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Das Gesellschaft-Natur-Verhältnis als geschichtsmächtige Kraft: Godelier (1984)

2.1 Gesellschaft-Natur-Verhältnisse in der Humanökologie (Boyden), der Kulturanthropologie

2.1.2 Das Gesellschaft-Natur-Verhältnis als geschichtsmächtige Kraft: Godelier (1984)

weil er sich als Kulturanthropologe einerseits der Tradition von Levi-Strauss verpflichtet fühlt und kulturellen Besonderheiten und deren inneren Zusammenhang große Aufmerksamkeit widmet, andererseits jedoch den Anspruch erhebt, im Rahmen der marxistischen Tradition das Verhältnis von „Basis“ und „Überbau“ und die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als historische Triebkraft neu zu bearbeiten. Seine Ehrerbietung gegenüber den Arbeiten von Levi-Strauss zeigt sich an der privilegierten Stellung, die der Begriff des „Denkens“ bei ihm einnimmt.5 Mit diesem Begriff ist die Vorstellung einer objektivierten (also von individuellem Bewusstsein unabhängigen) symbolischen Struktur verbunden, die eine innere Kohärenz hat und sich keineswegs bloß „adaptiv“ gegenüber der Umwelt und ihren Veränderungen verhält.6 Damit ist eine wichtige theoretische Voraussetzung dafür geschaffen, den Menschen nicht als individuellen Vertreter einer Spezies zu behandeln (wozu die Humanökologie tendiert), sondern von vornherein

5 vgl. das theoretische Hauptwerk von Levi-Strauss, „Das wilde Denken“ [Lévi-Strauss, 1968].

6 Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass sich Godelier gegenüber der materialistischen Kulturanthropologie (er nennt dabei Sahlins und Harris) deutlich abgrenzt. Er bezeichnet sie als

„vulgärmaterialistisch“ und „ökonomistisch“ (Godelier 1984, 59).

auf Kultur und Gesellschaft zu beziehen7, und nicht in einen naturalistischen oder materialistischen Reduktionismus zu verfallen, der Kultur zu einem Anpassungsinstrument degradiert. Auf der anderen Seite veranlasst ihn seine Bindung an die marxistische Theorietradition, dem Erkenntnisziel zu folgen, „die Auswirkungen der materiellen Bedingungen der Aneignung der Natur auf den Organisationsmodus der Gesellschaft und die Rückwirkungen dieser Organisationsmodi auf die materiellen Bedingungen“ aufzudecken [Godelier, 1984, 61], auch wenn er dies methodisch für schwer einlösbar hält.

Einleitend setzt Godelier einen Rahmen, der eine Brücke zwischen Kulturanthropologie und Universalgeschichte schlägt:

„Der Mensch hat eine Geschichte, da er die Natur verändert. Und diese Fähigkeit gehört zur Natur des Menschen. Der Gedanke ist, dass von allen Kräften, die den Menschen bewegen und ihn neue Gesellschaftsformen erfinden lassen, die bedeutendste Kraft seine Fähigkeit ist, sein Verhältnis zur Natur zu verändern, indem er die Natur selbst verändert“( Godelier 1984, 13).

Mit dieser Formulierung knüpft Godelier an die marxistische Tradition an, er geht aber zugleich einen wichtigen Schritt darüber hinaus. Die Rede ist nämlich nicht bloß von den Formen der

„Aneignung“ von Natur8, und den Veränderungen dieser Formen von Aneignung („Entwicklung der Produktivkräfte“ in klassischer Diktion), sondern davon, dass im Zuge dieser Aneignung Natur selbst verändert wird, und als so veränderte Natur auf Gesellschaft zurückwirkt, somit diese einem neuerlichen Veränderungsdruck aussetzend. Natur wird in diesem Verhältnis also nicht, wie so häufig seitens der Sozialwissenschaft, als statisch gedacht, sondern als historisch variabel - und die starke Aussage ist die, dass die Gesellschaft eine Geschichte hat, weil und insoweit sie natürliche Veränderungen auslöst, denen sie sich dann wieder stellen muss. Wir haben es hier also nicht nur mit einer Dynamik von „Produktivkräften“ und „Produktionsverhältnissen“ zu tun, der die Natur äußerlich bleibt, als „anzueignende“, sondern mit einer möglicherweise als ko-evolutiv zu bezeichnenden Dynamik gesellschaftlicher und natürlicher Verhältnisse. In der Beschreibung dieser natürlichen Verhältnisse bedient sich Godelier auch nicht eines summarischen Begriffs des

„Materiellen“, sondern er differenziert die „materielle Wirklichkeit“, mit der Gesellschaft es zu tun hat, und unterscheidet folgendermaßen (Godelier 1984, 15f):

1) „Zunächst gibt es jenen unendlichen Teil der Natur, der sich immer außerhalb der direkten oder indirekten Reichweite des Menschen befindet, aber dennoch ständig auf diesen einwirkt“ (als Beispiele nennt er das Klima und die Bodenbeschaffenheit – das würde man heute vielleicht nicht mehr so sehen)

2) „jener Teil der Natur, der vom Menschen bereits verändert wurde, aber indirekt, ohne dass dieser die Konsequenzen seines Handelns gewollt oder vorhergesehen hätte“ (Beispiele:

7 „Im Gegensatz zu anderen sozialen Lebewesen begnügen sich die Menschen nicht damit, in Gesellschaft zu leben, sie produzieren Gesellschaft, um zu leben“ (Godelier 1984, 13).

