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Einen weiteren Anstoß zur Konstruktion von Dogmen kön- kön-nen wir unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Possibilität

Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution

9. Einen weiteren Anstoß zur Konstruktion von Dogmen kön- kön-nen wir unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Possibilität

zusammenfassen. Die Transformation des Unbestimmbaren in Bestimmbares kann (und muß in entwickelten Gesellschaften) die Form annehmen, daß Struktur zumindest als bestimmte Möglichkeit des Erlebens und Handelns erhalten wird. Das Pro-blem der Möglichkeit von Bestimmtheiten erhält dann die handlichere Fassung der Bestimmtheit von Möglichkeiten.

Auch im Modalbegriff des Möglichen drückt sich ein gesellschaft-lich erfordergesellschaft-liches Generalisierungsniveau aus - zum Beispiel ein moralisches Anspruchsniveau, das sich mit unvollständiger Realisierung begnügen muß. Die Erhaltung der Möglichkeit von Erwartungserfüllungen kann als Bereitstellung einer bloßen Möglichkeit religiöser (z. B. asketischer) Hochleistungen und Verdienste interpretiert und als vorbildlich moralisiert werden - so im Buddhismus und im christlichen Konzept der opera su-pererogatoria. Das setzt eine regulierende Knappheitsvorstel-lung voraus, die die Grenzen menschlicher Kapazität interpre-tiert und in ihren Konsequenzen elitär wirkt: Das Heil ist nicht für alle erreichbar. Im Anschluß an die Gottesvorstellung kann die Erhaltung der Possibilität außerdem auch eine ausgeprägt normative Form enthalten, indem sie mit der Vorstellung von Geboten Gottes verknüpft w i r dI o S. Verstöße gegen solche

Ge-206 Ob und wie in Gebote und Pflichten ausgeprägte Normativität mit dem Konzept supererogatorischer Leistungen vereinbar ist, wird neuerdings in der angelsächsischen Literatur diskutiert. Vgl. z. B. Joel Feinberg, Supererogation and Rules, Ethics 71 ( 1 9 6 1 ) , S. 2 7 6 — 2 8 8 , neu gedruckt in ders., Doing and Deserving: Essays in the Theory of Responsibility, Princeton 1970, S. 3 — 2 4 ; Roderick M. Chisholm, Supererogation and Offence: A Conceptual Scheme

böte werden dann als Sünde interpretiert, die die Geltung der Gebote, also die Erhaltung der Possibilität, nicht tangiert. Diese kontra jaktische Stabilisierung von Möglichkeiten erfordert im Bereich der Heilsthematik einen kontradiktorischen Gegensatz von Heil und Unheil, von Himmel und Hölle. Es scheint außer-dem, daß eine supererogatorische Moral mehr zur Ausarbeitung von Leistungskatalogen neigt2 0?, eine normative Moral dage-gen mehr zur Ausarbeitung von Geboten und Sündenregistern und mit dem an sich »populären« Verdienst-Thema daher eigen-tümliche Schwierigkeiten hat2 0 8. Dem normativen Grundkon-zept entspricht, daß unter den Heilsbedingungen Gnade den

for Ethics, Ratio $ ( 1 9 6 3 ) , S. 1 — i 4 ; Michael Stodter, Supererogation and Duties, in: Studies in Moral Philosophy, American Philosophical Quarterly Monograph N o . 1 , Oxford 1 9 6 8 , S. 5 3 — 6 3 . Diese Untersuchungen haben, bis-her jedenfalls, keine ganz überzeugende Möglichkeit einer einheitlichen mo-raltheoretischcn Konstruktion beider Formen der Moralisierung ergeben und auch Schwierigkeiten mit ihrer logischen Abgrenzung aufgedeckt. Bei dieser Sachlage wird verständlich, daß die christliche Theologie mit einer Primat-Entscheidung für normative Orientierung nur die Ermöglichung zusätzlicher supererogatorischer Verdienste vereinbaren konnte. Diese Kombination hat dann im Effekt die elitären Konsequenzen einer rein supererogatorischen Moral abgeschwächt und bewirkt, daß der Klerus sich auch für das Heil der Laien interessiert.

