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2 THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND EMPIRISCHE VORARBEITEN

2.1.1 Definition und Klassifikation

Heute gelten Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität als die Leitsymptome des Hyperkinetischen Syndroms.

Sowohl in dem international am weitesten verbreiteten Diagnoseschema, der International Classification of Diseases (ICD-10, Dilling et al. 1993), als auch in dem aktuellen US-amerikanischen Klassifikationssystem DSM-IV (1994) bilden diese drei Kernmerkmale die Hauptkriterien für das Vorliegen einer hyperkinetischen Störung.

Laut diagnostischer Leitlinien der ICD-10 stellen sich die Kardinalsymptome wie folgt dar:

„Überaktivität bedeutet exzessive Ruhelosigkeit, besonders in Situationen, die relative Ruhe verlangen. Situationsabhängig kann sie sich im Herumlaufen oder Herumspringen

äußern, im Aufstehen, wenn dazu aufgefordert wurde, sitzenzubleiben; in ausgeprägter Redseligkeit und Lärmen; oder im Wackeln und Zappeln bei Ruhe. Dieses Verhaltensmerkmal zeigt sich am deutlichsten in strukturierten und organisierten Situationen, die ein hohes Maß an eigener Verhaltenskontrolle fordern.

Die beeinträchtigte Aufmerksamkeit zeigt sich darin, dass Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Tätigkeiten nicht beendet werden. Die Kinder wechseln häufig von einer Aktivität zur anderen, wobei sie anscheinend das Interesse an einer Aufgabe verlieren, weil sie zu einer anderen hin abgelenkt werden.

Impulsivität äußert sich dadurch, dass die Kinder sich z.B. in Aktivitäten anderer einmischen oder diese unterbrechen und noch nicht vollständig gestellte Fragen vorschnell beantworten. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, zu warten, bis sie an der Reihe sind und zeichnen sich durch Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen aus.“

Die diagnostische Einordnung des Hyperkinetischen Syndroms differiert je nach angewandtem Klassifikationssystem (ICD-10 oder DSM-IV):

Während die ICD-10 Forschungskriterien von einer „einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ ausgehen, unterteilt das DSM-IV in drei unterschiedliche ADHS-Subtypen: einen „Mischtypus“, einen „vorwiegend unaufmerksamen Typus“ und einen „vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typus“.

Steinhausen (2000b) macht jedoch auf die weitgehende Konvergenz der beiden Klassifikationssysteme aufmerksam, wie die Gegenüberstellung der einzelnen Symptom-Kriterien in Tabelle 1 verdeutlicht:

Tabelle 1: Klassifikationssysteme im Vergleich (ICD-10 / DSM-IV)

ICD-10 (Forschungskriterien) DSM-IV

A Unaufmerksamkeit: mindestens 6 Symptome 1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder

machen Sorgfaltsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten

2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten 3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird 4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre

Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen

5. sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren

6. vermeiden unbeliebte Arbeiten, wie Hausaufgaben, die häufig geistiges Durchhaltevermögen erfordern 7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte

Aufgaben wichtig sind, z.B. für Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge 8. werden häufig von externen Stimuli abgelenkt 9. sind im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft

vergesslich.

B Überaktivität: mind. 3 Symptome

1. fuchteln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf den Sitzen

2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird 3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in

Situationen, in denen dies unpassend ist

4. sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen 5. zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer

Aktivitäten, die durch den sozialen Kontext oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar sind.

C Impulsivität: mind. 1 Symptom

1. platzen häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist

2. können häufig nicht in einer Reihe warten oder warten, bis sie beim Spielen oder in Gruppensituationen an die Reihe kommen

3. unterbrechen und stören andere häufig (z.B. mischen sich ins Gespräch oder Spiel anderer ein)

4. reden häufig exzessiv ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren.

5.

A Unaufmerksamkeit: mindestens 6 Symptome

a. beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtig-keitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten

b. hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die

Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten

c. scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen

d. führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen e. hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten

zu organisieren

f. vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die längerandauernde geistige Anstrengungen erfordern g. verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben

oder Aktivitäten benötigt (z.B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug) h. lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken i. ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.

B Überaktivität/Impulsivität: mind. 6 Symptome Überaktivität:

a. zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum

b. steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf

c. läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist

d. hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen e. ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre

er/sie „getrieben“

f. redet häufig übermäßig viel.

Impulsivität:

g. platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist

h. kann nur schwer warten, bis er an der Reihe ist

i. unterbricht und stört andere häufig (platzt z.B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein).

In beiden Systemen wird gefordert, dass:

a) die Störung sich vor dem siebten Lebensjahr manifestiert

b) eine Beeinträchtigung durch die genannten Symptome in mindestens zwei oder mehr Lebensbereichen erfolgt (z.B. im Kinderhort bzw. in der Schule und zu Hause)

c) die Symptome deutliches Leiden oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit verursachen

d) die Störung nicht die Kriterien anderer schwerwiegender Psychopathologien erfüllt oder durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden kann.

Laut ICD-10 kann von einer „einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)“

gesprochen werden, wenn sowohl Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität als auch Impulsivität mit beschriebenem Ausmaß in mindestens zwei Lebensbereichen vorzufinden sind. Sind zudem die Kriterien für eine „Störung des Sozialverhaltens (F91.0)“ erfüllt, so wird dies innerhalb der ICD-10 als „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)“ kodiert.

Demgegenüber fasst das DSM-IV neben der Symptom-Kategorie Unaufmerksamkeit die beiden Symptome Hyperaktivität und Impulsivität zu einer zweiten Kategorie zusammen. Liegen beide vor, so wird die Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus (F90.0)“ vergeben. Ist nur eine der beiden Kategorien erfüllt, so spricht man von einer „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unaufmerksamer Typus (F98.8)“ oder „vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus (F90.1)“.

Es wurden in der Vergangenheit zum Teil kontroverse Debatten darüber geführt, welches Klassifikationssystem das Störungsbild zutreffend beschreibt (vgl. Steinhausen 2000b; Barkley 1998). Dies soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

In der vorliegenden Arbeit ist mit dem Begriff „Hyperkinetisches Syndrom (HKS)“ bzw.

„hyperkinetische Störung“ die „einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)“ nach ICD-10 gemeint. Dies entspricht der „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus (ADHS)“ nach DSM-IV. In diesem Sinne werden die Begriffe HKS und ADHS vom Verfasser synonym verwandt.