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Seit Arnold van GennepS4 kennt man und untersucht man die Verwendung magischer, mythischer oder religiöser Mittel zur

Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution

1. Seit Arnold van GennepS4 kennt man und untersucht man die Verwendung magischer, mythischer oder religiöser Mittel zur

Überleitung von Personen aus einem Status in andere, vor allem in den Altersveränderungen des Lebenslaufes einschließlich der Grenzfälle von Geburt und Tod9s. Es ist geklärt, daß

Uber-94 Lcs rites de passage, Paris 1909.

95 S. G. F. Brandon, The Origin of Religion, The Hibbert Journal 57 (1959), S. 3 4 9 — 3 5 SJ sieht in diesen Grenzfällen den Ursprung von Religion über-haupt.

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leitungsrituale über eine Orientierungsschwierigkeit hinweghel-fen und für eine Zwischenzeit eindeutige, oft drastisch verdeut-lichte Ersatzorientierungen und außerordentliche Handlungs-grundlagen anbieten. Wir wissen ferner, daß es in modernen, stark differenzierten Gesellschaften, in denen Übergänge zu Normalerscheinungen werden, funktionale Äquivalente außer-halb der Religion gibt'6. Weshalb und unter welchen Vorausset-zungen wird Religion für die Lösung dieses Sonderproblems be-ansprucht?

Die Grundbedingung scheint zu sein, daß eine rein zeitliche Zä-sur nicht ausreicht, um die Situation zu klären. D i e Ubergangs-lage kann nicht durch Differenzierung des vorher und des nach-her Geltenden geordnet werden, weil im Wechsel die Identität durchgehalten werden muß. Aber die Übergangslage hebt die positionsbezogenen Bestimmungen auf. Der Überzuleitende ist

»sowohl - als auch« oder »weder - noch«, und z w a r gleichzeitig!

Seine Identität wird unklar und unbestimmbar. Diese Situation macht das Problem der Bestimmung des Unbestimmten aktuell, ohne es als Weltproblem zu stellen. Es kann daher konkreter behandelt und gelöst werden - etwa dadurch, daß man den Übergänger zeitweise entfernt, wegfingiert, übermalt oder daß man ihn jetzt in die Mysterien des Unsichtbaren und Unbegreif-lichen einweihte.

Mit veränderten gesellschaftlichen Grundlagen verändern sich die Voraussetzungen ebenso wie die Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem. Stärker differenzierte Gesellschaften können für ]eden Wechsel Sozialbeziehungen anbieten, die den Wechsel überdauern und die Identität abstützen (etwa: Liebesbeziehun-gen im Zeitpunkt des Berufseintritts). Sie leisten außerdem, und in engem Zusammenhang damit, eine schärfere, abstraktere Dif-ferenzierung von Welt und Zeit, so daß das Übergangsproblem durch eine rein zeitliche Zäsur artikuliert werden kann, die als

96 Vgl. z. B. Morris Janowitz, The Professional Soldier, Glencoe III. i960, S. 128 ff. über Einführungspraktiken in der Militärakademie West Point und allgemein Anselm Strauss, Mirrors and Masks, Glencoe III. 1959, S. 109 ff.;

Barney Glaser / Anselm Strauss, Status Passage, London 1 9 7 1 .

97 Vgl. dazu Viktor W. Turner, Betwixt and Between: T h e Liminal Period in Rites de Passage, in: Symposium on New Approaches to the Study of Re-ligion, Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, Seattle 1964, S. 4—20.

solche die Identität sowie die Bestimmbarkeit des Vorher und des Nachher nicht in Frage stellt. Damit verliert die Übergangs-situation ihren prinzipiell anomischen, unbestimmbaren Charak-ter und wird zu einer nur noch »schwierigen« Situation, deren Problematik auf Koordinations- und Lernschwierigkeiten redu-ziert und so gelöst werden kann?8.