2 0 7 Vgl. dazu Christoph von Fürer-Haimendorf, Morals and Merit, London 1 9 6 7 ; S. J. Tambiah, The Ideology of Merit and the Social Correlates of Buddhism in a Thai Village, in: Edmund R. Leach (Hrsg.), Dialectic in Prac-tica! Religion, Cambridge Engl. 1 9 6 8 , S. 4 1 — 1 2 1 ( 1 1 5 ) ; ders., Buddhism and the Spirit Cults in North-East Thailand, Cambridge Engl. 1 9 7 0 , S. 1 4 7 . J. A. N. Mulder, Merit: An Investigation of the Motivational Qualities of the Buddhist Concept of Merit in Thailand, Social Compass 16 ( 1 9 6 9 ) , S. 1 0 9 bis 1 2 0 .

2 0 8 die gut zu belegen sind an dem Problem, ob und wieweit es Verdienste für andere geben kann ohne Rücksicht auf deren Sündigkeit und Gnadenstand.

Siehe dazu den Überblick bei Johannes Czerny, Das übernatürliche Verdienst für andere: Eine Untersuchung über die Entwicklung dieser Lehre von der Frühscholastik an bis zur Theologie der Gegenwart, Freiburg/Schweiz 1 9 5 7 -Als einen Vergleich buddhistischer und christlicher Verdienst-Thematik siehe Ninian Smart, The Work of Buddha and the Work of the Christ, in: S. G. F.

Brandon (Hrsg.), The Saviour God: Comparative Studies in the Concept of Salvation Presented to Edwin Oliver James, Manchester 1 9 6 3 , S. 1 6 0 — 1 7 3 . Die von Smart gewählte Kontrastierung als pragmatisch bzw. historisch könn-te damit zusammenhängen, daß die normative Gesamtkonzeption des Chri-stentums keinen voll individualisierten Pragmatismus zuließ und Handeln deshalb historisch begreifen mußte.

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Vorrang erhält vor Verdienst*0». Wie immer die Ausführung im einzelnen geschieht, sowohl mit primär meritorischen als auch mit primär normativen Konzepten kann mit unterschiedli-chen gesellschaftliunterschiedli-chen Konsequenzen Mögliches stabilisiert wer-den mit mehr oder weniger hoher Indifferenz gegen gesellschaft-liche Faktizität.

Abgesehen von dieser Grundfrage der »Stilisierung« von Erwar-tungen haben auch Einzeldogmen eine mehr oder weniger zen-trale Funktion im Kontext der Erhaltung von Possibilität. Das Dogma der Auferstehung nach dem Scheitern am Kreuz inter-pretiert die Erfahrung, daß die Möglichkeiten im Scheitern nicht untergehen, sondern erhalten bleiben2 1 0. Im Begriff des Heili-gen Geistes wird die gleiche Abstraktion und Unabhängigkeit von der konkreten Präsenz symbolisiert als eine Art »Anzah-lung« (nicht: Pfand!), die das Versprechen bindend macht2 1 1. Das Unwahrscheinliche dieser Erfahrungen wird durch ihre Ein-maligkeit noch unterstrichen. Ihre Signifikanz ergibt sich dar-aus, daß das »Reich Gottes« Grund und Thema des Scheiterns war. In der »Auferstehung« triumphiert also dieses Reich. Die Partizipation daran, die jedem offensteht, ist Rechtfertigung.

Zugleich verdunkelt diese Fassung als historisches Ereignis die gedankliche Struktur, um die es geht: nämlich daß die Ebene der realen Bewährung und Verwirklichung nicht nur als Test für

209 Bemerkenswert ist die dazu notwendige Entindividualisierung des Lei-dens Christi — siehe Thomas von Aquino, Summa Theologiae I I I q. 48, art.

1: »Christo data est gratia non solum sicut singulari personae, sed inquantum est caput Ecclesiae, ut scilicet ab ipso redundaret ad membra« als Antwort auf die ausdrückliche Frage nach dem Verdienstwert der Passion. Jedenfalls ist es verfehlt, diesen moraltheoretischen Unterschied von normativ-pflichtmäßi-gem und meritorischem (supererogatorischem) Aspekt gleichzusetzen mit einer Unterscheidung von juridischem und ethischem Verdienst, w i e es in der deut-schen Literatur zuweilen geschieht. Siehe z. B. Hans Dombois, Juristische Be-merkungen zur Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury, Neue Zeit-schrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 9 (1967), S. 339 bis 3 5 5 ; Hans Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu: Eine tradi-tionsgeschichtliche Untersuchung, Düsseldorf 1970, S. 188 ff.

