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Wenn zwei Bedingungen zusammentreffen: Wenn ein Reli- Reli-gionssystem wie das christliche mit scharfen Grenzen zwischen

Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution

4- Wenn zwei Bedingungen zusammentreffen: Wenn ein Reli- Reli-gionssystem wie das christliche mit scharfen Grenzen zwischen

Mitgliedern und Nichtmitgliedern ausdifferenziert wird und wenn diese Ausdifferenzierung, wie oben S. 105 f. skizziert, überzogene Erwartungen an religiös bestimmtes Erleben und Handeln erzeugt, verändert sich das Verhältnis von Welt, Sy-stem und Umwelt für ein solches SySy-stem in näher zu beschrei-bender Weise. Unter Umwelt ist der nicht dem System zuge-rechnete Weltausschnitt zu verstehen, unter Welt die Gesamtheit des im System und in seiner Umwelt Möglichen. Ausdifferen-zierte Religionssysteme des eben beschriebenen Typs müssen die Erfahrung machen, daß ihre eigenen Mitglieder den Erwartun-gen ihrer Religion nicht Erwartun-genüErwartun-gen. Das auserwählte Volk Gottes lebt nicht nach den Geboten Gottes. Diese Erfahrung verstärkt sich und verlangt eine Antwort, wenn solche Erwartungen nicht nur »meritorisch« im Hinblick auf mögliche Verdienste und mögliche Heilschancen, sondern in der hebräischen Tradition normativ formuliert sind1*0. Auf dieses Syndrom von religiöser Normativität und Sünde im auserwählten Volk kann man nicht mehr mit Freund/Feind- oder Nah/Fern-Differenzierungen rea-gieren. Die spätere Prophetie findet dafür die oben (S. 128) be-handelte Form der Generalisierung des Volksgottes zum Welt-gott und der Lösung des Kontingenzproblems durch eine Escha-tologie - das heißt eine Lösung, die ins Zeitliche verlegt ist und damit nicht mehr nur volkhafte, sondern bereits welthafte Züge annimmt1'1. Das ist symptomatisch und läßt sich systemtheore-tisch rekonstruieren.

In dieser Lage kommt nämlich die religiöse Dogmatik mit der schlichten Positiv/Negativ-Differenzierung von System und Umwelt nicht mehr aus. Sie kann sich nicht mehr auf die Auf-fassung zurückziehen, daß die Mitglieder gut, die Nichtmitglie-der dagegen schlecht seien. Sie kann die Welt also nicht mehr nur als Totalität dieses Gegensatzes rekonstruieren. Die Einstellung der Defensive oder der Gleichgültigkeit gegenüber einer feindli-chen Umwelt gibt keinen ausreifeindli-chenden Hinweis dafür, wie die Laxheit und die Anfälligkeit der eigenen Mitglieder für Sünde

1 5 0 Auf diesen Unterschied kommen wir unten S. 167 ff. zurück.

i $ i Hierzu lesenswert Hans Wildberger, Jesajas Verständnis der Geschichte, Supplements to Vetus Testamentum Bd. I X , Leiden 1963, S. 8 3 — 1 1 7 .

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zu verstehen seien. Christen müssen sogar die Gemeinsamkeit des Sakraments mit den Bösen ertragen, hoffend auf Aussortierung im Jüngsten Gericht. Die frühchristliche Umwelt-Indifferenz und Hinnahmebereitschaft ließ sich aus diesen Gründen nicht durchhalten; sie mußte in ein Weltverhältnis umgeformt wer-den, das die Frage der Annahme oder Verwerfung der Welt stellt, sie aber aus strukturellen Gründen nicht entscheiden kann, sondern bis ans Ende aufschiebt.

Ebenso kann es Situationen geben, die die Möglichkeit geben zu entdecken, daß auch die Gegner in einer feindseligen Umwelt nach eigenen Glaubensgrundsätzen und moralischen Gesichts-punkten handeln. Die Gefangenschaft der Kreuzritter war ein solcher Fall mit weitreichenden Folgen für das Mittelalter1 s2. Die Notwendigkeit wenn auch nur diplomatischer Interaktion erforderte Generalisierungen quer zu Glaubensschranken, für die eine sinnhafte Basis und zulässige Ordnung nach dem Vollzug nicht mehr schlechthin geleugnet werden konnte. Auch damit w a r die Einheit von Glauben, System und Welt aufgelöst.

Die (wie immer ausgelöste) Thematisierung von Welt bedeutet, daß Vollständigkeit nicht mehr, wie in archaischen Religionen, durch Mitzulassung des Gegenteils erreicht werden kann, son-dern nur noch durch Formulierung des Unbekannten.1'^ Das erzwingt neue Formen der Zurechnung. Vor allem ist der Aus-weg versperrt, sich selbst anzunehmen und die Umwelt zu ver-werfen. Die »Ähnlichkeiten« von Mitgliedern und Nichtmit-gliedern werden unübersehbar1'4. Sie können weder als Eigen-schaft des Systems noch als EigenEigen-schaft der Umwelt interpretiert werden; sie können nur der Welt zugerechnet werden1'*.

