• Keine Ergebnisse gefunden

Der träumende Künstler oder der Traum des Künstlers als mise-en-abyme des Kunstwerks

zeitgenössischer Diskurse

3.1 Der träumende Künstler oder der Traum des Künstlers als mise-en-abyme des Kunstwerks

In den Momenten der genialen Begeisterung des Dichters und Künstlers ist es eben diese von Innen heraustretende, von Innen heraus bildende oder inbil-dende Sinnlichkeit, welche ihnen vorleuchtet, nicht die von Außen copirende, und jeder wahrhafte Dichter und Künstler ist in diesem Sinne Sehr oder Visionär, so wie jedes ächte Gedicht und Kunstwerk das Denkmal einer Vision ist, folg-lich einer Inspiration, gleichviel hier von welcher Art.357

Das Motiv des Künstlers besitzt – nicht nur als Selbstporträt – immer eine selbst-reflexive Komponente, weil es Symbol für das produzierende reale Subjekt, den Produktionsprozess und die Kunst im Allgemeinen sein kann und damit die ästhe-tische Umsetzung immer potenziert. Das Motiv des träumenden Künstlers reflek-tiert zudem die Art der Produktion – nämlich unbewusst – und verweist überdies auch auf die Rezeptionsweise. Für den Heinrich von Ofterdingen von Novalis wurde dies bereits konstatiert. Der Traum des Dichters bestimmt den Verlauf der Handlung, die sich traumanalog vollzieht. Sein Traum ist Spiegelung der poetolo-gischen Methode und steht sinnbildlich für die gesamte ineinander verschachtelte und potenziell unendliche Romanstruktur (vgl. Kap.  2.4.2). Ob auch der träu-mende Künstler in der bildlichen Darstellung als mise-en-abyme, als Spiegelung des Werkes und der ästhetischen Methode fungiert, soll anhand der vorliegenden Künstlertraumdarstellungen zusätzlich zu den werkspezifischen Strategien und Aspekten beleuchtet werden. Die Analyse des Traumbildes innerhalb des Trans-parentzyklus von Caspar David Friedrich wird demnach besonderen Wert auf die Inszenierung der Blätter als Gesamtkonzept und die damit verbundenen rezepti-onsästhetischen Bedingungen legen. Die Werke der Gebrüder Riepenhausen und Moritz von Schwinds, die im Gegensatz zu Caspar David Friedrich keine unspe-zifische Künstlerfigur, sondern zwei historische Künstlervorbilder in den Fokus rücken, werden besonders unter dem Aspekt der sakralisierten Autorität betrach-tet, die als Legitimation einer traumbasierten und absoluten Kunst fungiert.

Der Begriff des mise-en-abyme358 wurde aus der Heraldik entlehnt und bezeichnet das Phänomen der Wiederholung desselben Wappens auf dem Schild,

356 Büttner, Cornelius (wie Anm. 348), X.

357 Baader, Schriften zur philosophischen Anthropologie (wie Anm. 252), 138. Vgl. auch Anm. 324.

358 Für einen Überblick über die Begriffsgeschichte und über die in den 1960er Jahren in den Litera-turwissenschaften entwickelte Theorie des mise-en-abyme vgl. Jörn Gruber, Literatur und Heral-dik: Textetymologische Bemerkungen zu André Gide’s »charte de la mise en abyme«, in: Arnold

in dem eine unendliche Wiederholung bereits angelegt ist.359 Es bezeichnet also ursprünglich ein bildhaftes Verfahren, das zunächst von den Literaturwissen-schaften auf Texte übertragen und als poetologisches Prinzip analysiert wurde, bevor es auch für die Kunstgeschichte als ästhetisches Verfahren unter den Begrif-fen »Metamalerei«360 oder »integrierte Spiegelung«361 fruchtbar gemacht wurde.

