• Keine Ergebnisse gefunden

Die Tradition Spencers ist eng mit den Fortschritts- und Phasen- Theorien der kulturellen Anthropologie verbunden. Diese, von Orlove [1980] als Neoevolutionismus bezeichnete Richtung, wird meist auf [Steward, 1955] und [White, 1943] zurückgeführt [Steiner, 1992,Steiner, 1993,vgl.

Teherani-Krönner, 1992,Young, 1974,Young, 1983]. Eine andere Richtung, die dem adaptionistischen Programm der darwinistischen Evolutionstheorie näher verwandt ist, und Kultur als Umweltanpassung interpretiert, bezeichnet Orlove als Neo-Funktionalismus. Dieser Richtung rechnet er Harris, Vayda oder Rappaport zu. Der Streit zwischen diesen beiden Richtungen beschäftigte die Anthropologie über Jahrzehnte, und wird in etwas veränderter Gestalt bis heute fortgesetzt. Allgemein werden jedoch Phasen- und Fortschrittsmodelle heute zunehmend kritisch beurteilt51, ebenso wie der mehr beschreibende als erklärende Charakter dieser Versionen von Theorien kultureller Evolution. Interessanterweise findet man diese Art von Kritik auch bei Julian Steward. In einer späten, erst posthum veröffentlichten Hommage an Karl Wittfogel schreibt er:

„Even after the stimulus of the centennial of Darwin’s Origin of Species in 1859, evolutionists were still largely concerned with the question of general stages of cultural evolution ]...[ rather than with the determination of specific causes of different kinds of cultural development or evolution”

[Steward, 1977]. Bis heute hält ein Teil der Anthropologie an transformatorischen dieser Gesellschaft durch den Ökonomen Thomas Malthus. Und das ist keine Ausnahme, „cross-fertilizing“ ist ein typischer Prozess in der Wissenschaftsgeschichte.

Fortschrittsmodellen fest.52 An Hand zweier neuerer Artikel von Tim Ingold [Ingold, 1998,Ingold, 1999], der diese Diskussion explizit führt, will ich beispielhaft argumentieren, warum ich diesen Ansatz für wenig vielversprechend halte.

In „The Evolution of Society“ argumentiert Ingold für die Entwicklungsbiologie und gegen die darwinistische Evolutionstheorie als Modell einer Integration von Biologie und Sozialwissenschaften und als Modell für eine Theorie sozialer Evolution [Ingold, 1998]. Seine erste Begründung besteht in einem Rückgriff auf die Begriffsgeschichte. Der Begriff Evolution war der ursprünglichen Bedeutung „unfolding“ oder „roll out“, dem ontogenetischen Prozess viel näher als dem phylogenetischen, und wurde erst später für die Theorie Darwins verwendet. Daraus folgert er, die biologische Evolutionstheorie sollte sich eigentlich nicht so nennen. Ingold fordert Begriffskonservativismus und verteidigt damit gleichzeitig die Sozialwissenschaften „who continue to associate the idea of evolution with that of a movement of progressive development in culture or society“ [Ingold, 1998]. Nun ist die Forderung nach Begriffskonservativismus kein sehr schlagendes Argument, und man könnte einwenden, dass es schließlich die Biologie war, die dem Begriff Evolution eine konkrete Bedeutung gab.

Inhaltlich lehnt Ingold die darwinistische Evolutionstheorie als Modell für kulturelle Evolution ab, weil diese nur annimmt, dass bestimmte Menschen in der Lage sind, überhaupt eine Evolutionstheorie zu formulieren, jedoch den historischen Prozess nicht erklären kann, der dazu führte. „Although Darwin could explain natural selection, natural selection cannot explain Darwin“

(Ingold 1998, p 83). Wofür immer Darwin in dieser Metapher stehen mag, für Kultur, für Geist, für Kognition, für Wissenschaft, keine Theorie leistet das, was Ingold fordert. Diese Forderung ist daher ungeeignet, um Entscheidungen zwischen Theorien zu treffen.