Die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität und Differenziert-heit entlastet mithin die Religion von der Notwendigkeit, für Uberleitungen ganz konkrete Situationsdefinitionen zu beschaf-fen. Die religiöse Symbolik kann stärker abstrahiert und dogmatisiert werden. Um so schwieriger wird es, die Funktion der R e -ligion in diesem Sonderproblembereich überhaupt noch zur Gel-tung zu bringen. Religiös interpretierbar bleiben die speziell mit dem Religionssystem verbundenen Statusveränderungen, etwa Taufe und Kommunion/Konfirmation99. Im übrigen zieht die 98 Siehe dazu die Forschung über Behandlung von Neulingen in Gruppen und Organisationen, etwa William F. "Whyte, Human Relations in the Re-staurant Industry, N e w York—London—Toronto 1 9 4 8 , S. 2 1 1 ff.; Theodore M. Mills, Group Structure and the Newcomer: An Experimental Study of Group Expansion, Oslo 1 9 5 7 ; Peter M. Blau, Orientation Toward Clients in a Public "Welfare Agency, Administrative Science Quarterly 5 ( i 9 6 0 ) , S. 3 4 1 bis 3 6 1 (insb. 3 5 1 ff.); Norton E. Long, Administrative Communications, in:

Sidney Mailick / Edward H. Van Ness (Hrsg.), Concepts and Issues in A d -ministrative Behavior, Englewood Cliffs N . J . 1 9 6 2 , S. 1 3 7 — 1 4 9 ; William M. Evan, Peer Group Interaction and Organizational Socialization: A Study of Employee Turnover, American Sociological Review 2 8 ( 1 9 6 3 ) , S. 4 3 6 — 4 4 0 . Das Hauptergebnis dieser Forschung ist, daß das Problem in die Situations-definition übernommen und in paradoxen und dadurch belastenden Erwar-tungs- und Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt — daß vom Neuling zum Beispiel informal ein ungewöhnlich formalistisches Verhalten erwartet und mit Fehlertoleranz belohnt wird; daß ein Neuling sich an den bestehenden Normen schärfer stößt und sie doch genauer befolgt als andere, usw.

Parallel dazu gibt es Forschung über Situation, Verhalten und Behandlung derjenigen, die einen bevorstehenden Statuswechsel, im Extremfall ihren be-vorstehenden Tod, kennen und auch wissen, daß ihre Interaktionspartner ihn kennen. Auch hier scheinen, selbst im Falle des Todes, nichtreligiöse Formen des problembewußten Kommunikationsmanagements vorzuherrschen, in denen religiöse Floskeln allenfalls noch die Funktion von Kommunikationshilfen erfüllen. V g l . etwa Barney G. Glaser / Anselm L. Strauss, Awareness of Dying, Chicago 1 9 6 5 ; dies., Temporal Aspects of Dying as a Non-Scheduled Status-Passage, The American Journal of Sociology 7 1 ( 1 9 6 5 ) , S. 4 8 — 5 9 . 99 Aber auch hier dringen die im übrigen üblichen, rationaleren Formen der Problemstellung und Problemlösung vor, zum Beispiel wird das in der

vo-1 vo-1 6

Religion sich auf eine auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht mehr funktionsnotwendige, nur fallweise abgerufene »helfende Begleitung«1 0 0 zurück, die bereitgestellt wird für den Fall, daß Situationen, obwohl nicht anomisch, den Einzelnen aus welchen Gründen immer zu überfordern drohen1 0 1. Der Begriff »Hilfe«

signalisiert, daß nicht der Übergangsprozeß selbst religiös voll-zogen wird, sondern daß nur das Handeln, das von außen in ihn eingreift, religiös motiviert oder zumindest legitimiert wird.