Der literaturwissenschaftliche mise-en-abyme-Begriff bezeichnet in sei-ner extensiven Variante »die Spiegelung eisei-ner Makrostruktur […] in eisei-ner Mikrostruktur«362 eines Textes, also die Wiederholung der Rahmen- in der Bin-nengeschichte, wobei keine Identität vorausgesetzt wird, sondern lediglich eine Analogisierung des Textes anhand eines Motivs gegeben sein muss.363 An diese Definition schließt sich das Konzept der »integrierten Spiegelung« an, die Felix Thürlemann als Strukturmerkmal von Bildern am Beispiel von Nicolas Poussins Mannalese in die Kunstgeschichte eingeführt hat. Thürlemann unterscheidet zwi-schen »integrierter Spiegelung der Äußerung«, bei der sich Motive und Themen, die das Kunstwerk als Ganzes betreffen, in einem Fragment desselben wiederho-len und der »integrierten Spiegelung eines Äußerungsaktes«, bei der Aspekte der Rezeption und Kommunikation zum Beispiel in Form einer Betrachterfigur auf-gegriffen werden. Die »integrierte Spiegelung der Äußerung« macht er deutlich an dem Beispiel des Motivs der Caritas-Romana-Darstellung, die das Thema des Bildes, die Errettung des Volkes Israel durch den Mannaregen spiegelt.364 Vic-tor Stoichita analysiert Phänomene und Strukturen, bei der die Kunst sich selbst zum Thema hat und die er als metapikturale Verfahren kennzeichnet. Er ver-sucht anhand verschiedener Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts für bestimmte Bildphänomene wie Ränder oder Wandöffnungen, für Gattungen wie Stillleben oder Assemblagen und für spezielle Themen wie »Bilder vom Maler/Bilder vom Malen«365 ein syntaktisch-semantisches System aufzudecken und zu ergründen,

Arens (Hg.), Text-Etymologie. Untersuchungen zu Textkörper und Textinhalt. Festschrift für Heinrich Lausberg zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1987, 220–230.

359 Vgl. Gruber, Heraldik (wie Anm. 358), 221. Vgl. auch Rainer Zaiser, Inszenierte Poetik, Berlin 2009, 51.

360 Stoichita, Das selbstbewusste Bild (wie Anm. 67).

361 Thürlemann, Mannalese (wie Anm. 68), 153.

362 Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen 1993, 296.

363 Vgl. hier die Zusammenfassung bei Martina Mai, Bilderspiegel Spiegelbilder. Wechselbeziehun-gen zwischen Literatur und bildender Kunst in Malerromanen des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2000, 52–62.

364 Vgl. Thürlemann, Mannalese (wie Anm.  68), 150–164, Zitate  153. Thürlemann überträgt hier die Sprechakttheorie als Analysewerkzeug auf die Kunst. Die semiotische Kunstwissenschaft ist aufgrund der Unmöglichkeit der Erstellung einer Grammatik für die Kunst oft kritisiert worden.

Vgl. Gabriele Rippl, Text-Bild-Beziehungen zwischen Semiotik und Medientheorie: Ein Veror-tungsvorschlag, in: Renate Brosch (Hg.), Ikono/Philo/Logie: Wechselspiele von Texten und Bil-dern, Berlin 2004, 43–60, hier 46. Für eine Einführung in die semiotische Kunstwissenschaft vgl. Felix Thürlemann, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990, 7–17.

365 Vgl. Stoichita, Das selbstbewusste Bild (wie Anm. 67), 224.

»wie sich Malerei mit ihren eigenen Mitteln über sich selbst äußert, auf welche Weise sich das Gemälde selbst thematisiert.«366

Die ursprüngliche literaturwissenschaftliche mise-en-abyme-Definition von André Gide 1893 bezieht sich nur auf die Spiegelung der Produktion des Künst-lers im Roman. Die Ambiguität des Begriffs sujet hätte in der Forschung zu einer falschen Interpretation im Sinne von Thema geführt, die dazu führe, dass der mise-en-abyme-Begriff auf jegliche Form der Werkreflexion als Verdopplung, Spiegelung und Verschachtelung hinsichtlich Inhalt, Form, Prozess und allgemei-ner Funktion des Werkes ausgedehnt werde:367

J’aime assez qu’en une œuvre d’art on retrouve ainsi transposé à l’échelle des personnages, le sujet même de cette œuvre. Rien ne l’éclaire mieux et n’établit plus sûrement toutes les proportions de l’ensemble. Ainsi, dans tels tableaux de Memling ou de Quentin Metzys, un petit miroir convexe et sombre reflète, à son tour, l’intérieur de la pièce où se joue la scène peinte. Ainsi dans le tableau des Ménines de Velasquez (mais un peu différemment). Aucun de ces exemples n’est absolument juste. Ce qui le serait beaucoup plus, ce qui dirait mieux ce que j’ai voulu dans mes Cahiers, dans mon Narcisse et dans La Tentative, c’est la comparaison avec ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second ›en abyme‹. Cette rétroaction du sujet sur lui même m’a toujours tenté.368