Zentral in Ingolds Überlegungen ist eine Kritik an der neo-darwinistischen Evolutionstheorie. Wie viele Kritiker verkürzt er in der Argumentation Evolutionstheorie auf Thesen und Modelle einiger weniger Subdisziplinen, hier Soziobiologie und Populationsgenetik, während er seine Schlussfolgerungen auf die gesamte Biologie ausdehnt. Beeinflusst von Susan Oyamas [Oyama, 1985], „developmental systems theory“, die eine Integration von Entwicklungsbiologie und Evolutionstheorie vorschlägt, fordert er die Einbeziehung des „Kontexts“. Daraus folgert er, dass Unterscheidungen, wie die zwischen Ontogenese und Phylogenese, Geschichte und Evolution, Kultur und Natur oder Gesellschaft und Umwelt als dualistisch abzulehnen sind und plädiert für eine Theorie der „Beziehungen“. Nur: Beziehungen zwischen wem oder was? Die holistische Vision, die Ingold verfolgt, seine Idee einer prozessualen Theorie (wovon?) führt ihn schließlich zu einer Definition von Evolution, die rein beschreibend ist und so allgemein bleibt, dass sie nichts mehr erklärt: „Evolution is the process in which organisms come into being with their particular form

51 Eine ausführlichere Diskussion über Theorien gesellschaftlicher Veränderung, die als

Evolutionstheorien auftreten, findet man bei Luhmann 1997 p 422ff.

52 Gleichzeitig kann man jedoch auch einen zunehmenden Einfluss darwinistischer Theorien, insbesondere der soziobiologischen Spielart feststellen siehe z.B. [Hewlett, 2001,Hewlett, 2002,Patton, 2000].

and capacities and, through their environmentally situated actions, establish the conditions of development for their successors“ (Ingold 1998, p 95).

Zu einem ganz analogen Ergebnis führt auch Ingolds Dualismuskritik. Wie jede Definition kommt auch die oben zitierte Definition von Evolution nicht ohne Unterscheidungen aus (hier Organismus/Umwelt). Es ist eine der notorischen Widersprüchlichkeiten der Dualismuskritik, dass sie Unterscheidungen ablehnt, indem sie neue (oder manchmal sogar die selben Unterscheidungen) verwendet, die sie dann aber nicht reflektiert [siehe z.B. Taylor, 1995]. Dazu kommt, dass Ingold Unterscheidungen offensichtlich ontologisch interpretiert. So beschreibt er seine zentrale Erkenntnis folgendermaßen „the human being, then, is not two things but one, not an individual and a person, but quite simply, an organism“ [Ingold, 1996]. Damit wird implizit behauptet, die Frage, was sind menschliche Wesen, kann richtig oder falsch beantwortet werden.

Richtig ist, dass Menschen ein Ding sind (und zwar ein Organismus), und falsch ist, dass sie zwei Dinge sind Person und Individuum. Damit interpretiert Ingold Unterscheidungen als Dualismen im Sinne Descarte’s, als sich gegenseitig ausschließende Realitäten.53 Ontologische Behauptungen lassen sich jedoch nicht beweisen. Die Frage ist also falsch gestellt.

Systemtheoretisch würde man hier fragen, was kann man durch die Unterscheidung Organismus/Umwelt beobachten und was ändert sich, wenn man z. B. die Unterscheidung Individuum/Person zugrunde legt, oder Geist und Materie. Auf diese Art kann man erkennen, wie durch unterschiedliche Unterscheidungen verschiedenes beobachtet werden kann. Das lässt sich auch wissenschaftshistorisch rekonstruieren. Auf Basis der Unterscheidung Organismus/Umwelt hätten weder Gregor Mendel noch Charles Darwin ihre Theorien entwickeln können. Darwin zum Beispiel benutzt die Unterscheidung Variation/Selektion.54 Ohne Genotyp/Phänotyp Unterscheidung wäre die moderne Populationsgenetik undenkbar, ohne DNA/Protein Unterscheidung wäre die moderne Molekularbiologie undenkbar. Ich stimme Tim Ingold und vielen anderen in ihrer Kritik an Verallgemeinerungen von Erkenntnissen aus biologischen Modellen zu.

Dennoch, diese Kritik schmälert erstens nicht deren Erklärungskraft im jeweiligen Geltungsbereich.

