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Transformationen der Kontingenz im Sozialsystem der Religion

I.

Die folgenden Überlegungen gehen von einigen allgemeinen systemtheoretischen Grundannahmen aus und wenden sie auf das soziale System der Gesellschaft, auf dessen Teilsystem für Religion und in diesem Bereich auf ein Problem an, das zentrale Bedeutung beanspruchen kann: auf das Problem der Auffassung und Verarbeitung von Kontingenzen. Ihr Ziel ist zu zeigen, daß es Zusammenhänge gibt zwischen Ergebnissen der Evolution des Gesellschaftssystems und der Art, wie im Gesell-schaftssystem und in seinen Teilsystemen Probleme gestellt wer-den und problembezogene Erfahrungen anfallen. Das Interesse zielt damit auf sozusagen transhermeneutische Relationen zwi-schen sozialen Strukturen auf der einen Seite und Erfahrungs-inhalten sowie deren kultureller Formulierung auf der anderen.

Die Analysen lassen sich nicht durch die Erwartung tragen, daß solche Relationen letztlich determinierenden Charakter haben, sei es im Sinne einseitiger Determination (in welcher Richtung immer), sei es im Sinne wechselseitiger Determination. Alle bis-herigen Erfahrungen mit »Wissenssoziologie«, »Begriffsge-schichte« oder »politischer Semantik« sprechen gegen derart überzogene Thesen. Ebenso fragwürdig sind Hypothesen, die Punkt-für-Punkt-Beziehungen zwischen sozialen Strukturen und bestimmten Ideen postulieren - etwa die These, daß mono-komplexen Gesellschaften der Monotheismus, multiplexen Ge-sellschaften dagegen der Polytheismus entspreche1. Wohl aber vermuten wir nachweisbare Nichtbeliebigkeiten in dem Sinne, daß die Evolution des Gesellschaftssystems Strukturen aufbaut,

i So Charles C. Lemert, Cultural Multiplexity and Religious Polytheism, Social Compass 21 ( 1 9 7 4 ) , S. 2 4 1 — 2 5 3 , mit der daraus abgeleiteten E r w a r -tung eines christlichen Polytheismus.

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die Probleme erzeugen, die nicht in beliebiger Weise erfahren und gelöst werden können.

Mit so schwachen Voraussetzungen anfangend, können wir im-mer noch fragen, welche besonderen strukturellen Bedingungen die Möglichkeiten sinnhafter Erfahrungsverarbeitung und han-delnder Problemlösung so stark einschränken, daß bestimmte kulturelle Figuren, wenn einmal entdeckt und ausgearbeitet, an-deren deutlich überlegen sind1. Umgekehrt können wir aber auch der Tatsache Rechnung tragen, daß symbolische Erfindungen und vor allem systematisierte Kulturleistungen eine eigene Ge-schichtlichkeit aufweisen, daß sie sich erhalten können, auch wenn die Bedingungen ihrer Entstehung sich geändert haben, und nicht selten Funktionsplätze besetzt halten auch dann, wenn sie den inzwischen gewandelten Problemlagen nur noch unzu-reichend gerecht werden. Diese Zeitverschiebungen, die allen soziologischen Theorien kulturellen Wandels so große Schwie-rigkeiten bereiten, sind ein Reflex der einfachen Tatsache, daß die Bedingungen des Eintritts in die Evolution bei kulturellen Formen (ebenso übrigens wie bei Organismen und deren struk-turellen Errungenschaften) andere sind als die Bedingungen op-timaler Anpassung und andere auch als die Bedingungen schlich-ter Erhaltung des Bestehenden'. Aus diesem Grunde gibt es in jeder Epoche einen Formenüberhang, der keine genaue Relation zu strukturellen Problemen aufweist, der gegenwärtig auch nicht neu entwickelt werden könnte, gleichwohl aber reproduziert wird und die Bedingungen weiterer Evolution mitprägt.