Nach der konventionellen Definition liegt nur dann ein mise-en-abyme vor, wenn das Kunstwerk und bzw. oder die Produktion gespiegelt werden. Neben dem rea-len Künstler respektive Autor wird hier ein bild- oder textimmanenter Künstler bzw. Erzähler vorausgesetzt.369

Stoichita schließt sich diesem restriktiveren mise-en-abyme-Begriff für spezielle Formen der Metamalerei an, die er »poeitisches Szenario« oder

»Produktionsszenario« nennt. Diese können als Parallelphänomene zum Selbstporträt, das als übliche künstlerische Selbstinszenierung gilt, aufgefasst werden. Stoichita untersucht die Phänomene in unterschiedlichen Repräsenta-tionen. Er unterscheidet zwischen dem »implizite[n]« und dem »mythisierte[n]

Produktionsszenario«.370 Beide sind Darstellungen der Produktion, das »impli-zite« bezeichnet die Inszenierung des Malaktes des Künstlers selbst, das »mythi-sierte« bezeichnet die Darstellung eines Malaktes mit legendärem Stellvertreter,

366 Christiane Kruse, Rezension zu: Victor I. Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Der Ursprung der Metamalerei, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 62 (1999), 586.

367 Hier wird vor allem Lucien Dällenbach kritisiert, dessen erweiterter mise-en-abyme-Begriff sich in der Forschung durchgesetzt habe. Vgl. Gruber, Heraldik (wie Anm. 358), 220–230. Vgl. auch Mai, Bilderspiegel (wie Anm. 363), 53.

368 André Gide, Journal 1889–1939 (Bibliothèque de la Pléiade, 54), Paris 1951, 41.

369 Vgl. Zaiser, Poetik (wie Anm. 359), 51. Vgl. auch Mai, Bilderspiegel (wie Anm. 363), 54.

370 Vgl. Stoichita, Das selbstbewusste Bild (wie Anm. 67), hier insb. das Kap. »Bilder vom Maler/

Bilder vom Malen«, 224–298, Zitate 257, 258.

wie zum Beispiel dem Heiligen Lukas, der die absente Figur des eigentlichen Künstlers impliziert.371 Das Traumbild des Transparentzyklus kann in die erste Kategorie eingeordnet werden, wenngleich es sich nicht um eine Selbstdarstel-lung der Malerei handelt, weil der Malakt ersetzt ist durch den musikalischen Kompositionsakt. Damit findet eine disziplinäre Verschiebung statt, deren Funktion im Rahmen der Untersuchung herausgestellt werden soll. Die beiden auf den Transparentzyklus folgenden Künstlertraumdarstellungen lassen sich dem »mythisierte[n] Produktionsszenario« zuordnen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um ein Produktionsszenario im oben genannten Sinne, denn die Künstler werden nicht im bewussten Schaffensprozess dargestellt, sondern im unbewussten.

Der Begriff mise-en-abyme wird im Folgenden in der restriktiven, also in der ›originalen‹ Variante, als Spiegelung der Produktion, des Künstlers oder des Kunstwerks, verwendet, zumal es sich ursprünglich um ein bildhaftes Phänomen handelt. Unter der Voraussetzung eines intramedial vorhandenen Künstlers, die ja in allen drei Fällen gegeben ist, ist das mise-en-abyme implizit.

3.1.1 Der Traum des Musikers von Caspar David Friedrich als ›symphonischer‹

Höhepunkt des Transparentzyklus

Der Transparentzyklus ist ein vielschichtiges Gebilde, innerhalb dessen der Künstlertraum im letzten Transparent die Rolle eines mise-en-abyme einnimmt, das den Gesamtzyklus formal und inhaltlich spiegelt. Das Zusammenspiel der einzelnen Transparente sowie die Inszenierung der Bilderfolge, die für eine Auf-führung vor Publikum gedacht war, werden innerhalb der frühromantischen Konzepte zu betrachten sein. Dabei werden die disziplinären Verknüpfungen, die formalen und materialen Besonderheiten, die Referenzen zwischen den Blättern sowie das performative Konzept mit den daran anknüpfenden rezeptionsästheti-schen Prämissen berücksichtigt. Durch die einschneidenden Veränderungen in der Rezeption durch die Aufführungssituation, die die bisherigen Sehgewohnhei-ten der zeitgenössischen Betrachter in Bezug auf die Betrachtung von Kunstwer-ken revolutionierte, erscheint es deshalb sinnvoll, ein medientheoretisches und rezeptionsästhetisches Konzept heranzuziehen, das sich mit dem Verhältnis von Betrachter und Aufführung auseinandersetzt. Die Dispositiv-Konzeption soll der Werkbetrachtung vorangestellt werden. Die Analyse wird sich darüber hinaus

