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Urbane Wildnis konkret – Beispiele aus den Workshops

Im Dokument Wildnis in Städten (Seite 12-16)

Urbane Naturbereiche bieten das Potential, einen bestimmten Grad an „Wildheit“ zu erreichen bzw. sich auf einigen Flächen einem Zustand von Wildnis im Sinne der „Natur der vierten Art“

anzunähern (siehe 2.1). Weltweit gibt es bereits gute Ansätze, die nachfolgend anhand von einigen Beispielen dargestellt werden.

Deutschland:

Arnsberg: Im Stadtgebiet von Arnsberg ist ein Renaturierungsprojekt entlang des Flusses Ruhr und einiger Zuflüsse durchgeführt worden. Hauptziele waren der Hochwasserschutz, die Herstellung der Durchgängigkeit und damit die ökologische Aufwertung des Flusseinzugsgebiets insgesamt. Von besonderer Bedeutung ist dabei das konsequente Zulassen der eigendynamischen Entwicklung der Ruhr und ihrer Ufer. Das schotterdominierte Flussbett der Ruhr verändert sich stetig, Totholz sammelt sich an und ergänzt das Lebensraumangebot. Die Ufervegetation kann sich ungelenkt entwickeln. Die Bevölkerung, insbesondere die Fischereivereine und Schulen, wurden in die Renaturierungsmaßnahmen intensiv und frühzeitig eingebunden. Das Projekt wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. im aktuellen Kommunalwettbewerb „Lebenswerte Stadt“ der DUH. Mehr Informationen unter http://www.arnsberg.de/umwelt/wasser/ruhr_renaturierung.php

Berlin: Die politische Situation in Berlin zwischen 1945 und 1989 beeinflusste stark die Naturentwicklung in der Stadt. Im Krieg zerstörte Flächen wurden oftmals nicht bebaut sondern für eine spätere Entwicklung vorgehalten, wenn Berlin wiedervereint und die Hauptstadt sein würde. Sämtliche Bahngleise wurden von den Alliierten der Reichsbahn mit Sitz in Ostberlin zugeschlagen, was den Bahnverkehr im Westteil der Stadt auf ein Minimum reduzierte und zu vielen stillgelegten Gleisanlagen führte. Die Natur eroberte solche Baulücken und Gleisanlagen zurück und entwickelte sich in über vier Jahrzehnten oft unbemerkt zu urbanen Wildnisflächen

„der vierten Art“.

Das Schöneberger Südgelände ist ein Beispiel dafür, wie solch eine Wildnisfläche unter Schutz gestellt und der Bevölkerung zugänglich gemacht wurde. Das ehemalige Güterbahnhofsgelände wurde 1952 aufgegeben. Danach konnte sich das 18 ha große Gelände praktisch ungestört entwickeln. Bahngleise wurden überwuchert und sorgen heute für eine einzigartige Atmosphäre. In den 1980er Jahren stießen Pläne, den Güterbahnhof wieder herzustellen oder die Fläche anderweitig zu bebauen auf breiten Widerstand in der Bevölkerung, so dass das Gebiet schließlich zum Natur- bzw. Landschaftsschutzgebiet erklärt wurde. Im Jahr 2000 wurde das Gelände für den Besucherverkehr geöffnet und ist seither zu einem beliebten Naherholungsgebiet geworden. Stegs und Wege wurden angelegt um den Zugang zu ermöglichen. Große Bereiche entwickeln sich weiterhin natürlich, andere werden extensiv gepflegt, um ein möglichst breites Mosaik an Lebensräumen zu erhalten. Das Schöneberger Südgelände mag nicht mehr ganz so wild und unberührt sein, wie es einmal war, doch es bleibt ein faszinierender Ort von besonderer Eigenart und Schönheit, wo auch historische und kulturelle Werte einen Platz gefunden haben (Kowarik & Langer, 2005).

Inzwischen ist urbane Wildnis als eines der Ziele der Berliner Biodiversitätsstrategie festgeschrieben.