Seit dem 1 8 . Jahrhundert ist dieser Sachverhalt als »Ungleich-zeitigkeit des Gleichzeitigen« dargestellt wordene Das setzte die

2 Vgl. Alexander A. Goldenweiser, The Principle of Limited Possibilities in thc Development of Culture, Journal of American Folk-Lore 26 ( 1 9 1 3 ) , S.

259—290.

3 In der Theorie organischer Evolution läuft diese Einsicht unter der Be-zeichnung »Cope's rule« und besagt, daß Organismen unterhalb ihrer opti-malen Größe in die Evolution eintreten und erst im Laufe der Evolution die Größe erreichen, mit der sie sich am besten ihrer Umwelt anpassen bzw. sich in einer gegebenen Umwelt gerade noch reproduzieren können. Siehe dazu Steven M. Stanley, An Explanation of Cope's rule, Evolution 17 ( 1 9 7 3 ) , S.

i— 26.

4 V g l . Reinhart Koselleck, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe: H i -storisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. I I ,

Stutt-Möglichkeit voraus, eine Theorie zu behaupten, die Gleichzeiti-ges in die Ungleichzeitigkeit verweist. In Ermangelung einer sol-chen Theorie des historissol-chen Prozesses begnügen wir uns mit einer schwächeren Aussage: daß nämlich Evolution auf System-ebene das erfordert, was man »loose coupling« genannt hat*.

Kein komplexes System kann es sich leisten, alles von allem ab-hängig zu machen; das wäre schon aufbautechnisch unmöglich und würde den Zeitbedarf für Anpassungen an die Umwelt zu stark erhöhen. Jedes System weist deshalb Strukturen auf, die in der Vergangenheit entstanden sind, die ihre Entstehungsbedin-gungen und vielleicht auch ihre »beste Zeit« hinter sich haben, die aber gleichwohl in einer gewissen Unabhängigkeit von ande-ren Struktuande-ren ihre Funktion noch erfüllen. Nur so kann über-haupt der Eindruck entstehen, daß sich etwas in Bewegung befindet, weil anderes konstant bleibt.

Dies gilt auch für Gesellschaftssysteme, und man darf vermuten, daß die zeitliche Streuung von Entstehung, Konstanz und Ände-rung bei jeweils gleichzeitiger Relevanz zunimmt, wenn das Ge-sellschaftssystem komplexer wird. Im Ideenhaushalt einer jeden Gesellschaft sind daher Bestandteile mit sehr unterschiedlichen Zeitbezügen zu erwarten, und gerade das ist Bedingung für wei-tere Entwicklung.

I I .

Die soziokulturelle Evolution leistet die Ausdifferenzierung ei-nes sinnhaft konstituierten Gesellschaftssystems und damit zu-gleich die Ausdifferenzierung einer diesem System zugeordneten Umwelt. Sie beginnt mit einer Mehrheit von Gesellschaften und daher mit Umwelten, die unter anderem auch Soziales, nämlich auch andere Gesellschaften enthalten. Sie hat heute ein einziges Weltgesellschaftssystem realisiert, das seine Strukturen an einer voll desozialisierten Umwelt zu orientieren beginnt. Alle überlie-ferten Formen symbolorientierter Gesellschafts-, Umwelt- und

gart 1 9 7 5 , insb. S. 3 6 3 — 4 2 3 ; Hans Blumenberg, Die Genesis der kopcrnika-nischen Welt, Frankfurt 1 9 7 5 , S. 66 ff.

5 Siehe nur Robert B. Glassman, Persistence and Loose Coupling in Living Systems, Behavioral Science 18 ( 1 9 7 3 ) , S. 83—98.

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Weltorientierung müssen von da her neu reflektiert werden. Dies betrifft auch das Problem der Kontingenz.