2. Unser zweites Sonderproblem bezieht sich nicht auf den Wechsel, sondern auf die Enttäuschung der mit einer Situation oder einer Position fest verbundenen Erwartungen: Ein Gesun-der wird krank, ein Haus brennt ab, ein Vater verhält sich nicht als Vater. Solche mit Strukturbildung unvermeidlich verbunde-nen Enttäuschungen bilden ein Doppelproblem je nach der zeit-lichen Beziehung zum Ereignis: Soweit Enttäuschungen als Mög-lichkeit antizipiert, aber nicht konkret voraussehbar sind, erzeu-gen sie Angst. Soweit sie geleerzeu-gentlich faktisch eintreten, erzeuerzeu-gen sie Unsicherheit in bezug auf die Geltung und Verläßlichkeit konkret enttäuschter Erwartungen. Bei Angst handelt es sich also um das Problem der Unbestimmbarkeit von Enttäuschun-gen bestimmter ErwartunEnttäuschun-gen, bei Unsicherheit um die Unbe-stimmtheit der Erwartungen, die angesichts einer bestimmten Enttäuschung gelten sollen. Unter näher zu klärenden Voraus-setzungen erfüllt Religion in beiden Beziehungen eine Funktion der Erklärung und Absorption solcher Enttäuschungen1 0 2.

rigen Anmerkung notierte Problem der Lern- und Einsichtsfähigkeit auch hier akut und die Problemlösung durch vorübergehenden Rigorismus der Normorientierung auch hier praktiziert.

100 Diese Formel im Zusammenhang einer funktionalen Theorie kirchlichen Handelns bei Karl-Wilhelm Dahm, Beruf: Pfarrer, München 1 9 7 1 , insb. S.

1 1 6 ff., 303 fr. Z u r zweiten Funktion der »Wertevermittlung« siehe unten Anm. 105.

101 »Aus welchen Gründen immer« heißt organisationspraktisch übrigens, daß die vorkommenden Fälle nicht voraussehbar sind und daß die Initiative zur Aufnahme des Kontaktes daher aus der Umwelt an die Kirche herangetragen werden muß.

ioz So am augenfälligsten in archaischen Gesellschaften. V g l . z. B. E. E.

Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande of the Anglo-Egyptian Sudan, Oxford 1 9 3 7 ; Melford E. Spiro, Ghosts, Ifaluk, and Teleological Functionalism, American Anthropologist S4 ( 1 9 5 2 ) , S. 4 9 7 — 5 0 3 ;

Eine Enttäuschung ist mehr als ein unerwartetes Ereignis. Sie greift die Erwartung selbst an, gefährdet die Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des Erlebens und Handelns auch für künftige Situationen und, je nach dem Grade der Generalisierung des Erwartens, auch für andersartige Situationen. Enttäuschungen sind Bruchstellen in den Strukturen und damit Einbruchsteilen unbestimmbarer Möglichkeiten. Mehr oder weniger weit aus-greifende Angst und Unsicherheit können die Folge sein. Es liegt daher nahe, angesichts einer generalisierten Gefährdung ge-nerell verwendbare religiöse Symbolik einzusetzen; der Zusam-menhang mit der Hauptfunktion der Religion, der Transforma-tion unbestimmter in bestimmte oder doch bestimmbare Kom-plexität, liegt auf der Hand.

Gleichwohl steht schon für früheste Gesellschaftssysteme fest, daß das Problem der Erwartungsenttäuschung nicht ausschließ-lich religiös empfunden und gelöst wird. Im Falle der Enttäu-schung einer Erwartung bieten sich prinzipiell zwei einander entgegengesetzte Möglichkeiten der Problemverarbeitung an:

Man kann die enttäuschte Erwartung ändern, eine andere für sie substituieren, also lernen; oder man kann sie kontrafaktisch beibehalten und versuchen, sie durchzusetzen1^. Jede dieser Strategien hat ihre besonderen Bedingungen. In dem Maße, als die Art der Enttäuschungsabwicklung in dem einen oder anderen Sinne antizipiert werden kann, gewinnt die Erwartung selbst eine im einen Falle kognitive, im anderen Falle normative Fär-bung; sie antizipiert etwas, was ist, oder etwas, was sein soll.