2 1 0 V g l . dazu von theologischer Seite die Auslegung von Tod und Aufer-stehung Christi als Durchgang durch das Nichts und damit als Offenbarung einer Möglichkeit, die nicht mehr wirklichkeitsbedingt begriffen werden kann, bei Eberhard Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, Evangeli-sche Theologie 29 (1969), S. 4 1 7 — 4 4 2 .

2 1 1 2. Kor. 1 , 2 2 .

Möglichkeiten in Betracht kommt, sondern daß im Scheitern und im Entzug, im Durchgang durch die Negation, das Mögliche zur Unwiderlegbarkeit gehärtet wird: Zerstörungen und Anrempe-leien jeder Art besagen nicht, daß es nicht möglich w ä r e2 1 2. Erhaltung der Possibilität ist ein Moment der Erhaltung von Komplexität, der Stabilisierung eines Woraus der Selektion, ge-gen die sich Verhalten als auch anders möglich, als Handeln pro-filiert. Von da her bestimmt sich neu, was in der Gesellschaft als kontingentes Handeln erlebt und behandelt werden kann. In dieser Weise trägt die religiöse Dogmatik dazu bei, Gesellschaft als Selektionsverhältnis zu konstituieren, ohne daß diese Funk-tion in der Dogmatik selbst zum Thema wird.

i o . Den Zusammenhang zwischen Kontingenzformel, symboli-schem Medium, Ausdifferenzierungskonzept, Zeitvorstellung und Möglichkeitsbewahrung begründet in manchen religiösen Traditionen ein Dogma der Offenbarung11). An ihm ist exem-plarisch zu erkennen, wie das Reflexionsproblem dogmatisch be-wältigt wird und wie Dogmen ihre Einheit aus ihrer integra-tiven Stellung innerhalb der Dogmatik und ihrer kompatiblen Interpretierbarkeit gewinnen, nicht aber aus dem Bezug auf ihre Funktion, das heißt nicht aus den Bedingungen ihrer Ersetzbar-keit. Das Dogma der Offenbarung dient als koordinierende Ge-neralisierung. Es kombiniert (i) eine universell verwendbare Autorschaft (Gott) mit (2) relativ verweisungsoffenen, deu-tungsfähigen Inhalten, deren Rationalität und Interpretierbar-keit gleichwohl garantiert ist, und (3) mit dem wirklichen Er-scheinen einer Möglichkeit in der Form (4) eines besonderen hi-storischen Ereignisses, das als ein besonderes ( j ) unmittelbare Evidenz hat und als ein historisch-einmaliges (6) der variieren-den Disposition durch die je gegenwärtige Gesellschaft entzogen ist, vielmehr allein einer theologischen Dogmenverwaltung un-terliegt. Mit Hilfe dieser konzeptuellen Erfindung können universelle Relevanz und spezifische Kompetenz zugleich

be-2 1 be-2 Die Anregung zu dieser Formulierung verdanke ich Friedrich Rudolf Hohl.

2 1 3 An diesem Konzept läßt sich besonders gut die evolutionär -wichtige Kontinuität mit früheren Formen magischer Religiosität, etwa mit Erleben und Miterleben von Inspiration, Inkarnation oder Weissagung greifen, die Diskontinuitäten in anderen Hinsichten, namentlich den Übergang zum M o -notheismus, zu tragen vermochte.

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gründet werden, und in einem damit wird das Kommunikations-medium der Religion als symbolisch generalisiertes, sprach- und kommunikationsfähiges Interpretationsmittel glaubhaft ge-macht: Die Offenbarung liefert und begründet den Code des Mediums. Zugleich liegt in der historischen Faktizität der Offenbarung ein im Laufe der Zeit sich steigernder Abstrak-tionszwang, dem nur durch Interpretation Rechnung getragen werden kann2 I4.