Sinnhafte Konstitution des Gesellschaftssystems besagt, daß Sy-stem und Umwelt aneinander erfahren werden — als simultan existent und als aufeinander bezogen, und zwar auch dann, wenn das Erleben oder Handeln sich intentional und thematisch mit Aspekten befaßt, die entweder dem System selbst oder des-sen Umwelt zugeordnet werden. Der Grenzübergang ist immer möglich, wird in der Form von Verweisungen jeweils mitange-zeigt. Im Grenzbegriff und im Grenzerleben ist die Möglichkeit des Transzendierens und die Realität der jeweils anderen Seite vorgesehen und unabweisbar impliziert6. Wie phänomenologi-sche Analysen zeigen könnten, ist das jeweils direkt intendierte Thema nie nur als es selbst erfaßbar; es fungiert als Identisches, als Symbol, Ding, Begriff, Ereignis, stets nur im Horizont ande-rer Möglichkeiten. Diese werden mehr oder weniger unbestimmt präsentiert. Soviel gilt allgemein, nachdem es in der Evolution einmal zur Ausbildung der Möglichkeit sinnhafter Orientierung gekommen ist. Diese Grundbedingung hängt von gesellschaftli-cher Kommunikation schlechthin ab - in ihrer Genese ebenso wie in ihrer Reproduktion; sie ist kein besonderes Merkmal be-stimmter Gesellschaftsformationen oder bebe-stimmter Epochen der gesellschaftlichen Evolution. Mit den Typen und damit mit der historischen Abfolge der jeweils dominanten Gesellschafts-systeme variiert dagegen die Form, die dieser Grundbedingung sinnhaften Erlebens und Handelns gegeben wird.

Für die Überleitung zu kulturfähigen, Selektionen steuernden Symbolisierungen scheint nun wichtig, wenn nicht entscheidend zu sein, daß das allgemeine Phänomen sinnhafter Appräsenta-tion, das sich im Anschluß an Husserls Analysen7 auf Fremder-fahrung, also auf Kommunikation zurückführen läßt, die Form der Modalität annimmt und in dieser Form differenziert, ab-strahiert und spezifiziert werden kann. Der Begriff der

Modali-té Daraus hat man bekanntlich immer wieder den Schluß auf die Unendlich-keit der Welt ziehen müssen. Siehe nur Descartes, Les principes de la Philo-sophie I I , 2 i , Oeuvres et Lettres (éd Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1952, S. « 2 3 .

7 V g l . Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana Bd. I, Den H a a g 1 9 5 0 , S. 1 3 8 ff. Dazu ausführlicher oben S. 22.

tat soll hier die Simultanpräsentation einer Ebenendifferenz be-zeichnen, wobei die eine Ebene die unmittelbar zugänglichen, aktuellen Erfahrungsinhalte, die andere in geraffter Form die Appräsentation anderer Möglichkeiten bezeichnet. Während die Simultanpräsentation von Verweisungsüberschüssen am Thema sinnbedingte Grundgegebenheit ist, ist ihre Abbildung als Moda-lität schon kulturelle Form - also nicht (wie Gegenstandstheorie und Phänomenologie annehmen würden) eine kategoriale Selbstverständlichkeit. Als Formen dienen die verschiedenen A r -ten von Modalität dem zusammenfassenden Ausdruck einer Mannigfaltigkeit, der gerafften Wiedergabe von unübersichtli-chen Einzelheiten unter Weglassung aller Details, die nicht die Modalität selbst konditionieren, also nicht relevant sind als Be-dingungen der Möglichkeit/Unmöglichkeit, BeBe-dingungen der Er-kennbarkeit/Unerkennbarkeit usw. nach wie immer verschärften Kriterien. Darüber hinaus kanalisieren, und das ist für unser Thema vor allem wichtig, Modalitäten den Gebrauch von Nega-tionen; man denke nur an die klassischen, durch Negation ver-knüpften Modalitätspaare possibile/impossibile und necessarium/

contingens. Modalformen können also dazu benutzt werden, Negationsgebrauch zu domestizieren. Daran schließen die im einzelnen recht schwierigen und noch unausgereiften Versuche der Modallogik an, die Regeln über Negationsgebrauch unter der Voraussetzung von Binarität zu systematisieren.