Men-1 5 2 V g l . Volker Rittner, Kulturkontakte und soziales Lernen im Mittelalter, Köln — Wien 1 9 7 3 .

1 5 3 Darin liegt zugleich ein günstiger Ausgangspunkt für die Entstehung von Wissenschaft. In diesem Zusammenhang benutzt Gaston Bachelard, La Philosophie du non: Essai d'une philosophie du nouvel esprit scientifique, 3. Aufl., Paris 1 9 6 2 , S. 58, die Wendung: »l'inconnu est formule«.

1 5 4 V g l . zu dieser für fortschreitende Differenzierung typischen Folge bereits Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig 1890.

iss Hier dürften die systemstrukturellen Gründe liegen für jene »Entgren-zung« oder »Entschränkung« der Geschichtsvorstellung Israels durch die Pro-pheten, die Wilhelm Kamiah, Christentum und Geschichtlichkeit, Stuttgart 1 9 5 1 , erörtert.

sehen schlechthin sind, weil sie in dieser Welt leben, der Sünde ausgesetzt. Die Kirche bleibt bis ans Ende der Welt civitas per-mixta's6. Je schärfer zugleich eine Differenz von System und Umwelt, von Christen und Heiden behauptet wird, desto ab-strakter muß eine Weltvorstellung ausfallen, die mit einer sol-chen Differenz noch kompatibel ist. Die Endform ist, daß der Unterschied der Gerechtfertigten und der Verdammten als uner-kennbar angesehen und dadurch mit jeder aktuellen Welt kom-patibel wird. Dann erfordert die Unterscheidung von den re-probi, die auch glauben, subjektive Reflexion auf die Bedingun-gen der Heilsgewißheit.

In den strukturellen Bedingungen dieser Situation ist demnach die Projektion eines universalistischen Weltbegriffs angelegt, der gleichwohl eine systemspezifische Basis hat und systemspezifi-schen Problemlagen entspricht. Damit ist nicht gesagt, welche dogmatischen Materialien bereitliegen, um einem solchen Welt-begriff Plausibilität und Motivfähigkeit zu verleihen. Für das Christentum lag es aus Gründen seiner Herkunft nahe, auf die Zeitdimension zurückzugreifen und Weltgeschichte als eine Hei-den und Christen übergreifende SünHei-den- und Heilsgeschichte darzustellen. Damit konnte die sachlich-sinnhafte Weltvorstel-lung in ihren Konsistenzanforderungen gelockert und in ein dra-matisches Geschehen umgedacht werden, das im Nacheinander verschiedene Zustände annehmen kann und in ein Eschaton aus-läuft.

Immer aber blieb ein religiös bestimmter Weltbegriff, und so auch der christliche, um seiner Funktion willen eine Reduktion, nämlich, um eine Formulierung von Oskar K ö h l e r ^ aufzuneh-men, repräsentative Darstellung von »Welt« in der eigenen Welt. Die regionalgesellschaftliche Selektion bestimmbarer Mög-lichkeiten hatte bis in die Neuzeit hinein stets als begrenzt vor-gestellte Welten produziert, die uns im historischen Rückblick als »Weltbilder« erscheinen. Erst die heutige Weltgesellschaft erzwingt, schon weil sie solche Weltbilder inkorporieren, also in ihrer Weltgeschichte Welten vorstellen muß, einen zugleich

re-1 5 6 Augustinus, C i v . Dei I, 3 5 .

1 5 7 Was ist »Welt« in der Geschichte, Saeculum 6 ( 1 9 J 5 ) , S. 1—9 (3). Zur gleichen Problematik ders., Versuch, Kategorien der Weltgeschichte zu be-stimmen, Saeculum 9 ( 1 9 5 8 ) , S. 4 4 6 — 4 5 7 .

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flexiven (auf sich selbst anwendbaren) und zukunftsoffenen Welthorizont, dessen kategoriale Struktur und Bestimmbarkeit über die Zukunft von Religion entscheiden wird. Daraus ergibt sich die Frage, auf die wir am Schluß dieses Kapitels zurück-kommen werden: ob die religiöse Dogmatik zum Begriff einer nichtnegierbaren Welt gelangen kann.