8 was, wie Schmidt [Schmidt, 1971] richtig vermerkt, mehr ist als der Begriff der „Nutzung“, der zu Marx’ Zeiten gebräuchlich war, also ein höheres Maß an gegenseitiger Durchdringung suggeriert.

Bodenerosion, Veränderungen der Vegetation infolge des Einsatzes von Buschbränden für die Jagd; diesen Bereich würden ich mit anthropogen beeinflusst umschreiben)

3) jenen Teil, der „vom Menschen unmittelbar verändert wurde und der sich seitdem nicht mehr ohne ihn reproduzieren kann, ohne seine Pflege und seine Arbeit“ 9 (Beispiele: Nutzpflanzen und – tiere: „Werden diese Pflanzen und Tiere sich selbst überlassen, überleben sie entweder unter unsicheren Bedingungen, oder sie fallen in den wilden Zustand zurück, oder sie ... verschwinden“.

In unserer Terminologie handelt es sich hierbei um kolonisierte Systeme)

4) „Bereiche der Natur, die der Mensch für die Herstellung seiner materiellen Existenzbedingungen zu seinem Gebrauch verändert hat: ...Werkzeuge und Waffen, die so etwas wie äußere Organe bilden, durch die sein Körper verlängert wird“ (dies bezeichnen wir mit dem Begriff Artefakte) 5) Bereiche der Natur, „die der Mensch ausgesondert hat und die in ihrer ursprünglichen Form oder durch ihn verändert den materiellen Rahmen des gesellschaftlichen Lebens in allen Dimensionen abgeben“ (Beispiele: Bauten; hier sprechen wir von materiellen Stocks bzw. materieller Infrastruktur als Teil der Artefakte)

„Die Grenzen zwischen Natur und Kultur, die Unterscheidung zwischen Materiellem und Ideellem, neigen im übrigen dazu, sich zu verwischen, wenn man den Teil der Natur analysiert, der unmittelbar dem Menschen unterworfen ist und von ihm produziert oder reproduziert wird (Haustiere ... Werkzeuge ...). Diese dem Menschen äußere Natur ist keine der Kultur, der Gesellschaft und der Geschichte äußere Natur ... Sie ist materielle und zugleich ideelle Wirklichkeit, oder zumindest verdankt sie ihre Existenz dem bewussten Eingriff des Menschen in die Natur...Dieser Teil der Natur ist die angeeignete, vermenschlichte, Gesellschaft gewordene Natur: die in die Natur eingeschriebene Geschichte“ (Godelier 1984, 16).

Die Kernunterscheidung zwischen dem „Materiellen“ und dem „Ideellen“ ist bei Godelier eben nicht deckungsgleich mit der Unterscheidung zwischen „natürlich“ und „gesellschaftlich“. Materielles („materielle Wirklichkeit“) ist zwar von Symbolischem („Ideellem“) different, Gesellschaft jedoch umfasst beides. So scheinen Godelier’s Kategorien ziemlich ähnlich jenen, die Boyden als Differenz zwischen „biosphere“ und „abstract culture“ bezeichnet.10 Gesellschaft ist nach Godelier dann etwas, das sowohl die symbolische Welt (wie er es meist ausdrückt: „das Denken“) als auch (Teile der) materiellen Welt umfasst.11 Und damit lassen sich seine Unterscheidungen sehr gut nutzbar machen, um an jenem Grundmodell weiterzuarbeiten, das von Boyden skizziert wurde. Mit

9 hier ist bemerkenswert, dass der menschliche Körper, die materielle Menschennatur, keine Erwähnung findet. Gehört er schon so selbstverständlich zur Gesellschaft, zur Kultur,

ununterscheidbar?

10 wobei Godelier sich heftig dagegen verwehrt, diese symbolische Welt lediglich für eine

„Wiederspiegelung“ von Wirklichkeit zu halten (vgl. S 22). Zu Recht, worauf Rolf Peter Sieferle hinwies, denn auch die Unmöglichkeit einer Isomorphie zwischen kultureller Repräsentation von

„Natur“ und dieser selbst ist eine formale Voraussetzung, dass es überhaupt zu Umweltproblemen kommen kann (Sieferle 2000, e mail Kommunikation).

11 Diese Auffassung wird besonders deutlich dort, wo Godelier sich mit der Entstehung von Klassengesellschaften befasst (vgl. S 24f).

der nun folgenden Darstellung von Sieferle’s Modell unternehme ich einen ersten Versuch, die roten Fäden aus der Humanökologie und dem strukturalistischen Marxismus an den Enden mittels Systemtheorie zusammenzubinden.