371 Vgl. Ders., Das selbstbewusste Bild (wie Anm. 67), 258, 275. Dieses Konzept geht auf Wayne C. Booth zurück, der den Begriff des »impliziten Autors« prägte. Der implizite Autor ist die Konstruktion der Rezeption bei der Lektüre und das Selbstbild des Autors selbst. Vgl. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago/New York 1961, 71. Zur Begriffsentwicklung und für einen Forschungsüberblick vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller, Der implizite Autor. Zur Kar-riere und Kritik eines Begriffs zwischen Narratologie und Interpretationstheorie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 48 (2006), 163–190.

mit der Frage nach der Interdisziplinarität als Prinzip und der Etablierung einer neuen Kunstgattung des performativen Zyklus auseinandersetzen. Interdiszipli-narität kann als frühromantisches Prinzip gelten, das mit der Vereinigung und Verschmelzung der Gattungen versucht, im Sinne der Identitätsphilosophie Schellings (vgl. Kap. 2.1), die Kunstgattungen auf eine Basis zurückzuführen. Das performative und interdisziplinäre Gesamtkonzept in seinem formalen, aber auch inhaltlichen Aufbau legt den Schluss nahe, dass sich Caspar David Friedrich an der in der Romantik als höchste Kunstform geltenden Symphonie als Gattung ori-entierte und diese Kunstform auf die bildende Kunst übertrug.

3.1.1.1 Das Dispositiv der Aufführung als rezeptionsästhetisches Konzept

Das Konzept des »Dispositivs«372 wurde von Jean Louis Baudry in den 1970er Jah-ren als kinematographische Theorie entwickelt und stellt ein rezeptionsästheti-sches Modell bereit, das sich mit dem Verhältnis des Betrachters zum Kunstwerk in der speziellen Form einer Aufführungssituation373 und dem dadurch erzeugten Spannungsfeld auseinandersetzt. Für den Transparentzyklus soll diese Theorie fruchtbar gemacht werden, sind es doch hauptsächlich die performativen Para-meter, die diese Traumdarstellung von den anderen unterscheidet. Dabei versteht sich das Dispositiv als »räumliche An-Ordnung«,

in der ein Betrachter zu einer bestimmten Ordnung der Dinge so in Bezie-hung gesetzt wird, dass seine Wahrnehmung dieser Situation dadurch bestimmt wird. […] Wenn sie [die Bilder, Anm. der Verf.] etwas bedeuten, dann nicht nur, indem sie es (symbolisch) darstellen, sondern auch, indem sie es dispositiv vorstellen. Bilder konstruieren also eine spezifische und von Fall zu Fall unterschiedliche An-Ordnung des Betrachters.374

372 Hier soll keine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Ansätze eines in heterogenen Kontexten gebrauchten Begriffes erfolgen, sondern es soll eine konkrete Grundlage für die Ana-lyse der Inszenierung des Betrachterraumes geschaffen werden. Eine umfassende Darstellung des uneinheitlichen Dispositivbegriffs von einer psychoanalytischen und ideologiekritischen Her-angehensweise über Verknüpfungen mit dem Diskurs-Begriff bis zur fernsehwissenschaftlichen Heuristik liefert Jörg Brauns, »Schauplätze«. Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Dispositive visueller Medien, Weimar 2003, 25–60. Ganz hat den Dispositiv-Ansatz für die Ana-lyse mittelalterlicher Visionsdarstellungen fruchtbar gemacht, weil topologische Konstellationen und nicht mimetische und auf Geschlossenheit abzielende Kriterien für die Darstellungen kon-stitutiv sind. Vgl. Ganz, Medien der Offenbarung (wie Anm. 9), 20–22.

373 Als Begriff erscheint »Aufführung« hier sinnvoller als »Performance«, weil er neutraler und nicht in unterschiedlicher Weise kontextualisiert ist. »Performance« wird vornehmlich im Zusammen-hang mit »Performance Art« verwendet und steht daher für ein Konzept, das primäres Merkmal der Kunstform ist und sich darüber hinaus vor allem mit der Präsenz von Akteuren auseinander-setzt. Zu den unterschiedlichen Konzepten vgl. Eckhard Schumacher, Performativität und Per-formance, in: Uwe Wirth, Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, 383–402.

