWACHSENEN

Eine retrospektive Diagnosestellung des ADHS im Erwachsenenalter erweist sich aufgrund mehrerer Faktoren als schwierig: Hauptbezugspersonen der Betroffenen wie Eltern oder Lehrer, sog. „Zeitzeugen“, sind oftmals nicht zur Hand, wenn es um die Einschätzung der zu untersuchenden Symptomatik im Kindesalter geht. In der Mehrzahl der Fälle steht somit als einzige Informationsquelle nur das Individuum selbst zur Verfügung. Hier stellt sich die Frage, wie wahrheitsgetreu die Betroffenen ihr eigenes Verhalten wiedergeben und ob eine entsprechende Güte der Aussagen gegeben ist, wenn das Intervall zwischen der gefragten Symptomausprägung und dem Zeitpunkt des Interviews mitunter 20 Jahre beträgt.

Downey et al. (1997) konnten bei erwachsenen ADHS-Patienten hohe Überein-stimmungen zwischen der Selbstbeurteilung der vorliegenden Symptome und der Fremdbeurteilung durch unabhängige Beobachter finden. Ebenso bestätigte die Untersuchung von De Quiros u. Kinsbourne (2001) den Nutzen von Selbstbeurteilungen bei ADHS im Erwachsenenalter. Zur Frage, ob dies auch bei retrospektiven Erhebungen gilt, konnten Murphy (2000) und Morrison (1980) zeigen, dass die Kindheitserinnerungen von erwachsenen ADHS-Patienten signifikant mit denen der Elternaussagen übereinstimmen.

2.5.1 Wender Utah Rating Scale (WURS)

In der Literatur ist heute die Validität von Fragebögen, in denen zurückblickend Kindheitssymptome einer hyperkinetischen Störung erfasst werden, vielfach belegt (Fossati et al. 2001; Ward & Wender 1993). In diesem Zusammenhang ist die Wender Utah Rating Scale (WURS) eines der am häufigsten eingesetzten Instrumente. Die WURS ging aus dem Adult Questionnaire-Childhood Characteristics (Wender 1985) hervor in Anlehnung an die „Utah Kriterien“ zur Diagnose eines ADHS im Erwachsenenalter (Wender et al. 1981). Es handelt sich hierbei um ein standardisiertes Verfahren, bei dem anhand von 61 Items retrospektiv der Ausprägungsgrad kindlicher Symptome und Verhaltensarten eingeschätzt wird (siehe Anhang 9.2). Die Probanden haben dem jeweiligen Merkmal eines von 5 Auswahlmöglichkeiten zuzuordnen, von 0 = nicht oder ganz gering bis 4 = stark ausgeprägt. Anschließend wird aus den Rohwerten ein Summenscore ermittelt.

Da die ursprüngliche 61-Item Version der WURS neben ADHS-Symptomen auch eine ganze Reihe von kindlichen Verhaltensweisen, Lernschwierigkeiten und rein körperlich-medizinischen Problemen erfragte, die nicht unmittelbar mit dem ADHS in Verbindung stehen, erfolgte eine Validierung des Fragebogens durch Ward u. Wender (1993).

Diese führte zu einer Reduktion auf 25 Items, anhand derer die ADHS-Studiengruppe am besten von der gesunden Kontrollgruppe und einer Gruppe depressiver Patienten ohne hyperkinetische Störung unterschieden werden konnte. Ein Schwellenwert von über 45 konnte dabei 85% der ADHS Patienten identifizieren sowie 99% der Gesunden und 81% der Patienten mit Depression richtig klassifizieren.

Die Reliabilität der WURS wurde von einer Arbeitsgruppe um Stein et al. (1995) an 57 Erwachsenen untersucht. Dies ergab befriedigende bis gute Ergebnisse für die innere Konsistenz mit einem Cronbach’s α = .69 bis α = .89 (Cronbach 1951). In der gleichen Studie weisen die Autoren jedoch auch auf die Heterogenität des 25-Item Fragebogens hin, da nach wie vor viele Symptome anderer psychiatrischer Erkrankungen wie depressives, ängstliches oder sozialgestörtes Verhalten erhoben werden.

Dies lässt vermuten, dass die Anwendung der WURS an einem psychiatrischen Patientenkollektiv als problematisch einzuschätzen ist, wie Untersuchungen von McCann et al. (2000) bestätigen. Bei Einsatz der WURS an 68 ADHS-Patienten und 73 psychiatrischen Patienten ohne hyperkinetische Störung, konnten die Autoren zeigen, dass mit einer Spezifität von nur 57,5% zu viele der ADHS-negativen psychiatrischen Patienten falsch positiv zugeordnet wurden, auch wenn die Sensitivität des Instruments 72% betrug.

McCann et al. führen dieses Ergebnis auf den Umstand zurück, dass die WURS neben ADHS-Symptomen auch Symptome anderer psychiatrischer Komorbiditäten wie z.B.

depressive und sozialgestörte Verhaltensweisen erfasst.

Für Stein et al. (1995) erweist sich die 25-Item Form der WURS als ein vielversprechendes Screening Verfahren in der ADHS-Diagnostik, jedoch ist die Aussagekraft bei der Anwendung in einem psychiatrischen Patientenkollektiv durch vielfältige Komorbiditäten beeinträchtigt. Ferner schlägt der Autor vor, bei zukünftigen Revisionen der WURS mehr auf die DSM-IV Symptome des ADHS zu fokussieren.

Eine von Retz-Junginger (2002) eingeführte deutsche Kurzform der WURS (WURS-k

genannt) umfasst 21 ähnlich heterogene Items und unterscheidet sich damit nur unwesentlich von der bekannten 25-Item Version.

2.5.2 Weitere retrospektive ADHS Selbstbeurteilungsverfahren

Außer der Wender Utah Rating Scale finden sich nur sehr wenige vergleichbare Erhebungsinstrumente in der Literatur. Meist handelt es sich dabei um nicht validierte Fragebögen, die auf DSM-IV Kriterien zum ADHS basieren und von den Autoren selber modifiziert wurden (siehe auch Murphy 2000 und King et al. 1999, deren Studie unter Punkt 2.4.8 ausführlich dargestellt ist).

Schubiner et al. (2000), deren Studiendesign ebenfalls unter Punkt 2.4.8 detailliert beschrieben wird, benutzte ein ähnliches Prinzip in Form des etablierten „Semi-Structured Clinical Interview for DSM-IV“ nach First u. Spitzer (1995). Dieses auch kurz SCID genannte Instrument war von den Autoren ursprünglich nicht zur Erhebung von ADHS-Symptomen konzipiert worden und wurde von Schubiner als Pilotversion eingesetzt. Heute ist dies in validierter Form als sog. A-SCID in Gebrauch und erfragt retrospektiv ADHS-Symptome in der Kindheit analog der DSM-IV Kriterien (Saules 2003).

In der hier vorliegenden Untersuchung kam der als nützlich einzustufende A-SCID nicht zur Anwendung, da er bei Studienbeginn im August 2000 noch unveröffentlicht war.

Murphy u. Adler (2004) betonen in ihrer Übersichtsarbeit zur Anwendung von ADHS-Fragebögen bei Erwachsenen, dass deren Ergebnisse nur Hinweise auf das mögliche Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung in der Vergangenheit geben können. Um die klinische Diagnose eines ADHS bei Erwachsenen stellen zu können, müssen vielfältige Kriterien in Kindheit und Erwachsenenalter erfüllt sein und im professionellen Setting exploriert werden (vgl. „Utah Criteria“ – McKay & Halperin 2001).