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Unterschiede in der Behandlung der Referenzsysteme

Im Dokument DIE SELBSTAUSLEGUNG DES WORTES (Seite 160-170)

Wie beim jüdischen Zeichensystem, so bezieht sich Joh auch beim christlichen in besonderem Maße, aber - wie wir sehen werden - nicht ausschließlich auf die schriftlichen Elemente des Zeichensystems, also auf ihm vorliegende Texte.

Das liegt sicher nicht zuletzt daran, daß das JohEv selbst Text und sich dieser Tatsache auch bewußt ist.537 Damit hängt die Betonung des Wortes im JohEv zusammen, die wiederum die Tendenz verstärkt, gerade die verbalen Elemente der Referenzsysteme heranzuziehen. "Die Elemente, aus denen die Welt des Johannes erbaut ist, sind Texte der Bibel [...] Die Texte der jüdischen Bibel [sind] das Fundament, auf dem der ganze Bau ruht. Ist sie es doch, die für Jesus als Zeugin eintritt (5,39); und hat in ihr doch Mose von ihm geschrieben (5,45f). Aber auf diesem unverrückbaren Fundament baut Johannes dann auch mit Elementen ganz anderer Provenienz weiter, nämlich vor allem mit den Texten aller drei synoptischen Evangelien."538

Dennoch gibt es deutliche Unterschiede in der Art der Referenzen.

1. Heilige Schrift?

Wie Joh mit seinen Referenzsystemen umgeht, können wir am besten daran erkennen, wie er das Referenzsystem heranzieht, daß er selbst explizit nennt, nämlich "die Schrift"539, d.h. das AT. Uns steht "in der höchst subtilen Art, wie Johannes mit alttestamentlichen Texten umgeht, die für ihn als

537 Vgl. das Kapitel über Selbstreferenz.

538 THYEN, Erzählung 2022f.

539 Zu den Belegen vgl. das entsprechende Kapitel.

Heilige Schrift erklärtermaßen verbindlich sind, ein reales Modell für die Art der von ihm geübten Intertextualität zu Verfügung".540

Zu "der Schrift" sind zur Zeit des JohEv nun aber einzelne Schriften, vielleicht auch schon erste Schriftsammlungen (Paulus-Briefe) hinzugetreten, die aber nicht ohne weiteres die Stellung Heiliger Schriften einnehmen. Selbst die späten ntl Autoren, sogar diejenigen, die man als deutero-kanonisch bezeichnen kann, weichen die Grenzen zwischen AT und christlichen Schriften nicht auf.

Neben das Heilige Buch tritt eine Reihe von Schriften (Bild 1), die zunächst Heilige Schriften, dann schließlich auch Heiliges Buch werden, aber nicht indem sie dem ursprünglichen Heiligen Buch einverleibt würden, sondern als eine Art "zweiter Band" (Bild 2).

Zugleich legt sich im christlichen Zeichensystem das NT als transparente Umhüllung um das AT herum (Bild 3). Das NT wird damit zur Leseanweisung des AT.

Abbildung 2: Heilige Texte

Als Joh sein Evangelium verfaßt, herrscht noch die Situation von Bild 1. Auch Joh bezeichnet die synoptischen Evangelien nie als (Heilige) Schrift. Sie werden nicht explizit so genannt, und es finden sich auch keine Zitationsformeln.541 Mit Schlußfolgerungen aus diesem Befund sollte man aber vorsichtig sein; schon in der Behandlung des AT gibt es neben Zitaten auch mehr oder weniger deutliche Anspielungen. Joh könnte die Synoptiker bereits als Heilige oder zumindest autoritative Schriften aufgefaßt haben, nicht aber als "die Schrift".

540 THYEN, Johannes und die Synoptiker 88.

541 Vgl. das Kapitel über AT-Zitate.

AT AT NT AT

NT

Bild 1 Bild 2 Bild 3

2. Textsortendifferenz

Ein weiterer Unterschied zwischen den Beziehungen des JohEv zu atl und denen zu ntl Texten liegt in den Textsorten begründet.