Wichtige, kulturell bewährte Typen der Modalisierung sind:

possibilistische, temporale und epistemologische Modalisierungen.

Ihr Verhältnis zueinander ist ungeklärt. Das gleiche gilt für die Gründe, die gerade diesen Modalisierungen evolutionäre Bedeu-tung für die Entwicklung einer kulturellen Symbolwelt gegeben haben und andere Möglichkeiten (z. B. Scherz/Ernst) haben zu-rücktreten lassen. Wir können prinzipielle Fragen dieser Art hier nicht weiter verfolgen, sondern gehen davon aus, daß possibili-stische Modalisierungen mit ihrer Ebenendifferenz von Wirkli-chem und MögliWirkli-chem zweifelsfrei zu den »evolutionär erfolg-reichen« Modalitäten gehören, und außerdem zu denen, die in der Tradition seit langem reflektiert worden sind. An ihrem Bei-spiel können wir daher einige Schritte tun in Richtung auf eine Klärung von Zusammenhängen zwischen evolutionärer Struk-turentwicklung des Gesellschaftssystems und der kulturellen,

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hier speziell-religiös symbolischen Verarbeitung von Erfah-rungsinhalten.

I I I .

Der Titel Kontingenz bezeichnet in seiner allgemeinsten modal-theoretischen Fassung ein Problem aus dem Umkreis possibilisti-scher Modalisierungen, nämlich etwas Wirkliches (einschließlich wirklich Möglichem), sofern es auch anders möglich ist. Formal definiert wird Kontingenz durch Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit8. Kontingent ist demnach al-les, was zwar möglich, aber nicht notwendig ist. Zunächst wird der Begriff in der alteuropäischen Tradition attributiv verstan-den, wird Seiendem attribuiert und dann aggregativ generali-siert. Man spricht von Kontingenten (Dingen). Das entspricht der Auffassung der Welt als einer universitas rerum, als aggre-gatio bzw. congreaggre-gatio corporum. Erst seit Kant (und soziolo-gisch gesprochen: erst seit dem Übergang zur »bürgerlichen Gesellschaft«) werden Modalbegriffe dieser Art relational gene-ralisiert, und zwar zunächst mit Bezug auf das Erkenntnisvermö-gen?. Damit werden possibilistische Modalisierungen epistemo-logischen nachgeordnet. Seitdem spricht man von Kontingenz.

Wir werden diese Problemfassung (mitsamt der dazugehörigen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit bzw. Notwendig-keit bzw. deren Negationen) beibehalten, werden aber die epi-stemologische durch eine sozialstrukturelle Relationierung

erset-8 Im einzelnen ist diese Bestimmung in v i e l e n Hinsichten präzisierungsbcdürf-tig. V g l . e t w a K a r l D ö h m a n n , Z u r C h a r a k t e r i s t i k der K o n t i n g e n z , A t t i del X I I Congresso I n t e r n a z i o n a l e di Filosofia Venezia 1958, F l o r e n z 19Ä0, Bd. y, S . 1 3 7 — 1 4 1 ; S t o r r s M c C a l l , A r i s t o t l e ' s M o d a l Syllogism, A m s t e r d a m 1963, insb. S. 66 ff.; A. P. B r o g a n , A r i s t o t l e ' s Logic of Statements A b o u t C o n t i n gency, M i n d 76 (1967), S. 4 9 — 6 1 ; Heinrich Schepers, Möglichkeit u n d K o n -tingenz: Z u r Geschichte der philosophischen Terminologie v o r L e i b n i z , Turin 1 9 6 3 ; ders., Z u m P r o b l e m d e r K o n t i n g e n z bei Leibniz, Die beste der mög-lichen W e l t e n , i n : C o l l e g i u m P h i l o s o p h i c u m : Studien J . R i t t e r z u m 60. Ge-burtstag, B a s e l — S t u t t g a r t 1 9 6 5 , S . 3 2 6 — 3 5 0 ; D o r o t h e a Frede, Aristoteles und die »Seeschlacht«: D a s P r o b l e m d e r Contingentia F u t u r i i n D e Inter-prctatione 9, G ö t t i n g e n 1970.