In dem Maße, als diese Differenzierung in die

Erwartungsstruk-Max Gluckman, Custom and Conflict in Africa, Oxford 1 9 5 5 , S. 81 ff. Für Belege aus den hinduistischen und buddhistischen Traditionen vgl. z. B. Pau-line Kolenda, Religious Anxiety and Hindu Fate, Journal of Asian Studies 23 (1964), S. 7 1 — 8 1 und Arnes a.a.O., insb. S. 38 f. Darüber hinaus wird viel-fach in dieser Frage das Bezugsproblem der Religion überhaupt gesehen. Der theoretische Gehalt der neueren Religionssoziologie zeigt sich jedoch darin, daß dieser begrenzte Standpunkt überwunden und aufgehoben worden ist in einer abstrakteren Fragestellung, die die Absorption von Enttäuschungen und die Begründung von Sinnstrukturen als Einheit zu sehen vermag. So in einem ersten Ansatz Talcott Parsons, The Theoretical Development of the Sociology of Religion, in ders., Essays in Sociological Theory, 2. Aufl. Glen-coe III. 1954, S. 1 9 7 — 2 1 1 (insb. 209).

103 Zu diesen beiden Möglichkeiten ausführlicher Niklas Luhmann, Rechts-soziologie, Reinbek 1 9 7 2 , Bd. I, S. 40 ff.

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tur aufgenommen und entscheidbar wird, gibt es auch antizi-pierbare Techniken des Umgangs mit Enttäuschungen, die die Funktion der Bestimmung übernehmen. Der unmittelbare Bezug zur Religion tritt zurück. Schon in frühesten Gesellschaften gibt es sehr wohl religionsfreie, kognitiv strukturierte Sphären des Erlebens und Handelns in der unmittelbaren Auseinanderset-zung mit der Natur. Und ebenso gibt es rechtliche Normativität, die mehr oder weniger technisch durchgebildet ist und nicht als Bestandteil der Religion erlebt wirdI 04. Im Bereich dieser sei es als kognitiv, sei es als normativ ausdifferenzierten Erwartungs-strukturen zieht sich die Religion aus dem unmittelbaren Ge-schäft der Enttäuschungsabsorption zurück und übernimmt statt dessen die Funktion der Deutung und Legitimation der Erwar-tungsstrukturen selbst1 0'.

Im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung nimmt der Um-fang, die Prägnanz und die Trennbarkeit der sei es kognitiv, sei es normativ geordneten Erwartungsbereiche zu. Deren Grund-lagen zu interpretieren, wird zur Hauptbeschäftigung der Hoch-religionen und zur Quelle von gesellschaftlichen Kompatibili-tätsanforderungen an ihre Dogmatik. Soweit auch Hochreligio-nen noch konkrete Enttäuschungsabsorption leisten, geschieht dies auf dem Umweg über Konkretisierung und Denaturierung dogmatischer Materialien1 0 6. Insgesamt nimmt jedoch im Laufe 104 Dazu ausführlich und gegen die ältere Theorie eines Ursprungs allen Rechts aus der Religion A. S. Diamond, The Evolution of L a w and Order, London 1 9 5 1 . Entsprechend unterscheidet Max Gluckman, African Juris-prudence, Advancement of Science 18 (1962), S. 4 3 9 — 4 J 4 (4S0 f.), zwischen dem judiziellen Mechanismus und magisch-ritueller Enttäuschungsbehandlung.

10$ Deshalb können wir die zweite Funktion kirchlichen Handelns, die Karl-Wilhelm Dahm a.a.O., S. 1 1 6 ff., 303 ff. für heute noch aktuell und praktisch bedeutsam hält, nämlich Wertevermittlung, diesem Sonderproblem zuordnen.