Offenbarungsreligionen können in Ausarbeitung der offenbar-ten und textlich überlieferoffenbar-ten Sinngehalte als Glaubensreligio-nen entwickelt und tradiert werden. Sie könGlaubensreligio-nen sich gleichwohl nicht ganz von der Ebene des kultischen Rituals ablösen. Denn gerade in ihrer Einmaligkeit bedarf die Offenbarung der lau-fenden Wiederholung und Versicherung kontinuierender Gegen-wärtigkeit. Rituale gewinnen dadurch eine neue, Einmaligkeit kompensierende Funktion und lassen sich mit Bezug darauf in ihrem systematischen Zusammenhang interpretieren. Das ent-spricht ihrer Funktion als symbiotischer Mechanismen im sym-bolisch generalisierten Kommunikationsmedium der Religion.

Schließlich wird durch dieses Schlüsselkonzept die Möglichkeit einer binären Entscheidung über ja oder nein geschaffen, die für die Organisierbarkeit des Religionssystems als Kirche von zen-traler Bedeutung ist. Die Pauschalannahme der Offenbarung kommt, in ganz anderem Sinne als die Annahme des Glaubens an die Existenz Gottes allein, dem Eintritt in ein komplex orga-nisiertes Sozialsystem gleich, weil sie die Form einer Entschei-dung annehmen k a n n2 1' . Daher dürfte eher in der Offenbarung 2 1 4 Die darin liegende Spannung und Belastung des Religionssystems ist ab-lesbar an Gegeninstitutionen, etwa an den bereits erwähnten »Himmelsbrie-fen«, die als Kundgebung göttlichen Wissens und Wollens in der Gegenwart verehrt wurden.

2 1 5 Die kulturelle Neuartigkeit dieses Syndroms von individueller Ent-scheidung als Zuwendung zu einer neuen A r t von Frömmigkeit, Systemein-tritt und Annahme eines ausgearbeiteten Glaubens-Codes unterstreicht be-sonders A. D. Nock, Conversion, London 1 9 6 1 . Diese Entstehungssituation, in der das religiöse Kommunikationsmedium primär für Eintrittsentscheidun-gen artikuliert werden mußte, blieb von nachhaltiger Wirkung für Wechsel-beziehungen zwischen Glauben und Kirche, zwischen Medium und organisier-tem Sysorganisier-tem. Von Grenzsituationen der Bekehrung und Häresie her wird so ein Medium-Code entwickelt, der als Religion möglicherweise zuviel ver-langt.

(bzw. im historischen Auftreten Christi) als in der Bejahung der Existenz Gottes der Ansatzpunkt für die Formulierung von Glaubensbekenntnissen gelegen haben, die in der römischen K i r -che dann in eine vollständigere, einheitli-che und abfragbare Form gebracht wurden und damit Affinität zur Organisation erhielten2"5. Auf diese Weise konnte die Möglichkeit der Mit-gliedschaft für jedermann universell geöffnet, das heißt allein vom Bekenntnis und nicht von sonstigen Qualitäten wie Stam-mes- oder Volkszugehörigkeit, Schichtung, Beruf etc. abhängig gemacht, und zugleich die faktische Mitgliedschaft exklusiv ver-langt werden2 "7. Das Konzept Offenbarung ist kompatibel mit gesellschaftsstrukturellen Bedingungen, die eine universelle R e -krutierungsmöglichkeit unter autonom spezifizierbaren Bedin-gungen zulassen oder gar erfordern. Unter diesen Vorausset-zungen wird eine über gegebene Gesellschaftsgrenzen hinaus-reichende Missionspolitik der Bekehrung von Ungläubigen mög-lich, weil Bekenntnis und Mitgliedschaft so spezifiziert sind, daß sie nicht mehr notwendig eine Veränderung aller