Hannover: Grünflächen, Stadtwald, Auen und landwirtschaftliche Flächen durchziehen Hannover sternförmig und bilden einen Ring um die Stadt. Jeder Bürger erreicht innerhalb von 10 Minuten Fußweg eine Grünfläche. Die Stadt hat ein Biodiversitätsprogramm „Mehr Natur in der Stadt“ verabschiedet, das viele Einzelmaßnahmen und Maßnahmenpakete bündelt. U.a.

werden Totholz und alte Bäume gefördert und Fließgewässer naturnah unterhalten. Die

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Bürgerschaft wird dazu aufgerufen, ihre Gärten oder das Wohngebietsgrün in „wildere“ Orte zu verwandeln.

Hannover entwickelt derzeit mit Dessau-Roßlau und Frankfurt am Main ein gemeinsames Wildnisprojekt. Innerhalb des Projekts sollen unter anderem wildnisorientierte Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen entwickelt werden, z.B. extensive Grünflächenpflege in direkter Siedlungsnähe und freie Sukzession auf weiter entfernten Flächen. Parallel dazu sollen geeignete Kommunikationsmittel entwickelt werden.

Europa:

Exeter, England: Zwischen dem Rat der britischen Stadt Exeter und dem Devon Wildlife Trust besteht eine Partnerschaft unter dem Namen „Exeter Wild City“. Das Ziel ist die Förderung und der Schutz des Wildniswertes grüner Bereiche in der Stadt, mit besonderem Fokus auf Bürgerbeteiligung und positiven Auswirkungen auf die Biodiversität. Exeter ist ein regionales Zentrum mit starkem ökonomischem Wachstum und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Ein wesentlicher Faktor für Investitionen in Wirtschaft und Wohnen ist die Inwertsetzung der grünen Infrastruktur innerhalb der Stadt und in der Umgebung. Hierzu hat Exeter Wild City ein Fünf-Jahres-Programm aufgestellt, welches verschiedene Maßnahmen rund um die Wahrung und Förderung urbaner Wildnis beinhaltet, darunter ein Biodiversitätsmonitoring, Umweltbildung zum Thema Wildnis in der Stadt, Baumpflanzaktionen und Wildlife-Gardening – ein Projekt, bei dem Hausgärten in der Stadt als Mini-Wildnis-Bereiche gefördert werden. Exeter Wild City arbeitet dabei mit einer wachsenden Zahl lokaler Partner zusammen, u.a. mit Schulen und gesellschaftlichen Gruppen im Stadtgebiet. Mehr Informationen unter:

http://www.devonwildlifetrust.org/exeter-wild-city/

Grande-Synthe, Frankreich: Grande-Synthe liegt am Ärmelkanal nahe der belgischen Grenze.

In den 1960er Jahren begann die großangelegte Ansiedlung von Schwerindustrie den bis dahin ländlich geprägten Ort grundlegend zu verändern, die Bevölkerung wuchs um ein Vielfaches.

Bis heute wird die Stadt von der Schwerindustrie geprägt.

Seit 1995 wurden große Anstrengungen unternommen, die Stadt grüner zu machen um die Lebensqualität zu erhöhen. Heute leben 95 % der Bevölkerung weniger als 300m von einer Parkfläche entfernt. 170 Apfel- und Birnensorten sind in der Stadt zu finden.

Das „Niemandsland“ zwischen dem Siedlungsgebiet und den Industriefabriken wurde zu einem Naturpark entwickelt, in dem seltene Insekten- und Vogelarten zu finden sind. Hier hat sich ein besonderes Ökosystem entwickelt, das vielfach wissenschaftlich untersucht wurde. Wege und Informationstafeln erlauben lehrreiche Spaziergänge.

Städtische Nationalparks in Finnland: In Finnland wurde eine neue nationale Schutzgebietskategorie eingeführt, um speziell Natur in und rund um Städte zu schützen:

städtische Nationalparke (National Urban Park – NUP). NUPs werden vom Finnischen Umweltministerium ausgewiesen und befinden sich im unmittelbaren Umfeld vom Siedlungsbereich von Städten. NUPs beinhalten meist Seen, Wälder und Offenland, können aber auch bebaute Bereiche umfassen.