9 Z u r entsprechenden V e r ä n d e r u n g v o n possibile/impossibile zu Möglichkeit/

Unmöglichkeit v g l . I n g e t r u d P a p e , T r a d i t i o n u n d T r a n s f o r m a t i o n d e r M o d a -lität Bd. I, H a m b u r g 1966.

zen. Damit wird die Frage nach Korrelationen von Bewußtsein und Welt ersetzt durch die Frage nach Korrelationen von Ge-sellschaft und Welt. Wir versprechen uns davon einen besseren Zugriff auf historische und empirische Materialien.

Ob nun aggregativ oder relational gefaßt: Formulierungen der Kontingenz liegen auf einer anderen Ebene als Formulierungen relevanter Dinge oder Ereignisse. Sie gewinnen dadurch eine universalistische Ausstrahlung: Wenn Kontingenz Zufall ist, wird alles zum Z u f a l l1 0. Wenn Kontingenz Knappheit ist, wird alles auf Knappheit bezogen". Wenn Kontingenz Gott als Schöpfer ist, wird alles von Ihm her verstanden. So entstehen überzogene Theorien: Theorien, die ihr Rationalitätskontinuum überschätzen1 2. Zugleich bleibt der Universalitätsanspruch aber rückgebunden an diejenigen Sozialsysteme, die ihn respezifizie-ren können; er erreicht nur systemrelative Relevanz.

In jedem Falle treten Formulierungen des Kontingenzproblems, die Grundlage unserer eigenen Begriffsentschlüsse sein könnten, sehr viel später auf als die Sozialstrukturen, auf deren Folge-probleme sie antworten. Die Realkontingenzen des Gesell-schaftssystems und seiner relevanten Umwelt werden erst er-zeugt, dann werden sie erfahren und schließlich formuliert und symbolisch verarbeitet. Aus den allgemeinen Überlegungen, die wir unter I und II vorangeschickt haben, läßt sich die Hypothese ableiten, daß für die Entstehung des Kontingenzproblems sozia-le Differenzierungen ausschlaggebend gewesen sind. Soziasozia-le Dif-ferenzierungen zwingen dazu, Kommunikationsprozesse über größere Divergenzen hinweg aufrechtzuerhalten und sie in einer Weise zu modalisieren, daß Identität und Nichtidentität, Kontinuität und Diskontinuität zugleich möglich sind und sich aneinander bewähren. Wenn es, aus welchen Gründen immer, im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zu zunehmender Diffe-renzierung kommt — zur AusdiffeDiffe-renzierung von Funktionsrol-len, zur Stadtbildung, zur Entstehung sozialer Schichtung, schließlich zur Entstehung besonderer Funktionssysteme und

10 O d e r , im F a l l e des Handelns, z u r W i l l k ü r . Siehe z. B. P i e r r e Bourdieu / J e a n C l a u d e Passeron, G r u n d l a g e n einer Theorie der symbolischen G e w a l t , F r a n k f u r t 1 9 7 3 .

1 1 Siehe J e a n - P a u l S a r t r e , C r i t i q u e d e l a raison dialectique I , P a r i s i960.

1 2 Diese Ausdrucksweise v e r d a n k e ich R u d o l f Bluhm.

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ihnen zugeordneten Organisationen -, sind entsprechende Trans-formationen der kommunikationsleitenden Symbolstrukturen zu erwarten, weil anders die neu erforderlichen Kombinationsni-veaus für strukturell diskrepante Erwartungen und Leistungen nicht erreicht und nicht operativ reproduziert werden können13.