106 Gut illustrierbar ist ein solcher Vorgang an der mittelalterlichen Ver-wendung der Lehre vom Antichrist, die als begrifflich-dogmatische Grundlage außer einer eschatologischen Geschichtsauffassung den Reichsgedanken (vgl.

unten S. 149 f.), ferner die Möglichkeit, ihn sowohl positiv als auch negativ zu fassen, und seine ethisch-politische Kombination mit Tugend- und Sünden-lehren zur Voraussetzung hat; die dann aber sowohl gesellschaftlichen als auch natürlichen Ereignissen gegenüber sehr drastisch als Erklärungs-, Ein-schüchterungs- und Sanktionsmittel eingesetzt wurde. V g l . z. B. Ernst Bern-heim, Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Ge-schichtsschreibung, Bd. I, Tübingen 1 9 1 8 , insb. S. 70 ff.; Christopher Hill, Antichrist in Seventeenth-Century England, Oxford 1 9 7 1 .

der Neuzeit in dem Maße des Ausbaus einer wissenschaftlich, also kognitiv bestimmbaren Weltvorstellung das Bedürfnis nach Enttäuschungserklärungen dieser Art auch im gesellschaftlichen Alltag ab. Im Bereich der Selbstverständlichkeiten des Alltags bleiben Erwartungen virulent, die so selten gebrochen werden, daß ein sei es kognitiver, sei es normativer Stil der Enttäu-schungsabwicklung nicht ausgebildet wird. Verstöße werden in krasseren Fällen weiterhin religiös interpretiert, bis die neuzeit-liche Gesellschaft auch dafür eine nicht mehr religiöse Problem-definition, nämlich Geisteskrankheit, und entsprechende Behand-lungstechniken erfindet, die die normalen Erwartungsmuster vor Verunsicherung schützenI07. Eine rationale Theologie kann in Geisteskranken nur noch eine Aufgabe liebevoller Pflege sehen, nicht mehr eine Quelle der Inspiration oder eine Erklärung für Unglauben. Es verbleiben in diesem Sonderproblembereich der Enttäuschung, ebenso wie bei Überleitungsschwierigkeiten, für die kirchliche Praxis schließlich nur noch individuelle Problem-fälle übrig, in denen Trost und Hilfe gespendet werden kann.

Und es bleibt die Funktion, die Wertgrundlage der gesellschaft-lich dominanten Erwartungsstrukturen zu stützen und zu ihrer Konsolidierung beizutragen. Es wäre unsinnig, diese Funktion als solche schon zu kritisieren und zu verwerfen. Sie wird je-doch suspekt und angreifbar, nachdem ihr enger Zusammenhang mit der Deutung und Aufhebung von »Kosten«, Strukturbrü-chen und Dysfunktionen der eingesetzten Strukturen abgerissen ist. Man fragt sich, ob jener organisierte Okkasionalismus der Zuwendung zu den Armen und Benachteiligten, ob Caritas und Diakonie in dieser spezifischen Hinsicht ausreichende Gegenge-wichte sind. Denn in der Distanz zwischen Wertbestätigung ei-nerseits und karitativer Behandlung von Problemfällen (Funk-tionen, die je für sich auch nicht-religiös erfüllt werden könnten) geht die alte Einheit der Bestimmung des Unbestimmten ver-loren.

Für eine adäquate Theorie der Religion ist die Einsicht von Be-deutung, daß keine der beiden Teilfunktionen - weder die Überbrückung eines Wechsels noch die Uberbrückung von E r -107 V g l . dazu Michel Foucault, Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt 1968. In diesem Zusammenhang ferner lesenswert Ronald D. Laing, Phäno-menologie der Erfahrung, Frankfurt 1969.

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Wartungsenttäuschungen - für sich allein die Funktion der Re-ligion ausreichend charakterisiert, und daß keine dieser Teil-funktionen auf die jeweils andere reduzierbar ist. Diese Lage führt auf dogmatischer Ebene zu religiösen Vorstellungen, die beide Arten von Strukturbrüchen übergreifen, u n d auf religions-theoretischer Ebene zu einem höheren Abstraktionsgrad der Theorie.

I X .