5. In den (relativ seltenen) Fällen, in denen die gesellschaftliche Entwicklung zur Nichtidentität politischer und religiöser Be-zugsgruppen führt, fordert die gesellschaftliche Funktion von der religiösen Dogmatik die Projektion eines eigenen Gesell-scbaftsbegriffs, mit dem sie sich gegen das vorgefundene, poli-tisch konstituierte Gesellschaftssystem absetzen kann. Dabei kann es sich nicht einfach um ein auf der Ebene v o n Politik kon-kurrierendes Konzept handeln (so wie Demokratie vs. Monar-chie), sondern nur um eine andersartige Merkmalskombination, die als Perfektionsbegriff der Gesellschaftlichkeit des Menschen auf die spezifisch religiöse Funktion hin formuliert ist. Dies lei-stet in der christlichen Tradition die verfängliche Formel vom Reich Gottes. Sie .postuliert gesellschaftliche Solidarität in einer Form, die weder auf verwandtschaftliche noch auf territorial-politische Bindung zurückgeführt werden kann, sondern sich diesen gegenüber indifferent gibt. Damit verstärkt die religiöse Dogmatik für sich selbst eine gewisse Unabhängigkeit von kon-kreten gesellschaftlichen Anforderungen und eine Möglichkeit der Eigenentwicklung, die ihr den Fortbestand auch im Zustande relativer Kontaktlosigkeit und Obsoletheit ermöglicht.1'8 Die Anlehnung an politische Begriffe (civitas, imperium) zeigt, daß hinter die politische Konstitution der Gesellschaft über den ar-chaischen Geschlechterverbänden nicht mehr zurückgegangen werden kann. Eben deshalb kann der religiöse Gesellschaftsbe-griff nicht einfach als Negation des politischen formuliert wer-den1 59. Zu deutlich ist den Kirchenvätern bewußt, wie sehr der

1 5 8 Z u r relativen Selbständigkeit im Verhältnis von Religion und Sozial-struktur früherer Gesellschaften vgl. auch Raymond Firth, Problem and As-sumption in an Anthropological Study of Religion, The Journal of the Royal Anthropological Institute 89 ( 1 9 5 9 ) , S. 1 2 9 — 1 4 8 (140 ff.).

1 5 9 Sowenig wie umgekehrt der Gegenbegriff zur civitas Dei, die civitas terrena Augustins, lediglich als die politisch konstituierte Gesellschaft zu ver-stehen ist. Oberhaupt ist der Gegensatz von civitas Dei und civitas terrena bei Augustin so vielseitig (und in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich)

ange-politisch stabile Frieden im Römischen Reich Ausbreitungsbedin-gung des christlichen Glaubens und damit FüAusbreitungsbedin-gung Gottes war.

Die stadtstaatliche Terminologie der civitas sive societas civilis affiziert die Terminologie der christlichen D o g m a t i kl S o. Aber es geht um einen andersartigen Anspruch an die Gesellschaft der Menschen, um eine Projektion, die weder als Substitution für das politische Konstitutionsprinzip der Gesellschaft, noch als dessen Gegensatz zu begreifen ist. Die Notwendigkeit und der systema-tische Stellenwert der Differenzierung zweier Reiche ist beson-ders für die christliche Tradition evident, nachdem Jesus von Nazareth an ihrer mangelnden Evidenz gescheitert war. Sie wird unter anderem auch im Dogma der Trinität ausgedrückt und stabilisiert1*1, das die strukturelle Isomorphie der beiden Reiche abschwächt - es gibt keine trinitarischen Monarchien —, aber nicht ganz aufgibt. Soziologisch ist daran ablesbar, daß die Gesellschaft, obwohl Einheit eines sozialen Systems, vom Po-litischen und vom Religiösen aus nicht mehr einheitlich interpre-tierbar ist. Theologisch kann freilich die Situation so nicht defi-niert werden, und es bleibt der Dogmatik die Teilaufgabe ge-stellt, dieses Reich Gottes zu interpretieren: was es ist, wo es ist, wen es umfaßt, wann es kommt.

Eine schärfere Differenzierung von Religion und Politik ent-zieht der Politik die einstige Mittlerrolle zwischen irdischem und kosmischem Geschehen, die jetzt die Religion mit Aus-schließlichkeit für sich beansprucht. Für die Politik ist das ein Funktionsverlust, der ihr zugleich größere Freiheit und Präzi-sierbarkeit einer spezifisch politischen Verantwortung einträgt.

Erdbeben und Mißernten geben nicht mehr als solche Anlaß, den Herrscher zu töten. Die Funktionen des Herrschers im R i -tual werden abgebaut, aber er kümmert sich noch um den Bau des Tempels. Die religiöse Dogmatik ihrerseits behauptet noch, ein eigenes Urteil über die Politik zu haben; aber die

Dissozi-lcgt, daß er trotz eingebauter Präferenz eine theokratische Einheitslösung aus-schloß und der Politik nur Kompatibilität mit christlichem Glauben abver-langte.

\6o Nachweise bei Arnold A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, 3 Bde. Tübingen 1 9 5 9 — 1 9 6 9 , insb. Bd. I I .

ie>i Diesen Zusammenhang sehen Theologen (Moltmann a.a.O., S. 27, im A n schluß an Peterson) ebenso wie Soziologen (Parsons, Christianity and the M o -dern Industrial Society a.a.O., S. 3 9 3 ) .

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ierung politischer und religiöser Kriterien bahnt einer Entwick-lung den Weg, an deren Ende die Politik religiös nur noch da-nach beurteilt wird, ob sie das kirchliche Religionssystem stützt und fördert.

6. Weiter stellt sich für eine hochentwickelte religiöse Dogmatik