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5. ERGEBNISSE DER QUALITATIVEN EMPIRISCHEN STUDIE

5.3. Umgang mit Unsicherheit und Wahrscheinlichkeiten

Die fehlende Möglichkeit der Vorhersage, welcher Patient von einer neoadjuvanten RT/CT profitieren wird, führt derzeitig dazu, dass den meisten Patienten eine solche empfohlen wird, damit keinem Patienten eine Therapie vorenthalten wird, die ihm potentiell geholfen hätte.

Ein zukünftiger Rektumchip wird ein bestimmtes Wissen über die Grundlage für das Ansprechen oder Nichtansprechen der Patienten auf die Therapie enthalten. Die Aussage des Tests wird ein Wahrscheinlichkeitswert bezüglich des Ansprechens und Nichtansprechens der Patienten auf die Therapie sein. Dabei wird ein solcher Test keine hundertprozentige Antwort darüber liefern können, ob der Patient wirklich ein Ansprecher oder ein Nichtansprecher ist. Es besteht immer eine Restwahrscheinlichkeit, dass der Test eine falsche Aussage liefert und der Patient aufgrund des Tests nicht richtig therapiert wird.

Da die Ärzte in Zukunft unter Umständen einen Test wie den Rektumchip benutzen, um Therapieentscheidungen für Patienten zu fällen, erscheint es wichtig, sie bezüglich ihrer Bewertung dieser Unsicherheit zu befragen. In diesem Zusammenhang muss ermittelt werden, wie sich diese Unsicherheit auf die Kommunikation mit dem Patienten auswirkt.

Dabei gab es vier Punkte, die bei der Befragung der Ärzte und Forscher hinsichtlich des Umgangs mit Unsicherheit auffielen. Diese im Folgenden behandelten Punkte stellen lediglich ein Ergebnis der Interviewanalyse dar, können jedoch nicht allgemein auf den Umgang mit Unsicherheit übertragen werden und stellen auch keine wissenschaftliche Theorie zum Umgang mit Unsicherheit dar. Sie beziehen sich erstens auf die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Testaussage, zweitens auf die Auswirkung auf die Therapieentscheidung, drittens auf den Stellenwert eines solchen Tests in der Therapie und viertens auf die Kommunikation des Testergebnisses mit den Patienten. Dabei gibt die Mehrheit der Ärzte und Forscher zu dem ersten Punkt an, dass man eine solche Unsicherheit weitestgehend von vornerein vermeiden müsse, indem man nur einen Test einsetzte, der mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit eine richtige Aussage mache (siehe 5.2). Bezüglich des zweiten Punktes müsse einer gewissen unvermeidbaren Unsicherheit des Tests, so einigen Ärzten zufolge, eher mit einer weiteren Übertherapie begegnet werden, um die Vorenthaltung einer potentiell kurativen Therapie zu vermeiden. Dies geht beispielsweise aus einer Aussage von KFO 17 hervor:

KFO 17: … ich würde eher etwas machen. [Es] … darf auf gar keinen Fall jemand untertherapiert werden. Im Zweifelsfall lieber jemanden operieren oder bestrahlen, der vielleicht nicht davon profitiert, als jemandem die Operation oder die Bestrahlung vorenthalten, der darunter leidet [keine kurative Therapie zu erhalten] (F11).

Hinsichtlich des dritten Punktes ist die Mehrheit der Ärzte und Forscher sehr kritisch und macht viele Bedenken geltend. Bezüglich des Stellenwertes eines solchen Tests gehen die Ärzte davon aus, dass man die Therapie nie komplett von einem solchen Test abhängig machen dürfe. Einer der Befragten sagte:

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KFO 11: Das geht ja nicht. Ich meine, du kannst ja nicht bei jedem Patienten eine intensivierte RT/CT machen, selbst wenn er der ideale Responder ist. … Wenn er von der Lunge dafür nicht geeignet ist, muss man das angleichen. So ein Test kann natürlich nicht eine ärztliche Entscheidung ersetzen (F10).