Eine der theoretisch wichtigsten Fragen, die im Anschluß an eine funktionale Analyse von Religion gestellt werden muß, zielt auf das Problem eines für Religion spezialisierten, v o n der Profes-sion betreuten symbolischen Kommunikationsmediums. Die Funktion der Religion wird sich in einer hochkomplexen Ge-sellschaft nur mit Hilfe eines Mediums für geistliche Kommuni-kation erfüllen lassen, das besonderen Anforderungen gewach-sen ist. Diese Frage nach einem besonderen Kommunikations-medium für Religion ersetzt die ältere Annahme, daß Religion die Funktion gesellschaftlicher Motivsteuerung schlechthin er-fülle1 0 8. Dadurch wird es möglich, das Problem der gesellschaft-lichen Vorbedingungen für die Spezialisierbarkeit eines beson-deren Motiv-Codes der Religion prägnanter zu stellen und diese Frage zu unterscheiden vom allgemeinen Problem sozial-ad-äquater Motivation.

Im Ganzen weist die gesellschaftliche Entwicklung ein hohes Maß an Kongruenz zwischen Teilsystembildung und Medienbil-dung auf. Die Politik arbeitet mit Macht, die Wissenschaft mit Wahrheit, die Wirtschaft mit Geld, die Familie mit Liebe. In all diesen Fällen sind Ausdifferenzierungsschwellen vor allem in der Neuzeit mit Hilfe der Verselbständigung und Neuinterpretation von Medien-Codes genommen worden. Wie steht es mit dem Medium der Religion?

In der soziologischen Theorie Talcott Parsons' fungiert »com-mitment« als hier einzuordnender Medienbegriff - allerdings analytisch auf die Funktion des latent pattern maintenance und

108 So noch Robert N. Bellah, The Place of Religion in Human Action, Re-view of Religion 22 (1958), S. 1 3 7 — 1 5 4 .

nicht konkret auf Religion hin ausgearbeitet1 0'. Der Begriff be-zeichnet die Festlegung von Identität unter Reduktion anderer Möglichkeiten, gibt aber darüber hinaus nicht viel her1 1 0. Reli-giös-dogmatische Äquivalente für commitment finden sich in Be-griffen wie Bekenntnis, Bekehrung, Taufe, die den Gedanken der selektiven Selbstfestlegung (wenn auch: auf Grund eines »An-rufes«) zum Ausdruck bringen, also nur in Religionen mit hoch-entwickeltem Kontingenzbewußtsein möglich sind. Aber Selbst-selektion ist kein Kommunikationsmedium; sie reduziert nur einfache, nicht doppelte Kontingenz.

Geht man dagegen von kommunikativen Situationen mit dop-pelter Kontingenz aus, muß die Vorstellung einer religiösen Selbstverpflichtung zumindest ergänzt werden. Zu allen Kom-munikationsmedien gehören zum Beispiel auch Code-Regeln ge-gen Selbstbefriedigung. Die Reduktion der Komplexität wird durch Selbstbefriedigungsverbote auf den Umweg sozialer In-teraktion geleitet und erreicht dadurch höhere Selektivität. Im Falle der Liebe ist das klar. Auch Geld darf man nicht einfach selbst machen, auch Macht darf man nicht einfach durch Dro-hung mit eigener physischer Gewalt selbst erzwingen, und Wahrheiten sind durch ihren Code als intersubjektiv zwingende

109 Siehe On the Concept of Value Commitments, Sociological Inquiry 38 (1968), S. 1 3 5 — 1 6 0 . Dazu bemerkenswert die an Parsons anschließenden Aus-führungen von Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior, New York 1 9 6 3 , S. 187 f., über Ausdifferenzierung religiöser commitments als Voraus-setzung für kollektive »crazes«. Vgl. ferner die Hinweise oben Anm. 8 und

79-1 79-1 0 Auch der allgemeine soziologische Sprachgebrauch führt über den um-gangssprachlichen Sinn des Wortes nicht wesentlich hinaus. Gemeint ist soviel wie Selbstverpflichtung, Selbstfestlegung, und zwar nicht im Sinne eines na-türlichen Gewordenseins, sondern unter Ablehnung anderer Möglichkeiten.

