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5. ERGEBNISSE DER QUALITATIVEN EMPIRISCHEN STUDIE

5.5. Mögliche Beeinflussung des Arzt-Patient-Verhältnisses

Mit dem Hintergrundwissen, dass eine gute Kommunikation während der Behandlung von hohem Stellenwert für den Patienten und dessen physiologisches und psychologisches Wohl ist (siehe 4.2.2), stellt sich die Frage, inwieweit der Einsatz von Tests wie dem Rektumchip die Möglichkeit hat, das Arzt-Patienten-Verhältnis und die ihm zugrunde liegende Kommunikation zu beeinflussen. Den Ärzten und wissenschaftlichen Mitarbeitern der KFO 179 wurde diesbezüglich die Frage gestellt, welche persönlichen Hoffnungen sie mit der Einführung eines Rektumchips innerhalb der Therapie des lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinoms verbinden würden und ob sie von Veränderungen im Arzt-Patienten-Verhältnis durch eine solche Einführungen ausgingen. Die Antworten variierten sehr stark.

Einige Ärzte gingen davon aus, dass sich durch den Einsatz eines solchen Tests kaum etwas am Arzt-Patienten-Verhältnis und der zugrundeliegenden Kommunikation ändern werde. Es sei lediglich ein zusätzlicher Test, der in die Diagnostik mit eingebunden werde.

Beispielsweise sagte KFO 1:

KFO 1: Ich glaube, da ändert sich nicht viel. Wir nehmen auch jeden Tag Labor[werte] ab. Ich glaube nicht, dass uns das weiter weg bringt vom Patienten... [und] in Richtung einer Labormedizin bringt (F24).

Einige andere wiederum vertraten die Meinung, dass ein solcher Test durchaus die Gefahr in sich berge, dass ein Arzt das Testergebnis überbewerten und hinter der immer moderner werdenden Diagnostik den Patienten übersehen könnte (siehe 5.3). Dies könne dazu führen, dass der Arzt sich beim Abwägen der Therapie zu stark auf ein solches Testergebnis verließe und sich von diesem die Therapieentscheidung abnehmen ließe. KFO 5 sagte:

KFO 5: Ja, es kann sein, dass der Arzt es sich zu einfach macht, vielleicht zur sehr auf den Test vertraut und sich dahinter versteckt (F24).

Dies könne zu einem geringeren Vertrauen des Patienten gegenüber dem Arzt führen, was weiter zu einem weniger positiven Arztbild seitens des Patienten führen könne. Es könnte jedoch einigen der Befragten zufolge auch dazu kommen, dass der Patient eine solche Testung als eine stärkere Auseinandersetzung des Arztes mit der Problematik von Nebenwirkungen und Therapiebedarf ansähe und sich damit das Verhältnis zwischen Arzt

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und Patient positiv verändere. Dies kann beispielsweise durch die Aussage von KFO 4 illustriert werden:

KFO 4: Also, ob sich das positiv entwickelt, weiß ich nicht. Es kann auch sein, dass der Arzt auf einmal von dem Patienten nicht mehr so positiv gesehen wird, weil der einfach nur noch so mit ein paar Flecken ankommt……Ich glaube, es wird sich positiv verändern, weil es zeigt, dass wir uns mehr um die Patienten kümmern(F24).

Es wurde außerdem angemerkt, dass die Einführung eines zukünftigen Rektumchips mit einer gesteigerten Erwartung des Patienten bezüglich des Therapieergebnisses verbunden sein könnte, da der Patient wahrscheinlich davon ausginge, er werde richtig kategorisiert und anschließend optimal therapiert. Eine möglicherweise steigende Erwartungshaltung wurde von KFO 16 aus mehreren Gründen als problematisch benannt. Zum einen gab er an, dass er sich durch die vermutete steigende Erwartungshaltung der Patienten belastet fühle, da er dieser nicht gerecht werden könne. Als Grund für die Erwartungshaltung gab er dabei die Vermutung an, dass die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsaussage des Tests nur schwer eingeschätzt werden könne:

KFO 16: Deswegen glaube ich eher, dass mich die Erwartungshaltung des Patienten belasten wird, weil der Patient natürlich denkt, ich wüsste etwas, was mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zutrifft. Und das ist in der Regel dem Patienten eher schwer zu vermitteln, dass so etwas nicht existiert.