374 Joachim Paech, Nähe durch Distanz: Anmerkungen zur dispositiven Struktur technischer Bilder, in: HDTV – ein neues Medium? Interdisziplinäre Tagung an der Universität Konstanz 1990 (ZDF Schriftenreihe, 41), Mainz 1991, 43–53, hier 43.

Die Bedeutung des Kunstwerks ergibt sich also nicht nur durch das Dargestellte, sondern insbesondere auch durch die Beziehung zwischen Betrachter und Kunst-werk, die jedoch durch das Kunstwerk bestimmt bleibt. Jean-François Lyotard ver-sucht diese Beziehung näher zu charakterisieren und definiert drei Grenzen des Dispositivs: Eine erste liege zwischen dem Darstellungsort und der Realität, eine zweite zwischen dem Betrachter und dem Objekt und eine dritte zwischen diesem Objekt und der dahinterliegenden Konstruktion. Diese Konstruktion kann zum Beispiel auch die illusionserzeugende Perspektive innerhalb eines Gemäldes sein.

Lyotard zeigt damit, dass letztlich jede Kunstform in seinem Konzept aufgeht.375 Er definiert daher die jeder Kunstform gemeinsamen dispositiven Parameter:

die Fixierung und Konzentration des Betrachters auf das Objekt, die Differenz zwischen dem realen Raum außerhalb des Bildes und dem dargestellten imagi-nierten Bildraum des Gegenstands.376 Dieser sehr generelle Blick auf ein rezep-tionsästhetisches Dispositiv ist eigentlich die Erweiterung des auf performative Konstellationen beschränkten Begriffs des kinematographischen Dispositivs von Baudry.377 Das originäre Modell macht er im perspektivischen Raum der illusio-nistischen Malerei der Frühen Neuzeit fest.378 Das kinematographische Dispositiv ist darüber hinaus von speziellen Faktoren wie zum Beispiel der Unsichtbarkeit des Trägers, der Unbeweglichkeit des Zuschauers und der Verdunklung des Raumes bestimmt.379 Es dient zur Illusionserzeugung,380 indem es die Aufhebung der

Dis-375 Vgl. Brauns, Schauplätze (wie Anm. 372), 40. Lyotard definiert die drei Grenzen des Dispositivs anhand von Beispielen wie folgt: »Dieses Einfassungsdispositiv ist tatsächlich ein Dispositiv, das im Falle der Repräsentation libidinöse Energie einfangen und abfließen lassen will: da ist eine erste Einfassung, die ein Außen und ein Innen festlegt: eben das Theater- oder Museumsge-bäude, das Gebäude jener unbewohnten, verlassenen Orte, die eine Distanz schaffen zwischen der ›Realität‹ und dem, was man den Psychoanalytikern zufolge die ›De-Realität‹ nennen könnte, einen Ort, der ein ›derealer‹ Ort wäre (das Zimmer des Analytikers ist ein ›derealer‹ Ort). Dann ist dann ein weiterer Ort, eine zweite Grenze innerhalb der ersten, innerhalb des Theaters also:

eine Rampe mit einem Rahmen, dem Rahmen des Gemäldes, dem Rahmen der Bühne, etwas wie eine Glasscheibe, die bekannte Glasscheibe des Leonardo, das Türchen von Dürer, und vielleicht noch eine dritte, unsichtbare Grenze, die die Versenkung, die Kulisse, die Bühnenmaschinerie im Falle der italienischen Guckkastenbühne ist, die im Falle der Malerei die Konstruktion mit dem Distanzpunkt sein wird, all das, was nicht gesehen wird, was aber sichtbar macht. Man sollte auch die gesamte Szenographie hinter diese Grenze setzen. Alles was auslöscht und sich auslöscht, verschleiert und verschleiert sich zugleich.« Jean-François Lyotard, Die Malerei als Libido-Dispositiv, in: Ders. (Hg.), Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, 45–93, hier 79.

376 Vgl. Ders., Libido-Dispositiv (wie Anm. 375), 45–93. Vgl. auch die Zusammenfassung in: Brauns, Schauplätze (wie Anm. 372), 37.

377 Baudry vergleicht das Dispositiv des Betrachters mit dem Höhlengleichnis Platons, bei dem die Betrachter auch Bilder von Bildern sehen und der bilderzeugende Apparat unsichtbar bleibt. Vgl.

Jean-Louis Baudry, Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Lorenz Engell [u.a.] (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999, 381–404, hier 385–393.

378 Vgl. Jean-Louis Baudry, Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat, in: Eikon – Internatio-nale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst 5 (1993), 34–43, hier 37.