Derartige Umbauten lassen sich auch auf dem Gebiet der Reli-gion beobachten. In ihrer Funktion, unbestimmbare Kontingen-zen in bestimmbare zu überführen, ist Religion von zunehmen-der sozialstruktureller Differenzierung sehr unmittelbar betrof-fen. Sie gerät wegen der zentralen Bedeutung ihrer Funktion als erste unter Abstraktionsdruck; sie fängt den Abstraktionsdruck gleichsam für die Gesellschaft auf und kanalisiert ihn auf das eigene, religionsspezifische Symbolsystem, sobald sie selbst in der Gesellschaft ausdifferenziert wird, also eigene Rollen und eigene Sozialsysteme zu bilden beginnt.

Zwei Konsequenzen dieser Entwicklung wollen wir etwas ge-nauer betrachten, und zwar beide mit Hilfe eines analytischen Instrumentariums, das einen Vergleich mit entsprechenden Pro-blemlagen in anderen Funktionssystemen erlaubt. Unsere These ist ( i ) , daß die Ausdifferenzierung besonderer Rollen für profes-sionelle Arbeit im Bereich der Religion eine duale Rekonstruk-tion der Kontingenz ermöglicht und daß damit ( 2 ) Einheits- und Abschlußprobleme aufgeworfen werden, die zur Entwicklung ei-ner besonderen Kontingenzformel des Religionssystems führen.

Für beide Leistungen symbolischer Rekonstruktion des Modal-problems der Kontingenz ist charakteristisch, daß sie in dem Maße, als sie in einer für Religion spezifischen Weise gelingen, zugleich die Differenz zu anderen Funktionssystemen steigern, nämlich Problemlösungen anbieten, die nicht zugleich auch poli-tische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Zentralfunktionen erfüllen können, mit der Folge, daß die sozialstrukturelle

Diffe-13 Eine bekannte F o r m u l i e r u n g dieses Zusammenhanges ist, daß größere, dif-ferenziertere Gesellschaftssysteme eine s t ä r k e r generalisierte, v o n interaktio-neilen K o n t r o l l e n unabhängig »geltende« M o r a l e r f o r d e r n . Siehe statt ande-r e ande-r : C l y d e Kluckhohn, The M o ande-r a l O ande-r d e ande-r i n the Expanding Society, in: Caande-rl H. K r a e l i n g / R o b e r t M. A d a m s (Hrsg.), C i t y I n v i n c i b l e , Chicago i960, S.

391—404. Z u r entsprechenden T r a n s f o r m a t i o n des Rechts in n o r m a t i v e P r ä -missen f ü r Entscheidungen siehe N i k l a s L u h m a n n , Rechtssoziologie, Reinbek 1 9 7 z , Bd. I, S . 166 ff.

renzierung, deren Folgeprobleme gelöst werden sollten, im Ef-fekt wiederum gesteigert wird.

IV.

Sobald es zu einer Ausdifferenzierung funktionsspezifischer In-teraktionsweisen oder Sonderrollen für magische oder kultische Angelegenheiten kommt, gewinnen duale Sinnkonstruktionen auf sehr alten Grundlagen neue Funktionen. Die Neigung, Ganzheiten als Dualität eines Gegensatzes auszudrücken, hat weit zurückreichende, schwer überprüfbare Wurzeln^. Erkenn-bar wird das Bemühen, die Appräsentation anderer Möglichkei-ten noch ohne Modalisierung zu ordnen: mit konkreMöglichkei-ten Bezü-gen, aber noch extrem reduziert auf jeweils einen Gegensatz, mit Anspruch auf Totalrepräsentation der Möglichkeiten unter Tabuisierung der Ubergänge und Mischformen. Die konkreten Verwendungskontexte erzwingen bereits für die archaischen Ge-sellschaften eine Mehrheit von Dualisierung, und sie lassen es nicht zu, die Menge der Duale so zu integrieren, daß konsistente Reihen entstehen. Weder die Religion, noch die Moral, noch die Logik können das Gesamtsystem in dieser Weise auf Vorder-mann bringen. Die Folge ist, daß die Wahl des zutreffenden Duals von der Situation abhängt und daß die Präferenzen in-nerhalb der Duale umkehrbar bleiben, zumindest für typisierte Sondersituationen, ohne daß daraus ein Normverstoß folgte1*.