Die Populationsgenetik z. B. ist heute unverzichtbar in der Pflanzen- und Tierzucht. Sie verdankt ihren Erfolg der Reduktion des evolutionären Prozesses auf die mit einem mathematischen Wahrscheinlichkeitskalkül beschreibbare Frage nach der differentiellen Reproduktion von Genen in Populationen. Die Frage ist dann, was ist der Geltungsbereich? Man kann nun begründen, dass aus den populationsgenetischen Modellen nicht folgt, dass Evolution mit differentieller Reproduktion von Genen identisch ist. Dies jedoch, und das ist mein zweiter Einwand, erfolgte zwangsläufig unter Verwendung anderer Unterscheidungen. Die großen Debatten der Evolutionstheorie, die seit Jahrzehnten geführt werden [für einen Überblick siehe zum Beispiel

53 und kann erst dadurch das Descarte’sche Problem, wie ist Interaktion möglich, als kritisches Argument verwenden.

54 Um Darwins Leistung zu würdigen, muss man natürlich dazu sagen, dass er die

Unterscheidung Variation/Selektion nicht nur verwendet, sondern vielmehr „erfindet“ [im Sinn von Gregory Bateson, siehe 'Metalogue: What is an instinct?' in Bateson, 1972], um Evolution erklären zu können. Seither wurde sie von allen Evolutionstheoretikern verwendet.

Lewin, 1980],[Eldredge, 1995] verwenden für die Argumentation dieser These Unterscheidungen wie z.B. Ontogenese/Phylogenese, Makro- und Mikro-Evolution, genetisch/epigenetisch, System/Umwelt, Organismus/Umwelt, Material/und Formzwänge, Ursache/Wirkung. Durch jede dieser Unterscheidungen kommt in nicht trivialer Weise anderes ins Blickfeld, und daher sind sie zum Leidwesen der biologischen Wissenschaften auch nicht aufeinander rückführbar, sie sind nicht substituierbar und nicht priorisierbar. Aus dieser Art von Argumentation kann man also nicht schließen, dass z.B. die der Populationsgenetik zugrunde liegenden Unterscheidungen obsolet, oder falsch sind. Genau das ist es jedoch, was Ingold in einem analogen Umkehrschluss behauptet. Nachdem er durch die Einführung der Unterscheidung Organismus/Umwelt die Verallgemeinerung der populationstheoretischen Grundthese kritisiert, schließt er, dass die Organismus/Umwelt Unterscheidung besser sei, und der gesamten Biologie zugrunde gelegt werden sollte. Mehr noch, obwohl er offensichtlich die Unterscheidung Organismus/Umwelt verwendet, scheint er zu glauben, dass Organismus ein unterschiedsloser Begriff wäre, dass damit der Dualismus überwunden wäre: „....forms of environmental objects, like forms of organisms themselves...are crystallisations of activity within a relational field“ (Ingold 1996, 24). In welcher Weise erklärt jedoch die Formulierung, dass alles mit allem zusammenhängt und in einem relationalen Feld wächst, Darwin besser als die Theorie natürlicher Selektion? Die Antwort ist, sie erklärt es gar nicht. Wir landen also wieder bei einer holistischen Vision, die begrifflich alles umfassen will, und nichts mehr erklären kann. Gleichzeitig werden hier all jene Unterscheidungen abgelehnt, mit deren Hilfe sehr viel präziser beobachtet werden kann, mit dem Hinweis darauf, dass mit keiner dieser Unterscheidungen alles beobachtet werden kann. Nun, wie wir aus der Kybernetik zweiter Ordnung wissen, kann mit keiner Unterscheidung ALLES beobachtet werden. In anderen Worten: jede Beobachtung hat einen blinden Fleck [Foerster, 1993]. Wenn wir George Spencer [Brown, 1972] in seinem Credo: „Draw a distinction and you create a world“ folgen, sind wir jedoch in der Lage, Unterscheidungen zu benutzen, aber diese gleichzeitig zu hinterfragen, in ihrer Beschränktheit zu erkennen und in ihrem Geltungsbereich einzugrenzen.