Denn die Möglichkeiten eines Textes, auf andere Texte Bezug zu nehmen, hängen nicht zuletzt von den jeweiligen Gattungen ab. So ist es in einem Brief völlig unproblematisch, ja manchmal sogar unabdingbar, andere Texte (z.B. andere Briefe) zu erwähnen. Überaus schwierig wäre es hingegen, in einem Evangelium andere Evangelien zu erwähnen.542

Joh teilt mit den Synoptikern den "Stoff", nämlich das Christus-Ereignis. Wie seine Mit-Evangelisten möchte er die Geschichte Jesu erzählen und deuten. Der narrative Charakter der Gattung "Evangelium" macht es unmöglich, dabei auf parallele Texte zu verweisen wie in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Die Figuren im Text können die anderen Evangelien nicht kennen: Jesus z.B. kann sich unmöglich auf die Synoptiker beziehen, wie er sich ständig auf das AT bezieht. Ähnliches gilt für den Erzähler, wenn die Fiktion der Unmittelbarkeit oder gar Augenzeugenschaft aufrechterhalten werden soll: Er kann sich nur auf das in den synoptischen Evangelien Erzählte, nicht aber auf ihre Erzählung berufen.

Explizite Referenzen auf die Synoptiker wären also überhaupt nur im Rahmen (Prolog und Schlußbemerkungen543) und in den aus der Erzählebene herausstehenden Erzählerkommentaren möglich. Faktisch finden sich aber auch hier keine expliziten Verweise, wahrscheinlich schon deshalb nicht, weil der Erzähler eben nicht mit dem Autor identifiziert werden darf (m.E. in diesem Fall nicht einmal mit impliziten Autor). Der (allwissende) Erzähler kennt zwar die story von Anfang bis Ende, doch er kennt nur seine eigene Textwelt und keine andere.

Diese Textwelt darf man sich übrigens nicht zu eng vorstellen: Der joh Erzähler verfügt über ein mit den Lesern gemeinsames Repertoire, aus dem er seinen Text komponiert. So kann er in 6,66 "die Zwölf" quasi aus dem Nichts hervorzaubern und in 11,2 auf Maria als eine bekannte Figur einführen, obwohl sie noch gar nicht aufgetreten ist. Auf fremde Texte, die auf derselben Stufe stehen wie er selbst, kann er hingegen nicht verweisen. (Natürlich kann prinzipiell der Erzähler eines Romans z.B. auf andere Romane verweisen, aber eben nicht so, daß die Erzählfiktion durch-brochen würde. Er darf sich also nicht mit den erwähnten Werken auf eine Stufe stellen.)

Weil das JohEv ein Evangelium ist, kann es also die anderen Evangelien nicht zitieren.544

542 Nur Lk (1,1) erwähnt tatsächlich andere Jesus-Erzählungen - aber eben im Proömium.

543 S.u. S.187.

544 An einigen Stellen nähert es sich dem Zitat in erstaunlichem Maße. S.u. S.203.

Statt in Zitaten sind die Synoptiker in Paralleltexten präsent. Die Beziehung wird also nicht durch explizite Referenzen hergestellt, sondern durch Ähnlichkeit, im Großen durch das pattern "Evange-lium", im Kleinen besonders durch die Parallelperikopen.

Wie die Synoptiker nicht zitiert werden können, so kann das AT nicht nacherzählt werden, weil hier anderer Stoff vorliegt. Gerade die Bindung der Evangelien an die Geschichte macht es ihnen unmöglich, die Geschichten des AT auf Jesus zu übertragen. Nur in seltenen Fällen wie bei der Auferweckung des Jünglings zu Nain (Lk 7,11-17) erhält ein atl Erzähl-Text im NT eine Parallele.

Dafür zeigt das AT gerade im JohEv eine starke Präsenz in Zitaten und Anspielungen.

Die unterschiedliche Art, in der die (Heiligen) Texte der Referenzsysteme im JohEv vorkommen, sagt also zunächst nichts darüber, ob etwa Joh die atl Texte kannte, von den Synoptikern aber nur mündliche Überlieferung, oder ob das AT einen anderen Grad an Verbindlichkeit für Joh besaß als die synoptischen Evangelien.