Wir vermuten, daß erst im Laufe der Ausdifferenzierung be-sonderer Funktionssysteme spezifisch operative Interessen zu ei-ner Abstraktion und Verfeiei-nerung solcher Duale führen.

1 4 Siehe die v i e l z i t i e r t e S k i z z e v o n Sigmund Freud, U b e r den Gegensinn der U r w o r t e , G e s a m m e l t e "Werke Bd. V I I I , L o n d o n 1 9 4 3 , S . 2 1 4 — 2 2 1 ; ferner e t w a A d h é m a r M a s s a r t , L'emploi, en égyptien, de d e u x t e r m e s opposés p o u r e x p r i m e r l a t o t a l i t é , i n : Mélanges bibliques (Festschrift A n d r é R o b e r t ) , P a r i s

* 9 S 7 , S . 3 8 — 4 6 ; a n ethnologischen Untersuchungen j e t z t zusammenfassend R o g e r N e e d h a m (Hrsg.), R i g h t a n d Left: Essays o n D u a l S y m b o l i c Classification, C h i c a g o 1 9 7 3 ; und m i t ausführlichen A n a l y s e n G . E . R . L l o y d , P o l -a r i t y -a n d A n -a l o g y : T w o Types o f A r g u m e n t -a t i o n i n E -a r l y G r e e k Thought, C a m b r i d g e England 1 9 7 1 , S . 1 5 — 1 7 1 .

1 5 V g l . d a z u P e t e r R i g b y , D u a l S y m b o l i c Classification A m o n g the Gogo o f C e n t r a l T a n s a n i a , A f r i c a 3 6 (1966), S . 1 — 1 7 ; neu gedruckt i n Needham a . a . O .

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Wie eine an heutigen Formen professioneller Arbeit durchge-führte Untersuchung zeigen könnte1 6, gibt es eine für Profes-sionsrollen typische Rekonstruktion ihres Arbeitszusammen-hangs durch einen Gegensatz zweier Welten oder zweier Zu-stände - etwa krank/gesund, Unrecht/Recht, anormal/normal, Krieg/Frieden, ungebildet/gebildet usw. Die Künstlichkeit sol-cher Polarisierungen ist rasch erkennbar an der Art, wie durch Einsatz von Negationen eine scheinbare Gleichheit der beiden Welten bei ungleicher Bestimmtheit erreicht wird: Es gibt viele Krankheiten und durchgearbeitete Krankheitsterminologien, aber nur eine Gesundheit^, viele Bildungsarten, aber nur eine Ungebildetheit. Frieden ist nur als Negation von Kriegen cha-rakterisierbar, Normalität fällt nicht auf, es sei denn als Ab-wesenheit von Auffälligkeiten. Die Dualität wird in diesen wie in anderen Fällen demnach durch einen eigens konstituierten Ge-genbegriff und durch einen Prozeß semantischer Äquilibrierung hergestellt. Die Evidenz der Problemlage, in der der professio-nelle Praktiker angerufen und in Tätigkeit gesetzt wird, wird dann dazu benutzt, den Kontrastzustand mitzuplausibilisieren:

Der Kranke möchte von seinen Schmerzen befreit, möchte ge-sund werden. Ist eine solche Struktur einmal etabliert, kann der professionelle Praktiker sich als Vermittler zwischen zwei Wel-ten begreifen und anbieWel-ten. Der Evidenzgehalt eines solchen Duals erleichtert es, gesellschaftlichen Konsens mit der Berufs-praxis und ihren spezifischen Erfordernissen vorauszusetzen und diejenigen Klienten, die sich im Zustand der Krankheit, des Un-rechts, der Sünde aufhalten wollen, als Abweichler mit kogniti-ven und evaluatikogniti-ven Fehlleistungen zu charakterisieren.