379 Vgl. Ders., Dispositiv (wie Anm. 377), 397, 399.

380 Nicht die mehr oder weniger genaue Nachahmung des Realen erzeuge Illusion, sondern das Dispositiv. Vgl. Ders., Dispositiv (wie Anm. 377), 389.

tanz und die Schaffung einer »imaginären Nähe« forciert und so die Beziehung des Betrachters zur Wirklichkeit definiert.381 Das kinematographische Dispositiv hat für Baudry die Eigentümlichkeit, »dem Subjekt Wahrnehmungen ›einer Rea-lität‹ darzubieten, deren Status dem jener Vorstellungen nahekommt, die sich als Wahrnehmungen darbieten.«382

Erst mit dem Aufkommen der technischen Apparate im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden Entwicklung illusionistischer Schaubilder unter Einbe-ziehung räumlicher und zeitlicher Dimensionen ist diese spezielle, performative Situation mit den entsprechenden rezeptionsästhetischen Faktoren gegeben, für die man den kinematographischen Dispositivbegriff fruchtbar machen kann. Die Aufführungssituation des Transparentzyklus lässt sich in diesem Spannungsfeld verorten.

Das Anfang der 1820er Jahre von Jaques Louis Mandé Daguerre entwickelte Diorama war Ausgangspunkt der Entstehung illusionistischer und performati-ver Inszenierungen, die zunächst vorwiegend mit Licht und Beleuchtung experi-mentierten, und wurde neben weiteren ähnlichen Gattungen wie Panorama und Pleorama zu einer beliebten Kunstform des 19. Jahrhunderts (vgl. zum Beispiel Abb. 40).383 Das Diorama besitzt einen beidseitig bemalten, durchsichtigen Bild-träger und bildet mithilfe des Wechsels der Beleuchtung von Auf- zu Durchlicht die unterschiedlichen Tageszeiten nach, wodurch eine zeitliche Abfolge suggeriert wird.384 Das 360°-Panorama wurde hingegen von oben beleuchtet, um den Effekt des indirekten Lichteinfalls zu erzielen, der die Illumination der Abbildung ver-anlasste. Der Betrachter musste eine gewisse Distanz zum Medium einhalten, um die Materialität des Bildträgers nicht zu erfassen und so die Illusion der Auffüh-rung aufrechtzuerhalten.385 Inhaltlich wurden diese InszenieAuffüh-rungen oftmals als Bilderreisen gestaltet, die den Zuschauer in fremdländische Gebiete entführen sollten.386 Im Laufe des 19.  Jahrhunderts kam zu den tonlosen Panoramen die akustische Dimension hinzu. Bei allen Vorhaben war das Ziel die Schaffung der perfekten Illusion:

Alles was deutlich machen konnte, dass eine Abbildung vorliegt, ein Rahmen, eine künstliche Lichtquelle, die Materialität des Trägers, sollte verborgen, latent bleiben. […] Der Besucher taucht in eine künstliche Welt ein, die er

381 Vgl. Paech, Nähe durch Distanz (wie Anm. 374), 46, Zitat 47.

382 Baudry, Dispositiv (wie Anm. 377), 400.

383 Vgl. Stefan Simon, ›Fern-Sehen‹ und ›Fern-Hören‹. Zur Wahrnehmung von musikbegleitenden Bilderreisen im 19. Jahrhundert, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen/Basel 2001, 255–269, hier 258–260. Vgl. die Darstellung zur Entstehung des Panoramas bei Brauns, Schauplätze (wie Anm. 372), 7–13.

384 Vgl. Marie Luise von Plessen (Hg.), Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts (Ausstellungskatalog: Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle, 28.05.–10.10.1993), Basel 1993, 194f.

385 Vgl. Brauns, Schauplätze (wie Anm. 372), 8.

386 Man konnte z.B. 1820 in Wien zu einer »Großen optischen Zimmerreise nach Brasilien« aufbre-chen. Vgl. Plessen, Sehsucht (wie Anm. 384), 217.

von unten betritt, er taucht also sogar in ihr auf. Diese wird, so weit sein Auge reicht, nicht durch eine Tür oder ein Fenster in die reale Welt unterbrochen.

Die Täuschung wird vollendet, wenn, wie Barker [Erfinder des Panoramas, Anm. der Verf.] fordert, Ventilatoren angebracht werden, die die realen

Die Täuschung wird vollendet, wenn, wie Barker [Erfinder des Panoramas, Anm. der Verf.] fordert, Ventilatoren angebracht werden, die die realen