Es wird jedoch betont, dass gerade wenn der Test eine hohe Validität hat, dies dazu führen könnte, dass er einen hohen Stellenwert bezüglich der Therapieentscheidung einnehmen kann. Diesbezüglich sagte KFO 16:

KFO 16: Es mag sein, dass das bei einzelnen Erkrankungen einen hohen Stellenwert bekommt, wenn die Tests mit einer entsprechenden Treffsicherheit auch wirklich arbeiten und dann hat es in der Tat eine große Bedeutung, weil es dann eben tatsächlich zu dem führt, was propagiert wird, also zu einer individualisierten Krebstherapie.

Aber das setzt eben eine entsprechende Validität dieser Tests voraus (F10).

Dabei wird durchaus betont, dass in Zukunft die Gefahr bestünde, dass die Aussagekraft eines solchen Tests überbewertet und der Patient zu sehr auf das Testergebnis reduziert würde. Solche Aussagen spiegeln auch Bedenken der aktuellen medizinethischen Debatte von prognostischen Gentests wieder. Dort werden Bedenken geäußert, dass aufgrund einer solchen Testung andere Patientendaten vernachlässigt werden könnten (Kollek und Lemke 2008). Die Aussagen der Befragten zeigen, dass auf Seiten der Ärzte und Forscher durchaus ein Problembewusstsein hierfür entsteht. Sie schätzten sogar solch ein Szenario als durchaus realistisch ein. KFO 3 und KFO 5 sagten diesbezüglich:

KFO 5: Also es kommt natürlich immer individuell auf den Arzt drauf an. Es gibt Leute, die das gut einschätzen können, gut reflektieren können diese Tests und Patienten auch gut klarmachen können. Es gibt aber auch Ärzte, die sagen, der Test sieht so und so aus und sie müssen jetzt so oder so behandelt werden. Das ist unschön für den Patienten. So würde ich als Patient nicht behandelt werden wollen. Da wird vielleicht alles zu sehr reduziert auf diese Tests und der Patient geht dann in der immer moderner werdenden Diagnostik unter (F24).

KFO 3: Man muss die richtige Position für den Genomtest finden, damit man ihn nicht überbewertet (F24).

Der vierte Punkt, welcher auch von der Mehrheit der Ärzte und Forscher angesprochen wurde, ist die Kommunikation dieser Unsicherheit mit dem Patienten. Dabei wurde ihr eine große Bedeutung beigemessen, gleichzeitig jedoch auch auf die Problematik dieser Kommunikation eingegangen. Der Unsicherheit bezüglich eines möglicherweise falschen Testergebnisses müsse auf die Weise Rechnung getragen werden, dass das Testergebnis und sein Unsicherheitsfaktor ausführlich mit den Patienten besprochen werden. Dies kann anhand der Aussagen von KFO 14 und KFO 16 illustriert werden.

KFO 14: ich denke, was grundsätzlich ganz wichtig ist, ist das Gespräch mit dem Patienten, für mich zum mindesten. Dass man sagt: „Das ist so und so. So und so sind die Studienergebnisse. Das und das wissen wir.

Wir wissen z.B. anhand Ihres genetischen Profils, eine RT/CT-Therapie bringt nichts. Das ist aber auch eine Studie“. Ich denke, dass hängt dann auch sehr von dem Sicherheitsbedürfnis dieses Patienten ab. … Ich denke, dass muss man sehr gut mit dem Patienten besprechen und da denke ich, hat der Patient auch ein sehr großes Mitspracherecht (F11).

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KFO 16: Weil der Patient natürlich denkt, ich wüsste etwas, was mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zutrifft. Und das ist in der Regel dem Patienten eher schwer zu vermitteln, dass so etwas nicht existiert. … Und ich würde eigentlich in einem Gespräch immer darauf hinweisen, dass das nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutrifft. Und nicht als absolutes Maß der Dinge genommen werden kann.

Die Vermittlung dieser Unsicherheit sei schwierig, da die Kommunikation in vielerlei Hinsicht eine große Herausforderung sei. Dabei wurde von den Ärzten und Forschern erwähnt, dass die Aufklärung der Patienten und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient mit einer Reihe von Problemen behaftet seien und der Einsatz des Rektumchips durchaus einen Einfluss auf die Aufklärung des Patienten haben könnte. Da dieser Punkt auch im Kontext der insgesamt angesprochenen derzeitigen Problematik der Patientenaufklärung und der Arzt-Patienten-Kommunikation von Bedeutung ist, wird er in dem nächsten Kapitelabschnitt aufgegriffen.