gesellschaftli-216 Diese Hypothese eines Zusammenhangs von Thematik und Organisa-tionsfähigkeit und die weitere Annahme, daß ein Kommunikationsmedium von gesamtgesellschaftlichem Anspruch Sinnveränderungen erfährt, wenn sein Code als Organisationsmittel gebraucht wird, bedürfte im Falle des Glaubens-bekenntnisses genauerer Untersuchung mit modernen Mitteln. Den Nachweis eines selbständigen »christologischen« Sonderbekenntnisses hatte versucht Hans Lietzmann, Die Anfänge des Glaubensbekenntnisses, Festgabe Adolf von Harnack, Tübingen 1 9 2 1 , S. 2 2 6 — 2 4 2 . Siehe außerdem Oscar Cullmann, Die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse, Zollikon-Zürich 1 9 4 3 . Zur Ent-stehung eines Syndroms von Credo und Organisation ferner im Anschluß an Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, T ü -bingen 1 9 3 4 , Arnold Ehrhardt, Christianity before the Apostles' Creed, Har-vard Theological Review 5 5 ( 1 9 6 2 ) , S. 7 3 — 1 1 9 .

2 1 7 Daß für Religionssysteme, die diesen Weg gehen, andere Bezugsgruppen relevant werden als für eine territorial und schichtenmäßig geordnete Politik, und daß daraus Konflikte zwischen Religion und Politik resultieren, ist eine bekannte sozialgeschichtliche Erscheinung. V g l . dazu S. N. Eisenstadt, Religious Organizations und Political Process, Journal of Asian Studies 2 1 ( 1 9 6 2 ) , S. 2 7 1 — 2 9 4 , und ders., The Political Systems of Empires, N e w York — London 1 9 6 3 , S. 62 ff.; Schneider a.a.O. S. 73 ff.; Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs N. J. 1 9 7 1 , S. 30 ff. In der christlichen Dogmatik spiegelt sich diese Tendenz zur Abstraktion des Gesellschaftsbezugs unter Abspaltung von verwandtschaftlich oder territorial konstituierten Affini-täten in der bereits behandelten Rede vom »Reich Gottes.«

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chen Status- und Rollenbindungen des Einzelnen voraussetzen:

Der Christ kann Grieche oder Römer sein und bleiben.

Diese Schlüsselstellung des Offenbarungskonzepts im Schnitt-punkt zahlreicher symbolischer Beziehungen und durch sie ver-mittelter (und verdeckter) Funktionen legt es nahe, Dogmatik selbst durch Offenbarung zu definieren. Damit -wird ein hoch-generalisierter, zum Beispiel vom liturgischen Ritual unabhän-giger Begriff des Dogmas erreicht2 1 8. Das funktionalste Dogma mit höchstem Anschlußwert und günstigster Systemstellung wird dank dieser Lage bestimmend für den Begriff der Dogmatik selbst und kann in dieser Form nicht nur als Code eines gesell-schaftlichen Kommunikationsmediums, sondern auch als Bezugs-punkt für die Formulierung von Mitgliedschaftsbedingungen in Kirchen benutzt werden. Auf diese Weise schließt sich ein Zirkel, in dem die Offenbarung als ein Dogma eingeführt und das Dog-ma als Offenbarung behandelt wird - und funktional transzen-dierende Fragestellungen ausgeschlossen werden,

i i . Die Offenbarung offenbart sich selbst, indem sie sich auf ihr Erscheinen in der Welt bezieht. Die Theologie formuliert diese Selbstreferenz als Identität Gottes. Sie macht dabei von der ba-salen Selbstreferenz allen Sinnes Gebrauch, nämlich von der Möglichkeit, auf das Gemeinte nach Durchlaufen anderen Sinnes zurückzukommen2 1?. Würde sie auf Positionen geraten, von denen aus sie nicht zu Gott zurückkommen kann, wäre ein Feh-ler zu vermuten. Was aus der Sicht der Logik und der logisch schematisierten Wissenschaften als Fehler, als Tautologie oder petitio principii erscheint, ist für die Theologie bewußt betrie-bene Selbstvergewisserung, Ausweis von Identität - und im üb-rigen Paraphrasierung. Es muß ihr gerade darauf ankommen, so vorzugehen, daß Ziel und Prämisse der Argumentation zusam-menfallen, denn sie hat zu beweisen, daß sie auf diese Weise ins Leben eindringen kann. Ihr Theoriestil ist ihr Gottesbeweis -wenn es ihr gelingt, die Sterilität reiner Selbstimplikation zu überwinden, die beziehungsarme, orthodoxierte Sprache2 2 0 zu

1 1 8 Als eine vorsichtige Abschwächung dieses spezifisch neuzeitlichen, im Va-tikanum I gipfelnden Dogmenverständnisses vgl. etwa Walter Kasper, Ge-schichtlichkeit der Dogmen?, Stimmen der Zeit 179 (1967), S. 4 0 1 — 4 i 6 . 2 1 9 Vgl. Kapitel i, I I I .