Zum anderen stellte er die Vermutung an, dass Patienten durch einen solchen Test abhängiger vom Arzt würden, da sie selbst die Testergebnisse nicht interpretieren könnten.

Folglich müssten sie sich bei der anschließenden Therapiewahl besonders stark auf den Arzt verlassen. Ihm zufolge verliere der Patient dadurch allerdings nicht an Autonomie:

KFO 16: Der Patient wird abhängiger, da der Arzt mehr Wissen akkumuliert bezüglich der Prognose des Patienten und [der Arzt] kann diese nutzen, um bestimmte therapeutische Entscheidungen für den Patienten zu treffen. Der Patient verliert dadurch nicht an Autonomie, aber seine Rolle wird nicht gestärkt.

Wenn seine Vermutungen jedoch wirklich einträten, wäre dies bedeutsam für die autonome Entscheidung des Patienten. Von der Mehrheit der Ärzte wurde immer wieder geäußert, dass die Therapieentscheidung letztendlich beim Patienten läge. Ausgehend davon, dass der zukünftige Patient die Diagnosestellung immer weniger versteht, wird er jedoch keine fundierte eigene Entscheidung bezüglich der Therapie treffen können. Er wird sich, wie es auch schon in den vorherigen Kapiteln beschrieben wurde, am ehesten in seiner Entscheidung dem Vorschlag des betreuenden Arztes anschließen. Diesbezüglich kann die Forderung der Ärzte, dass am Ende der Patient autonom entscheiden soll, tatsächlich in vielen Fällen gar nicht erfüllt werden, da ihm häufig die Grundlage fehlen wird, eine autonome Entscheidung zu treffen.

Diese Gegebenheit ist für eine Analyse der moralischen Entscheidungskonflikte, die durch den Einsatz eines Rektumchips ausgelöst werden, von erheblicher Tragweite. Beauchamp und Childress zufolge kann ein Problem bei der Therapieentscheidung entstehen, wenn die

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Entscheidung des Patienten gegen die Empfehlung des Arztes ausfällt. In diesem Fallen entsteht ein moralischer Entscheidungskonflikt zwischen der Wahrung der Autonomie des Patienten und dem Wohltun für den Patienten, da davon auszugehen ist, dass der Arzt dem Patienten mit seiner Therapie helfen möchte (Beauchamp und Childress 2009). Dabei würden verschiedene der Befragten in der oben geschilderten Situation diesen Entscheidungskonflikt von vorherein vermeiden, indem dem Patienten keine wirkliche Autonomie in der Therapiesituation ermöglicht wird. Das Ergebnis wäre ein Arzt-Patienten-Verhältnis, welches viele Aspekte eines paternalistischen Verhältnisses enthielte und nur wenige Elemente einer partizipierten Entscheidungsfindung, wie sie vermehrt gefordert wird.

Zu einer weiteren möglichen Veränderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses durch die Einführung eines solchen Tests gehört auch, dass die Rolle des Arztes an sich beeinflusst werden könnte. Die meisten Befragten zeigten eine unterschiedliche Einstellung hinsichtlich der Beeinflussung der Arztrolle durch die Einführung eines Tests wie dem Rektumchip.

Positiv wurde erwähnt, dass ein solcher Test das „Bauchgefühl“, aufgrund dessen heutzutage Therapieentscheidungen häufig gefällt würden, durch eine EbM ersetzen könnte. KFO 4 sagte diesbezüglich:

KFO 4: In vielen [Krankenhäusern] wird [der Patient nach] der Entscheidung der Chefs [therapiert]. Der [eine]

Patient wird so therapiert, der [andere] Patient wird so therapiert, also aus dem Bauchgefühl und der persönlichen Erfahrung heraus. …Zwischen der rein persönlichen Entscheidung des Arztes … und der Randomisierung ...