NUPs wurden als Antwort auf die Urbanisierung eingerichtet, die mit einer immer kompakteren Bebauung finnischer Städte einhergeht und die urbane Grünbereiche immer wieder in Bedrängnis bringt. Das finnische NUP-Konzept hat sich bewährt, bedeutende Naturgebiete im städtischen Umfeld zu bewahren. Kriterien für die Ausweisung von NUPs sind:

 Naturbereiche mit Bedeutung für den Schutz der Biodiversität,

 Kulturelle Werte: Grünbereiche mit historischer und/oder ästhetischer Bedeutung, bei Bedarf auch mit dazugehörigen Gebäuden;

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 Ökologische Korridore, die für Tierwanderungen und Populationsaustausch wichtig sind und städtische Naturflächen mit dem Außenbereich verbinden.

Die Ausweisung neuer NUPs wird von den Städten selbst angeregt, die sich mit geeigneten Flächen beim Umweltministerium für eine Ausweisung bewerben. Die lokalen Akteure, wie Verwaltung, Bürgerschaft, Naturschützer und weitere Akteure, müssen im Vorfeld eingebunden worden sein.

Die Schutzgebietskategorie wurde eigens so ausgerichtet, dass der Status und die Ausdehnung im Nachhinein nicht mehr angetastet werden können, z.B. bei sich ändernden Mehrheitsverhältnissen im Kommunalparlament. Lediglich Vergrößerungen sind möglich, was in einigen bereits bestehenden NUPs derzeit angestrebt wird. Derzeit gibt es fünf NUPs in folgenden finnischen Städten: Hämeenlinna, Heinola, Pori, Hanko und Porvoo. Ein Ziel ist ein Netzwerk von NUPs, in dem jeder Park eine besondere Rolle spielt. Jeder NUP reflektiert die besonderen Gegebenheiten seiner Stadt. Im größeren Maßstab sollen die NUPs mit anderen Schutzgebieten verbunden werden, z.B. mit Nationalparken.

Weltweit:

Boulder, Colorado, USA: Die Stadt Boulder besitzt und unterhält über 18.000 ha Land in der Stadt und im umliegenden Bezirk (Boulder County). Schon 1967 wurde ein Freiflächenprogramm aufgelegt, indem die BürgerInnen der Stadt sich selbst eine Steuer auferlegten, mit der die Stadt Freiflächen kaufen und langfristig sichern konnte – als erste Kommune in den USA.

Im Rahmen des Freiflächenprogramms werden Flächen gekauft, unterhalten und gesichert sowie bestimmten Nutzungen zugeführt, z.B. Natur- und insbesondere Auenschutz, Erholung, Landwirtschaft, usw. Freiflächen dürfen nach dem Erwerb nur dann aktiv aufgewertet werden, wenn entsprechende Maßnahmen notwendig sind um die Fläche für die vorgesehene Nutzung zu schützen oder zu erhalten.

Bemerkenswerte 67% von Boulder County (39.254 ha) unterliegen einer Schutzgebietskategorie, davon sind 60% für die Öffentlichkeit zugänglich. Boulder County ist ein herausragendes Beispiel für die Naturschutzvision Nature Needs Half (www.natureneedshalf.org). Dies bedeutet die Koexistenz mit 500 Tierarten (auch Raubtiere wie Pumas, Schwarzbären, Elche etc.) und einer Vielzahl an Ökosystemen (Prärie, Wälder, Berggipfel) sowie rund 370 km Wanderwege. Dies macht es möglich, von der eigenen Haustür zu einer Baumgruppe zu laufen, die seit der letzten Eiszeit existiert, oder eine seltene Schmetterlingsart zu entdecken, die auf eine einzige Blumenart angewiesen ist.

Bei 5 Mio. Besuchern pro Jahr hinterlassen Wanderer, Hunde und Mountainbike-Fahrer ihre Spuren in den Naturflächen von Boulder. Wege erodieren, wildlebende Tiere werden gestört und invasive Arten werden verbreitet. Diese Belastungen lassen immer wieder Konflikte entstehen zwischen den Erholungssuchenden bzw. den Anbietern von Outdooraktivitäten und den Verfechtern des segregativen Naturschutzes. Kluge Managementkonzepte sind für dieses bemerkenswerte Beispiel von urbaner Wildnis unabdingbar, um auch weiterhin die Vielzahl an damit zusammenhängenden Ökosystemdienstleistungen zu erhalten.