Wenn man die Strategien des Umgangs mit Unsicherheit der Ärzte und Forscher in der Gesamtheit sieht, wird deutlich, dass moralische Entscheidungskonflikte eine Rolle spielen, die die Befragten unterschiedlich lösen. Die vier Punkte: die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Testaussage, das Verhalten unter Unsicherheit, der Stellenwert eines Rektumchips in der Therapieentscheidung und die Kommunikation des Testergebnisses mit den Patienten werden von der Mehrheit der Ärzte und Forscher benannt, jedoch unterschiedlich stark betont. Dabei kann die Art und Weise, wie einige Ärzte betonen, dass sie im Falle einer Unsicherheit eher ein Übertherapieren bevorzugen würden als eine verstärkte Annäherung oder Distanzierung zu gewissen Prinzipien gewertet werden. Die Betonung einiger Ärzte, dass ein solches Testergebnis besonders gut mit dem Patienten kommuniziert werden muss, kann als eine stärkere Annäherung an das Prinzip des Respekts vor der Autonomie des Patienten angesehen werden. Die Unterstreichung einer weiteren Therapie unter Unsicherheit könnte hingegen für die Bevorzugung eines eher paternalistischen38 Arzt-Patienten-Verhältnisses stehen (siehe 4.2.3). Unter dem Aspekt des Wohltuns versucht der Arzt hier, die seiner Meinung nach beste Entscheidung für den Patienten zu fällen. Hierdurch

38 Der Begriff Paternalismus bedeutet im medizinischen Kontext die väterliche Fürsorge des Arztes für den Patienten (Wolf 1989). Beauchamp und Childress gehen zur näheren Klassifizierung des Paternalismus und der ihm zugrundeliegenden Problematik auf die Unterscheidung von Joel Feinberg in einen „starken“ und einen

„schwachen“ Paternalismus ein (Beauchamp und Childress 2009). Ein stark paternalistisches Verhalten durch den Arzt beinhaltet hiernach Interventionen, die zum Wohle des Patienten sein sollen, obwohl der Patienten sich gegen diese Intervention ausgesprochen hat, informiert, freiwillig und autonom ist. Dies geschieht auch durch die Einschränkung der Informationen, die dem Patienten zugänglich sind und das Umgehen der informierten und freiwilligen Entscheidung des Patienten. Beispielsweise kann hier die Nichtunterrichtung von Eltern über die Prognose ihrer an Poliomyelitis38 erkrankten Kindern durch die behandelnden Ärzte in einer von Davis in den 1950er Jahren durchgeführten Studie herangezogen werden (siehe 4.2.3.1). Vom schwachen Paternalismus wird beispielsweise gesprochen, wenn ein Patient unter Umständen eigene Wünsche nicht äußern kann,

beispielsweise wenn er bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wird, aber davon ausgegangen werden kann, dass eine Behandlung im Sinne des Patienten ist und seinen Wünschen entspricht. Auch die Situation des Unterschreibens einer „Informierten Einwilligung“ wird von manchen Autoren als schwacher Paternalismus angesehen. Dies wird damit begründet, dass der Patient in dieser Situation unter Umständen etwas unterschreibt, um eine Behandlung zu erhalten, obwohl er das Geschriebene wohlmöglich nicht genau verstanden hat. Auf diese Weise dient die Informierte Einwilligung der Legitimation eines „schwach“ paternalistischen Verhaltens (Vossenkuhl 2009).

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werden allerdings die Prinzipien der Achtung der Autonomie des Patienten und der Nichtschädigung zurückgestellt. Wichtig ist es, dabei noch einmal anzumerken, dass sich die vier Prinzipien nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr ist es von Bedeutung, welche Aspekte die Ärzte und Forscher für wichtig erachten, sich eher dem einen oder einem anderen Prinzip anzunähern. Aus den in diesem Kapitelabschnitt zitierten Aussagen geht dabei immer wieder der Aspekt einer Verantwortung gegenüber dem Patienten hervor. Wie bereits beschrieben, unterscheidet sich dabei die Betonung einer starken Verantwortung hinsichtlich einer Aufklärung, die ein genaues Verständnis der Diagnostik und Behandlungssituation für den Patienten mit sich bringt, von der Betonung der Verantwortung, im Zweifelsfall zu therapieren.