B. Methodik

3. Intertextualität

Auf der Suche nach einem der Systemtheorie entsprechenden literaturwissenschaftlichen Konzept, das sich auf Texte und ihre Fremdreferenzen anwenden läßt, stößt man auf den Begriff der "Inter-textualität". Nun ist "Intertextualität" nicht einfach Systemtheorie im Bereich der Literatur, vielmehr wird auch unter Literaturwissenschaftlern von Systemtheorie gesprochen - allerdings vorwiegend angewandt auf das soziale System Literatur.545

Dennoch läßt sich das Intertextualitätskonzept als systemisches Denken in Anwendung auf Texte verstehen. Stichworte wie "System" oder "Element" finden sich denn auch in den einschlägigen Veröffentlichungen immer wieder.546

545 So beiS.J.SCHMIDT, Selbstorganisation. Hier zeigt sich, wie sehr die Rezeption systemtheoretischer Überlegungen in Deutschland von den Arbeiten LUHMANNS geprägt ist.

Umfassender, wenngleich ebenfalls von LUHMANN hergeleitet, ist die Aufnahme bei SCHWANITZ, Systemtheorie. Die Beziehungen zwischen Texten behandelt SCHWANITZ aber nun gerade nicht, was vermutlich ebenso mit seiner Abhängigkeit von LUHMANNS Theorie zusammenhängt wie mit seiner Auseinandersetzung mit Strukturalismus und Dekonstruktivismus. Die Beispiele, an denen er seine "systemtheoretische" Interpretation vorführt, sind allerdings hochgradig intertextuell (aufgrund der vorausgesetzten identischen Tiefenstruktur), und bei den in die systematische Darstellung eingeschobenen Dialogen zwischen Personen aus Literatur und Literaturgeschichte handelt es sich sogar um echte Palimpseste.

546 Als Beispiel sei hier PFISTER, Konzepte, in: Intertextualität 19, angeführt: "Ein einzelner literarischer Text hat so selbst Systemcharakter und ist gleichzeitig die Aktualisierung übergreifender Systeme wie etwa der Gattung, und die Gattung ist ein System und gleichzeitig die Aktualisierung abstrakterer Systeme wie der überhistorischen Schreibweise oder der Sprache.".

Der Begriff "Intertextualität" wurde Ende der sechziger Jahre von JULIA KRISTEVA in die Diskussion gebracht.547 Seitdem hat sich eine weite Debatte um den Begriff entsponnen, die bislang zwar zu vielen interessanten Überlegungen, aber kaum zu einer einheitlichen Terminologie, geschweige denn Theorie oder gar Methodik geführt hat.

Man kann heute zwischen einer engeren und einer weiteren Verwendung des Begriffs

"Intertextualität" unterscheiden: Die weitere tendiert in Richtung einer allgemeinen Kulturtheorie.

Alles ist Text und jeder Text ist intertextuell (so schon bei KRISTEVA). Aber "ein Konzept, das so universal ist, daß zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischen Potential für die Analyse und Interpretation."548 Die engere Fassung des Begriffs beschränkt sich dagegen auf Texte im herkömmlichen Sinn und unterscheidet intertextuelle und nicht-intertextuelle Texte.Intertextualität wird dabei auch auf den Kommunikationsprozeß zwischen Autor und Leser bezogen.549 Während der weitere Begriff von Intertextualität sich auf die Rezeptionsseite beschränkt, kommt hier also zusätzlich die Textproduktion in den Blick. BROICH/PFISTER sprechen von einem "Kernbereich" der Intertextuali-tät, wo sie bewußt, intendiert und markiert ist und sich ein Text auf "einen bestimmten, indivi-duellen Prätext bezieht".550 Es gibt also nach dieser Definition mehr und weniger intertextuelle Texte.

Nur diese engere und die Produktion mit einbeziehende Verwendung von "Intertextualität" läßt sich auf die Beziehung zwischen konkreten Texten anwenden und damit auch in die Analyse einzelner Texte einbringen.551

Daneben läßt sich auch ein innerer und äußerer Begriff von Intertextualität feststellen, der ebenfalls mit der Frage, wie Textualität definiert wird, zusammenhängt. Bei der inneren Verwendung meint man die Beziehung der Teiltexte innerhalb eines Gesamttextes (also beispielsweise das Verhältnis

Auch THYEN charakterisiert übrigens - zumindest indirekt - den Text als System, wenn er das Verhältnis von Text und Lektüre mit dem von langue und parole parallelisiert und dabei die Sprache als "offenes System" bezeichnet (Johannes und die Synoptiker 93).