220 Hierzu Jean-Pierre Deconchy, L'orthodoxie religieuse, Paris 1 9 7 1 .

erweitern, ohne in bloßes Metaphorisieren und Gleichnisreden zu verfallen, und die Wirklichkeit Gottes an seiner in der Welt offenbarten Selbstreferenz zu erweisen.

Aber das geht gar nicht, wird man sagen, dafür ist die Welt zu komplex. Das kann man wissen und modelltechnisch durchrech-nen. Unterbrechungslose Interdependenzen sind nicht nachvoll-ziehbar, und die theologischen Interdependenzunterbrechungen klassischen Stils durch Anfang und Ende (Schöpfung) oder durch Hierarchisierungen sind diskreditiert. Eben deshalb ist die Theo-logie auf die Auswege der Sterilität und der Metaphorik gera-ten und beschäftigt sich mit deren Kombination. Dieser Einwand gewinnt an Bedeutung, wenn man die hier vertretene Einschät-zung teilt, daß das Bewußtwerden der Komplexitätsprobleme die intellektuellen Signaturen unserer Zeit prägt. Wenn diese Einschätzung zutrifft, wird die Theologie nur durch eigene Kom-plexitätsreduktionen Weltrelevanz zurückgewinnen können.

X I .

Mit diesen Überlegungen ist über das Reflexionspotential reli-giöser Dogmatiken nicht abschließend geurteilt. Es liegt nahe, die Frage zu stellen, ob der begrifflich-dogmatische Ausgleich jener verschiedenen Funktionen (nämlich Einsetzung bestimmba-rer Kontingenz, Codierung eines Mediums, Interpretation der Ausdifferenzierung und Erhaltung der Possibilität) in unserer christlichen Glaubensüberlieferung die Grenze eines gerade noch integrierbaren Spannungsverhältnisses darstellt und damit eine nicht überbietbare Leistung von Dogmatik überhaupt; und wei-ter, ob diese Gestalt von Dogmatik ein Religionssystem unserer Gesellschaft noch identifizieren und steuern kann. Die Dogma-tisierung von Religion hat gerade in ihrer spezifischen Leistung Probleme und Risiken. Was besonders gut gelungen war, kann sich nach einiger Zeit gerade deshalb als anpassungsunfähig er-weisen2 2 1. Gerade wenn religiöse Antworten auf sehr

verschie-2 verschie-2 1 Vgl. den auf das Wissenschaftssystem zugeschnittenen Begriff des obstacle epistemologique bei Gaston Bachelard, La formation de l'esprit scientifique, Paris 1 9 4 7 , der ein relativ zum Entwicklungsstand unzureichendes Niveau der lebensweltlichen Integration von Vorstellungen bezeichnet.

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denartige gesellschaftliche Probleme durch eine Dogmatik sy-stemintern überzeugend verknüpft worden sind, mag daraus eine Schranke der Umstellungsfähigkeit bei grundlegenden ge-sellschaftlichen Veränderungen resultieren. Eine solche Lage tritt namentlich dann ein, wenn die religiöse Dogmatik in bezug auf Kontingenzformel, Enttäuschungsabsorption, Medienbildung, Differenzierungskonzept, Zeitverständnis usw. mit jeweils an-dersartigen funktionalen Äquivalenten zu konkurrieren hat und dabei in ihrer problemspezifischen Orientierung durch system-interne Rücksichten gebunden bleibt.