Über die Dualisierung des Problems kann, wie bereits gesagt, die professionelle Arbeit als Vermittlung oder als Überführung von einer Welt in die andere artikuliert und in ihren

Schwie-16 Anregungen dazu bei K a s p a r D. Naegele, C l e r g y m e n , Teachers, and Psychi-a t r i s t s : A S t u d y in Roles Psychi-a n d S o c i Psychi-a l i z Psychi-a t i o n , C Psychi-a n Psychi-a d i Psychi-a n J o u r n Psychi-a l of Economics and Political Science 22 ( 1 9 5 6 ) . S. 46—61 (60 f . ) .

17 Hierzu C h a r l e s O. F r a k e , The Diagnosis of Disease A m o n g the Subanun of M i n d a n a o , A m e r i c a n A n t h r o p o l o g i s t 63 ( 1 9 6 1 ) , S. 1 1 3 — 1 3 2 . V g l . auch ders., Die ethnographische Erforschung k o g n i t i v e r Systeme, i n : A r b e i t s g r u p p e Bielefelder Soziologen (Hrsg.), A l l t a g s w i s s e n , I n t e r a k t i o n u n d gesellschaftliche W i r k l i c h k e i t , R e i n b e k 1 9 7 3 , Bd. I I , S. 3 2 3 — 3 3 7 (insb. S. 329 über » K o n -t r a s -t - S e -t s « ) .

rigkeiten begreiflich gemacht werden. Dabei wird immer vor-ausgesetzt, daß der Praktiker die Entstehung des Problems nicht zu verantworten hat, eine problematische Welt ist ihm vorge-geben, und daß auch die Problemlösung, das Erreichen des ande-ren Zustandes oder der andeande-ren Welt, von ihm nicht mit Sicher-heit garantiert werden kann. Nicht im Selbstverständnis der Professionen, sondern erst in der soziologischen Analyse kommt es zu der These, daß die Profession die Gegenrolle des Klienten eigentlich erst »konstituiert« - daß der Arzt den Kranken, der Fürsorger den Armen, der Polizist den Verbrecher, der Prie-ster den Sündigen als solchen »definiert«.

Was die Soziologie dieses »labeling approach« angeht, liegt dar-in edar-ine schlichte Uberschätzung der semantischen Komponente.

Richtig ist jedoch, daß mit Hilfe einer solchen Dualisierung die konkreten Probleme, die Anlaß geben zur Institutionalisierung professioneller Praxis, so generalisiert werden, daß sie in allge-mein geschätzte Werte transformiert und den Klienten in dieser Form entzogen bzw. abgetauscht werden können. Schmerz und Leid sind zunächst unkommunizierbare Realerfahrungen; für das Erreichen der Gesundheit oder die Aussicht auf leidfreies Heil kann man dagegen etwas tun, etwas verlangen, sei es in der Form gehorsamer Kooperation des Betroffenen, sei es in

Richtig ist jedoch, daß mit Hilfe einer solchen Dualisierung die konkreten Probleme, die Anlaß geben zur Institutionalisierung professioneller Praxis, so generalisiert werden, daß sie in allge-mein geschätzte Werte transformiert und den Klienten in dieser Form entzogen bzw. abgetauscht werden können. Schmerz und Leid sind zunächst unkommunizierbare Realerfahrungen; für das Erreichen der Gesundheit oder die Aussicht auf leidfreies Heil kann man dagegen etwas tun, etwas verlangen, sei es in der Form gehorsamer Kooperation des Betroffenen, sei es in