547 Vgl. "Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman", zuerst veröffentlicht in: Critique 23 (1967) 438-465, zitiert gewöhnlich nach der revidierten Wiederveröffentlichung in: Shmeiwtikh. [sic!]. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969, 143-173. Das Wort "intertextualité" wird auf S.146 eingeführt.

548 PFISTER, Konzepte, in: INTERTEXTUALITÄT 15.

549 Vgl. BROICH, Formen, in: INTERTEXTUALITÄT 31.

550 BROICH, Einzeltextreferenz, in: INTERTEXTUALITÄT 48. Es ist offenkundig, daß hier an die Produktion des Textes gedacht ist. "Bewußt" ist die Intertextualität auch einem Plagiator oder Fälscher, doch er "intendiert" nicht, daß auch der Leser sie bemerkt. Manchem Autor hingegen ist es keineswegs "bewußt", wie sehr er von anderen Texten abhängt.

551 Für eine Aufnahme des weiten Intertextualitätsbegriffes in der ntl Exegese vgl. PHILLIPS, Sign/Text/Différance, für eine des engeren Begriffs VORSTER, Intertextuality and Redaktionsgeschichte.

zwischen Verleugnung des Petrus in Joh 18 und dem Gespräch zwischen dem Auferstandenen und Petrus in Joh 21), bei der äußeren die Beziehung zwischen Gesamttexten (also etwa zwischen JohEv und LkEv, greifbar häufig an Teiltexten der verschiedenen Texte, vgl. die unten ausgeführten Bei-spiele). Die innere "Intertextualität" sollte besser als "Intratextualität" bezeichnet werden.552 Systemtheoretisch gesehen handelt es sich dabei um einen Fall von Selbstreferenz, während Intertextualität die Außenreferenz eines Textes zu anderen Texten meint.

Die Grenzziehung zwischen Text und Teiltext ist nicht so willkürlich, wie sie zunächst scheinen mag. Der Text ist ein vollständiges Ganzes. Ist nicht aber auch das JohEv z.B. Teil eines Ganzen, etwa des ntl Kanons? Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied: Die kanonische Redaktion greift nicht mehr in den Text ein, nimmt also z.B. keine Umstellungen innerhalb der Einzeltexte mehr vor; ihre Arbeit ist eher herausgeberischer Natur.

Von "Text" muß da gesprochen werden, wo die Gestaltung des Ganzen die Gestaltung der einzelnen

"Teile" bis ins Detail - also bis in den Wortlaut - mit einschließt. Für den Text sind seine Teiltexte nichts unveränderlich Vorgegebenes außerhalb seiner selbst. Aus der Perspektive der Produktion betrachtet: der Autor ist frei nicht nur in der Auswahl und Abfolge der Teiltexte, sondern er ver-fertigt sie in einem Akt freier Schöpfung (Poiesis), wobei die Beziehungen der Teiltexte untereinander ein wesentlicher formgebender Faktor sind. Das Ganze ist hier nicht nur mehr als die Summe der Teile - dieser Beschreibung würde ungefähr die Sicht der literarkritischen Schule von den Evangelien als gesammelter und redigierter Tradition entsprechen -, sondern die "Teile" sind nur von der Gesamtheit, vom System her zu verstehen. "Alle seine [scil. des JohEv] Textteile und Teiltexte bis hinunter zur Satzebene müssen aus dem Ganzen des Evangeliums und als dessen Konstituenten begriffen werden [... Sie sind] in ihrer primären und für die Textinterpretation allein relevanten Funktion nichts als die Elemente, aus denen die inspirierende Textwelt des Evangeliums erbaut ist."553

Das Verhältnis zwischen Text und Teiltext entspricht in etwa dem zwischen System und Subsystem.

Bei Intertextualität in diesem engeren und äußeren Sinne, die von nun an mit diesem Wort gemeint sein wird, lassen sich ein "Hypotext" und ein "Hypertext" unterscheiden. Der Hypotext geht dem

552 Eine abgestufte Reihe von Intertextualität bis Intratextualität bietet BROICH, (Einzeltextreferenz, in:

INTERTEXTUALITÄT 49f), wobei etwa an vorangegangene Texte desselben Autors oder derselben Reihe gedacht ist. Das ist zwar bedenkenswert, scheint mir aber das Problem der Herausgabe, die den Text zeitlich abschließt und ihn von seinem Autor ablöst, etwas zu vernachlässigen. In der Terminologie von GENETTE handelt es sich hier um paratextuelle Verstärkung.