Die gleiche Frage stellt sich im Hinblick auf die Strenge, mit der die Außen/Innen-Differenz durchgeführt wird. Ks könnte sehr wohl sein, daß eine systemexklusive Religiosität, die »keine an-deren Götter neben sich duldet«, höhere Ebenen der Abstraktion innerreligiöser Reflexion ausschließt, weil sie sich nicht mehr in

»Glauben« umsetzen läßt, und daß günstigere Ausgangspunkte bei nichtexklusiven Religionen liegen, die zum Beispiel eine ten-dentiell atheistische Religiosität - man denke an den Buddhis-mus oder an bestimmte Hindu-Philosophien — mit Götterglau-ben der verschiedensten Art hatten kombinieren können2 1 2. Die-se Kombinationsmöglichkeit beruht allerdings, soziologisch geDie-se- gese-hen, auf einem Gegensatz von Hochkultur und Dorfkultur2 2', der seinerseits geringe Kommunikationsmöglichkeiten voraus-setzt und in dieser Form aussterben wird. Die Entwicklungs-möglichkeiten auf diesem Gebiet entziehen sich einer verläßli-chen soziologisverläßli-chen Prognose.

Wir können jedoch noch fragen, ob die vorangegangenen Ana-lysen nicht Anlaß geben könnten, den Reflexionsbegriff zu re-vidieren.

2 2 2 V g l . hierzu Gananath Obeyesekere, The Great Tradition and the Little Tradition in the Perspective of Sinhalese Buddhism, Journal of Asian Studies 22 ( 1 9 6 3 ) , S. 1 3 9 — i n » ders., Theodicy, Sin and Salvation in a Sociology of Buddhism, in: Edmund R. Leach (Hrsg.), Dialectic in Practical Religion, Cambridge Engl. 1968, S. 7—4o; ferner die Beiträge von Tambiah und Ro-binson im gleichen Band; Georges Condominas, Notes sur le Bouddhism populaire en milieu rural de Lao, Archives de sociologie des religions 2$

(1968), S. 8 1 — 1 1 0 , 26 (1968), S. i n — 1 5 0 ; S. J. Tambiah, Buddhism and Spirit Cults in North-East Thailand, Cambridge Engl. 1 9 7 0 ; Richard F.

Gombrich, Precept and Practice: Traditional Buddhism in the Rural High-lands of Ceylon, Oxford 1 9 7 1 .

223 V g l . Robert Redfield, Peasant Society and Culture, Chicago 1956.

Seit alters und verstärkt in der neuzeitlichen Reflexionsphiloso-phie spricht man von Reflexion im Hinblick auf den Prozeß des Denkens: als Denken des Denkens oder als Denken der Selbst-beteiligung am Denken. Denken ist aber nur ein Prozeß unter vielen anderen, die reflexiv werden können. - in der theologi-schen Diskussion des Liebens und des Wollens ist man bereits im Mittelalter anderen Fällen von Reflexivität sehr nahe gekom-men — und überdies darf die Prozeßstruktur der Reflexivität nicht verwechselt werden mit der Funktion kontingenter S y -stembestimmung, die sie leisten kann2 2*. Deren genauere Ana-lyse mit Hilfe der Differenz von System und Umwelt löst den einfachen Begriff des Subjekts als das letztlich zu Grunde liegen-de (imoKsi|ievov) auf. Die Entliegen-deckung liegen-des Subjekts im Denken des Denkens ist nur der paradigmatische Fall eines allgemeineren

Seit alters und verstärkt in der neuzeitlichen Reflexionsphiloso-phie spricht man von Reflexion im Hinblick auf den Prozeß des Denkens: als Denken des Denkens oder als Denken der Selbst-beteiligung am Denken. Denken ist aber nur ein Prozeß unter vielen anderen, die reflexiv werden können. - in der theologi-schen Diskussion des Liebens und des Wollens ist man bereits im Mittelalter anderen Fällen von Reflexivität sehr nahe gekom-men — und überdies darf die Prozeßstruktur der Reflexivität nicht verwechselt werden mit der Funktion kontingenter S y -stembestimmung, die sie leisten kann2 2*. Deren genauere Ana-lyse mit Hilfe der Differenz von System und Umwelt löst den einfachen Begriff des Subjekts als das letztlich zu Grunde liegen-de (imoKsi|ievov) auf. Die Entliegen-deckung liegen-des Subjekts im Denken des Denkens ist nur der paradigmatische Fall eines allgemeineren