Text (gekürzt): Vance G. Martin, Präsident der WILD Foundation mit Sitz in Boulder, Colorado (www.wild.org). Ungekürzter Text ist verfügbar bei der DUH und lag beim Workshop aus.

Quellen: http://www.bouldercolorado.gov; www.natureneedshalf.org; Austin Perez.

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Chicago Wilderness Alliance, Chicago, Michigan, USA

Die Region Chicago erstreckt sich über mehr als 38 Verwaltungsbezirke und 500 Kommunen in vier Bundesstaaten. Über 10 Millionen Menschen leben hier, mehr als 234 ha Land stehen unter Schutz. Die Region ist geprägt durch eine komplexe Natur mit vielen verschiedenen Landschaftsräumen: Prärie, Wälder, Savannen, Dünen, Feuchtgebiete, Flüsse und Seen.

Chicago Wilderness Alliance ist ein regionaler Zusammenschluss von Organisationen und Institutionen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Menschen wieder mit der Natur zu verbinden. Die Allianz wurde 1996 von 34 Organisationen gegründet. Heute gehören ihr mehr als 260 Verbände und Verwaltungseinheiten an, von denen derzeit drei Viertel der Mitglieder Nichtregierungsorganisationen sind.

Das Ziel ist es, die Lebensqualität für Mensch und Tier zu verbessern, indem Ländereien und Gewässer unter Schutz gestellt und Naturgebiete aktiv geschützt, entwickelt und renaturiert werden. Modellhafte Regelungen und Positionspapiere werden veröffentlicht um Renaturierungen voranzubringen. Die Allianz erstellte mehrere regionale Planungswerke, wie z.B. der Biodiversity Recovery Plan (Plan zur Wiederherstellung der Biodiversität) und die Green Infrastructure Vision (Vision für eine grüne Infrastruktur).

Daneben gehört Umweltbildung zu den Kernaufgaben der Allianz. Unter dem Titel „Leave No Child Inside” (etwa: Lasst keine Kinder im Haus) koordiniert die Allianz Programme und regionale Kampagnen um das Bewusstsein zu stärken, dass Kinder dringend eine Verbindung mit der Natur brauchen. Und zwar einerseits um ihrer Gesundheit und einer gesunden Entwicklung willen, andererseits aber auch um sicherzustellen, dass auch künftige Generationen noch Natur wertschätzen und schützen werden.

Weitere Informationen: www.chicagowilderness.org

Singapur

Rund 4.5% der Landesfläche von Singapur (5.2 Mio. EinwohnerInnen) sind Parks und Schutzgebiete. Nahe des Äquators gelegen, ist im Stadtstaat eine reiche Biodiverstät zu finden.

Die Grünflächen reichen von großen Nationalparken zu kleinen Parkanlagen, Spielplätzen und Gartenanlagen. Ein Biotopverbundsystem („Park Connector Network”, etwa: Park-Verbindungs-Netzwerk) verbindet diese Grünflächen miteinander.

Die Nationale Biodiversitätsstrategie von Singapur deckt verschiedenste Bereiche ab, die die biologische Vielfalt berühren, wie z.B. der Ablauf von politischen Entscheidungsprozessen.

Partnerschaften mit allen Interessensgruppen, aber auch internationale Kollaborationen, sollen gestärkt werden. Die Bewusstseinsbildung der Bevölkerung für ihre natürliche Umgebung gehört zu den wichtigsten Arbeitsbereichen. Die Bevölkerung wird inspiriert und dafür begeistert, selbst einen Beitrag für eine grünere Stadt zu leisten. Singapurs Engagement für den Naturschutz zeigt sich auch daran, dass Singapur mit großem Einsatz die Entwicklung des City Biodiversity Index (CBI or “Singapore Index”) initiert hat und weiterhin begleitet (www.cbd.int/authorities/gettinginvolved/cbi.shtml).

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