[möchten] wir ein drittes Standbein haben. ... Mit dem wir vielleicht ein bisschen mehr evidenzbasiert, … bisschen mehr objektiv [behandeln können]. … Dass man sagt: „ So sieht das Profil aus. Die [einen] müssen 5-FU haben.

Die [anderen] dürfen kein 5-FU haben.“ Das wäre der absolute Wunschtraum. Ich glaube nicht, dass wir dahin kommen werden. Ich glaube, wo wir hinkommen werden und hinkommen müssen, ist ein drittes Standbein, wonach man Therapieentscheidungen ableiten kann (F2).

Gerade diese Tendenz erscheint anderen Befragten teilweise problematisch. Einer der Befragten hielt es für fragwürdig, dass sich Ärzte mit viel Erfahrung gerne auf ein solches Testergebnis einlassen und ihm in ihrer Therapieempfehlung folgen würden.

KFO 2: Schwieriger fände ich, wenn ich sozusagen eine Gegenfrage stellen darf. Das größere Problem sehe ich, ob die Chefärzte und Universitätsprofessoren akzeptieren würden, dass ein Test darüber entscheiden soll, wie sie einen Patienten behandeln sollen (F13).

Andererseits stellt es sich nach der Meinung der Mehrheit der Befragten ohnehin als problematisch dar, wenn ein einzelner Test die komplexe medizinische Entscheidung dominiert und somit die professionelle Erfahrung, die bei der Betreuung von Patienten wichtig sei, in den Hintergrund dränge.

KFO 12: … ich glaube, dass [es] für viele behandelnde Ärzte schwer [ist], sich zu beugen, [vor dem] was man sozusagen errechnet hat. Ganz unabhängig davon, wie sinnvoll das jetzt ist, aber dass man dann sozusagen nur noch ein Ausführungsorgan ist und die Therapie dann durchführt, wie dann irgendein Test , ein genetischer oder

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ein molekularbiologischer Test sozusagen einem vorgibt… Unabhängig davon, dass man weiß, dass der seine Schwächen haben wird und gar nicht perfekt sein kann.

Durch diese Aussagen wird nochmals die zum Anfang der Auswertung angesprochene Problematik zwischen EbM und der auf Erfahrungen beruhenden Expertenentscheidung deutlich. Die Befürchtung, dass der Test den Arzt nur noch zu einem Ausführungsorgan macht, kann dabei auch als Befürchtung vor einem gewissen Aufgabenverlust interpretiert werden, da manche Ärzte davon ausgehen, ihre persönliche Expertise könne im Rahmen der Anwendung einer EbM an Bedeutung verlieren. Interessant ist diese These auch hinsichtlich der Verantwortung für die Therapieentscheidung. Wenn die Patienten im Rahmen diagnostischer Tests wie dem Rektumchip die Art und Weise der Diagnostik schlechter verstehen und sich bezüglich der Therapieentscheidung stärker auf die Entscheidung des Arztes verlassen sollten, bedeutet dies eine größere Verantwortung des Arztes. Dabei ist fraglich, inwiefern ein solcher Verantwortungsverlust von den Patienten akzeptiert wird und wie die Ärzte mit einer stärkeren Verantwortung umgehen, gerade mit Bezug auf eine mögliche fehlerhafte Nichtanwendung der neoadjuvanten RT/CT. Aus diesem Grund scheint es wichtig, den Patienten besonders verständlich zu machen, dass die Testung vor der Applizierung der Therapie eine präzisere, aber keine individuelle Therapieentscheidung erlaubt. Aus medizinethischer Sicht ist im Hinblick auf die Auswirkung eines Rektumchips auf das Arzt-Patienten-Verhältnis von Bedeutung, dass beide Parteien verstanden haben müssen, welche Veränderungen dieser Test zur bisherigen Vorgehensweise bewirkt. Dies ist zum einen die erhöhte Wahrscheinlichkeit, Nebenwirkungen zu vermeiden, die mit einer uneffektiven Therapie einhergegangen wären.

Zum anderen ist es die erhöhte Wahrscheinlichkeit, anhand einer falschen Klassifizierung eine Therapie nicht zu erhalten, die ein krankheitsfreies Überleben wahrscheinlicher gemacht hätte.