553 THYEN, Johannes 10, 116f.

Hypertext zeitlich und logisch voran. Besonders deutlich ist das bei allen expliziten Referenzen, also z.B. bei kenntlich gemachten Zitaten wie den Erfüllungszitaten im JohEv.

Diese Terminologie von "Hypo-" und "Hypertext" ist bei GÉRARD GENETTE entlehnt, dessen Modell unterschiedlicher Intertextualitätstypen sich für das Problem "Johannes und die Synoptiker" in mehrfacher Hinsicht als hilfreich erweist.554

1) Genette

Als Oberbegriff benutzt GENETTE "Transtextualität" statt des sonst üblichen "Intertextualität".555 Er unterscheidet dann fünf Arten zwischentextlicher Außenreferenzen:

1. Intertextualität: Damit bezeichnet GENETTE die "effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text"556. Zu denken ist dabei an Zitate, wörtliche Entlehnungen (ohne Offenlegung der fremden Herkunft) und Anspielungen.

2. Paratextualität: Paratexte sind Titel, Vorworte, Fußnoten, Illustrationen, Umschlag etc. Sie legen sich um den eigentlichen Text herum und bilden einen Grenzbereich zwischen Text und Außenwelt. GENETTE nennt sie deshalb auch "seuils" (Schwellen).557

3. Metatextualität: Davon kann gesprochen werden, wenn ein Text über einen anderen Text vorliegt, also ein Kommentar.

4. Hypertextualität: Hypertexte sind Texte zweiten Grades, Palimpseste über noch durchscheinenden Grundtexten.

5. Architextualität schließlich ist "eine unausgesprochene Beziehung, die bestenfalls in einem paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Ausdruck kommt"558, wenn also unser Text mit dem Titel "Johannesevangelium" o.ä. umläuft. Hierbei handelt es sich

554 Die Terminologie GENETTES hat bereits THYEN mit der Übernahme des Palimpsest-Begriffs in die Joh-Exegese eingeführt.

555 Die Begrifflichkeit GENETTES hat sich Laufe der Zeit verschoben. Die hier dargestellte Einteilung ist die aus

"Palimpsestes. La littérature au sécond degré" aus dem Jahre 1982. In diesem Buch behandelt GENETTE hauptsächlich die Hypertextualität. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung.

556 GENETTE, Palimpseste 10.

557 Den Paratexten hat GENETTE ein eigenes Buch gewidmet, dessen französischer Titel "Seuils" lautet, das in der der Übersetzung aber "Paratexte" heißt.

558 GENETTE, Palimpseste 13.

zumindest auf den ersten Blick - nicht um eine Beziehung zu einem individuellen Text, sondern zu einer Gattung.559

2) Anwendung auf das JohEv

Besonders deutlich und von HARTWIG THYEN bereits eindrucksvoll vorgeführt560 sind die Möglichkeiten, die sich für die Joh-Exegese aus dem Konzept der Hypertextualität ergeben: Joh Teiltexte lassen sich so als "Palimpseste"561 synoptischer Texte begreifen. FRANÇOIS VOUGA

bezeichnet sogar das gesamte JohEv als "Palimpsest".562

Aber auch die anderen Kategorien GENETTES lassen sich zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Joh und den Synoptikern gewinnbringend heranziehen. Allerdings sollte man dazu einige kleine Anpassungen an die konkrete Problemstellung vornehmen:

GENETTE spricht von "Intertext", wenn der andere Text im Text selbst gegenwärtig ist, von

"Hypotext" wenn er lediglich durchscheint. Ein Erfüllungszitat also wäre Intertext. Häufig läßt sich beides aber nicht so einfach trennen bzw. unterscheiden. Das Zitat in Joh 6,31 z.B. (Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen.) ist eben nicht nur Intertext - das ist es als Basis der Brotrede -, sondern auch Hypotext, oder zumindest Markierung des Hypotextes des Speisungswunders.

Von "Hypo-" und "Hypertext" spreche ich darum manchmal auch bei Phänomenen, die in GENETTES

Raster unter "Intertextualität" fallen, und - da die grundlegenden Texte ja nicht zufällig in beiden Fällen dieselben sind - auch in bezug auf die Architextualität.