V g l . z. B. Anselm Strauss, Mirrors and Masks: T h e Search for Identity, Glencoe 1 1 1 . 1 9 5 9 , insb. S. 39 ff.; Thornton B. Roby, Commitment, Behavioral Science 5 (i960), S. 2 5 3 — 2 6 4 ; Helen P. Gouldner, Dimensions of Organiza-tional Commitment, Administrative Science Quarterly 4 (i960), S. 468—490;

Howard S. Becker, Notes on the Concept of Commitment, American Journal of Sociology 66 (19Ä0), S. 3 2 — 4 0 ; William Kornhauser, Social Bases of Political Commitment: A Study of Liberals and Radicals, in: Arnold M.

Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes: An Interactionist A p -proach, Boston 1962, S. 3 2 1 — 3 3 9 ; Rosabeth Moss Kanter, Commitment and Social Organization: A Study of Commitment Mechanisms in Utopian Com-munities, American Sociological Review 33 (1968), S. 4 9 9 — 5 1 7 .

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Gewißheiten definiert, das Evidenzerleben einzelner reicht nicht aus. Für den Fall des religiösen Glaubens hat der neuzeitliche Individualismus die Institutionalisierung von Selbstbefriedi-gungsverboten erschwert, zugleich aber auch den polemischen Begriff des »Fanatismus« geschaffen und dagegengesetzt1 1 1. Im ursprünglichen Sinne ist Fanatismus intolerantes, "verbohrtes Be-stehen auf privaten Einsichtsquellen gegen den allgemein akzep-tierten Glauben, also Selbstbefriedigung in Glaubensangelegen-heiten.

Weiter können aus den vorliegenden Ansätzen zu einer allge-meinen Theorie der Kommunikationsmedien Vorstellungen über Inflation und Deflation auf den Fall des spezifisch religiösen Mediums übertragen werden. Allerdings ist die Theorie hier in den Anfängen ihrer Entwicklung und durch sehr heterogene Auffassungen gekennzeichnet. Man kann davon ausgehen, daß Möglichkeiten der Inflation und der Deflation zu den spezifi-schen Risiken ausdifferenzierter und hochgeneralisierter Medien-Codes gehören und bei allen Medien, also nicht nur im bekann-testen Falle des Geldes auftreten. Wenn man, w i e hier, die Me-dien-Funktion in der Übertragung von Selektionsleistungen sieht, liegt es nahe, sowohl Inflation als auch Deflation als Stö-rungen dieser Funktion zu begreifen1 1 2. Inflation liegt vor,

in Zur Begriffsgeschichte und zur theologischen Herkunft v o n »Fanatismus«

siehe Robert Spaemann, Reflexion und Spontaneität: Studien über Fenelon, Stuttgart 1 9 6 3 , S. 163 ff. und ders., Fanatisch, Fanatismus, in Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I I , Basel — Stuttgart 1 9 7 2 , Sp. 904—908.

1 1 2 Teilweise abweichend Talcott Parsons, On the Concept of Value-Com-mitments a.a.O., S. 1 5 3 ff., der Inflation im Bereich von (u. a. religiösen) commitments als »overcommitment« beschreibt, nämlich als mehr und ver-schiedenartigere Engagements, als man erfüllen kann, und Deflation als man-gelnde Bereitschaft, commitments zu honorieren. V g l . auch Talcott Parsons / Gerald M. Platt, The American University, Cambridge Mass. 1 9 7 3 , S. 304 ff.

Zur Übertragung der Begriffe Inflation/Deflation auf das Kommunikations-medium Macht siehe auch David A. Baldwin, Money and Power, The Journal of Politics 33 ( 1 9 7 1 ) , S. 5 7 8 — 6 1 4 (608 ff.). Sehr bemerkenswert ist ferner der

Zur Übertragung der Begriffe Inflation/Deflation auf das Kommunikations-medium Macht siehe auch David A. Baldwin, Money and Power, The Journal of Politics 33 ( 1 9 7 1 ) , S. 5 7 8 — 6 1 4 (608 ff.). Sehr bemerkenswert ist ferner der