Die Parallelperikopen können als Intertext aufgefaßt werden. Sie dienen nicht zuletzt zur Markierung des intertextuellen Bezuges. Im Zusammenspiel von Identität und Nicht-Identität mit ihren synoptischen Entsprechungen, also durch ihre Hypertextualität, stellen sie diese in neue Zusammenhänge.

559 Architextualität ist also mit der Terminologie von BROICH eine "Systemreferenz" im Gegensatz zur

"Einzeltextreferenz". Daß die Abgrenzung oft alles andere als eindeutig ist, gesteht BROICH (Einzeltextreferenz, in:

INTERTEXTUALITÄT, 51) ebenso ein wie GENETTE (Palimpseste 18).

560 Vgl. v.a. "Erzählung".

561 Das Wort "Palimpsest", das auch THYEN in bezug auf joh Teiltexte aufgenommen hat, ist etwas irreführend: Gewählt aufgrund der Analogie, daß ein Text durch einen anderen durchscheint, ist die Beziehung zwischen den beiden Texten doch hier keine zufällige wie bei den Palimpsesten im eigentlichen Wortsinn. Es gibt kein "Pergament", kein materiales Drittes. Im einen wie im anderen Falle handelt es sich um eine Art "Recycling": dort des Schreibmaterials, hier aber des Textes selbst.

562 Vgl. VOUGA, Quatrième évangile 274: "Selon les catégories de l'histoire littéraire, le genre de l'évangile de Jean est celui du palimpseste [...]." Bei VOUGA verbindet sich damit allerdings - anders als bei THYEN - das Modell einer

"Stufenhermeneutik", das eher eine "Überbietungs-" als eine "Interpretationstheorie" darstellt.

Zusammen mit den "Widersprüchen" wirken die joh Paralleltexte hinsichtlich des synoptischen Hypotextes auch als Metatext. Es zeigt sich, daß Joh die Synoptiker nicht nur bestätigt, sondern zu ihnen auch in Spannung steht, und eine solche "differenzierte Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme" stellt das "Optimum an Dialogizität" dar.563

Als Metatext ist auch das JohEv insgesamt in seiner Beziehung zu den synoptischen Evangelien aufzufassen. Es ist ein "theologischer Commentar"564 zu ihnen und kann, da es zu ihnen gleichzeitig in einem architextuellen Bezug steht, d.h. derselben Gattung angehört, als Meta-Evangelium bezeichnet werden.

Obwohl man auch die Architextualität der Teiltexte des JohEv untersuchen könnte, betrifft die sehr viel interessantere Frage hier doch den Gesamttext: Inwiefern ist das JohEv ein Evangelium?

Die architextuelle Zuordnung erfährt schließlich paratextuelle Verstärkungen: Titel, Reihe, Anordnung in der Reihe leiten die Rezeption des Textes.565

Um das Verhältnis zwischen Johannes und den Synoptikern zu beschreiben, berufen sich unter den deutschsprachigen Auslegern bereits HARTWIG THYEN und ULRICH BUSSE ausdrücklich auf das Konzept der Intertextualität.566

3) Markierungen

Es läßt sich nicht bestreiten, daß man das JohEv in Hinsicht auf die synoptischen Evangelien intertextuell lesen kann. Schließlich ist das in der Kirche fast zwei Jahrtausende lang geschehen. Ist diese Lesart aber auch vom Autor gewollt? Ist die Intertextualität "bewußt, intendiert und markiert"567? Oder anders formuliert: Kannte Joh die synoptischen Evangelien und setzte er diese Kenntnis bei seinen Lesern voraus? Und wenn dem so war: "Wollte der vierte Evangelist die älteren

Es läßt sich nicht bestreiten, daß man das JohEv in Hinsicht auf die synoptischen Evangelien intertextuell lesen kann. Schließlich ist das in der Kirche fast zwei Jahrtausende lang geschehen. Ist diese Lesart aber auch vom Autor gewollt? Ist die Intertextualität "bewußt, intendiert und markiert"567? Oder anders formuliert: Kannte Joh die synoptischen Evangelien und setzte er diese Kenntnis bei seinen Lesern voraus? Und wenn dem so war: "Wollte der vierte Evangelist die älteren

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