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Kontextualisierung: Traumdiskurs

2. Naturphilosophie, Traumtheorie und Ästhetik zu Beginn des 19. Jahrhunderts

2.4 Kontextualisierung: Traumdiskurs

Die Kontextualisierung des Traumdiskurses wird sich darauf beschränken, eine kritische Zusammenfassung der Forschung zu liefern. Vorangestellt wird ein kur-zer historischer Überblick über das Traumverständnis in der Zeit vor der Roman-tik. Anschließend wird das Bild des romantischen Traumdiskurses, das bislang durch die bereits besprochenen Autoren eher den philosophisch-psychologischen Anteil abdeckt, unter Berücksichtigung weiterer Aspekte vervollständigt, die zu seiner Konstituierung beigetragen haben. Eine Analyse literarischer Reflexionen des Traumdiskurses wird an ausgewählten Beispielen vorgenommen – vornehm-lich auch mit Blick auf die poetologische Methode. Als weitere Referenz für die späteren Bildanalysen wird zudem die bis ins 19. Jahrhundert gängige Traumiko-nographie allgemein und dann anhand eines populären Beispiels exemplarisch dargestellt und eingeordnet. Aus diesem Gesamtdiskurs lässt sich darüber hin-aus die Herhin-ausbildung einer neuen Bildauffassung, einer »Ästhetik der inneren

195 Anja Häse, Carl Gustav Carus: Zur Konstruktion bürgerlicher Lebenskunst, Dresden 2001, 86.

196 Carus, Landschaftsmalerei (wie Anm. 64), Zitate 25.

197 Ders., Landschaftsmalerei (wie Anm. 64), 39f.

198 Carl Gustav Carus, Einige Worte über das Verhältniß der Kunst krank zu sein zur Kunst gesund zu sein, Leipzig 1843, 36f., Permalink: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10471233-0 (Zugriff vom 20.08.2014).

Bilder«, erkennen, die abschließend und als Übergang zu den Werkbetrachtungen dargelegt wird.

2.4.1 Vor 1800

Bereits im 4000 Jahre alten babylonischen Epos Gilgamesch werden zahlreiche Träume ausführlich geschildert und gedeutet.199 Homers Ilias enthält etliche Träume mit göttlicher Sendung, zum Beispiel den Traum Agamemnons, in wel-chem er von Zeus beauftragt wird, den Feldzug gegen Troja zu führen.200 Eine der fundiertesten Schriften zum antiken Traumdiskurs ist das Traumbuch Arte-midors, in welchem die Träume entweder als physisch bedingt oder als Zeichen göttlicher Eingebung charakterisiert werden.201 Psychologische Ansätze existieren jedoch auch schon. Sie finden sich zum Beispiel in Texten von Aristoteles, Petro-nius und Cicero.202 Aristoteles stellt den Traum als göttlichen Auftrag deshalb in Frage, weil er ihn für eine notwendige Erscheinung des menschlichen Geistes durch verminderte Wahrnehmung hält.203 Eine erste Kategorisierung von Träu-men nimmt Tertullian anhand der Bibel vor und unterteilt sie in drei funktionale Kategorien: bedeutungslose Träume aufgrund somatischer Ursachen, dämonische oder visionäre Träume als Zeichen göttlicher Offenbarung. Augustinus, Gregor der Große und Isidor von Sevilla übernehmen diese Kategorisierung.204 Das letzte bedeutende Werk der Spätantike zum Traum ist Macrobius’ Kommentar zu Cice-ros Traum des Scipio in De Re Publica. Die Kategorien werden hier auf fünf erwei-tert und anhand ihrer Bedeutung priorisiert.205

In den Confessiones von Augustinus nehmen Traumerzählungen der Bibel einen hohen Stellenwert ein und werden als Medium der Offenbarung und

199 Vgl. Stefan M. Maul (Red.), Das Gilgamesch-Epos, München 2005, Kap. »Die vierte Tafel«, 74–81.

Vgl. die Aufzählung bei Dietrich von Engelhardt, Traum im Wandel – Geschichte und Kultur, in: Michael H. Wiegand/Flora von Spreti/Hans Förstl (Hg.), Schlaf & Traum. Neurobiologie, Psychologie, Therapie, Stuttgart 2006, 5–15, hier 6.

200 Vgl. Homer, Ilias, Buch 2, übertragen von Raoul Schrott, kommentiert von Peter Mauritsch, München 2008, 35–62. Vgl. Werner Kemper, Der Traum und seine Be-Deutung, München 1977, 27.

201 Vgl. Artemidor von Daldis, Das Traumbuch (Oneirocritica), übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort von Karl Brackertz, Zürich/München 1980, 9f. Vgl. Hammerschmidt-Hummel, Traumtheorien (wie Anm. 9), 20.

202 Vgl. Medard Boss, Der Traum und seine Auslegung, Bern/Stuttgart 1953, 13.

203 Vgl. Aristoteles, Parva naturalia, Bd. 14, Teil 3: De Insomnis de divinatione per somnum, über-setzt und erläutert von Philip J. van der Eijk, in: Aristoteles, Aristoteles Werke in deutscher Über-setzung, begr. von Ernst Grumach, hg. von Hellmut Flashar, Berlin 1994, 15–31.

204 Vgl. Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 47–49.

205 Vgl. Macrobius, Commentary on the Dream of Scipio, transl. with an introd. and notes by Wil-liam Harris Stahl, New York 1952, 87f. Macrobius teilt die Träume ein in zwei Arten der natürli-chen, körperlich beherrschten Träume, die Nacht- und Tagträume, und drei Arten der visionären Träume, deren Inhalte sich in Handlungsanordnungen, klar verständliche oder symbolische Pro-phezeiungen aufgliedern. Vgl. Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 53f.

göttlichen Einwirkung auf die innere Bildproduktion diskutiert.206 Der mittelal-terliche Traumdiskurs steht im Wesentlichen in der Tradition der antiken Über-lieferungen.207 So übernimmt Gregor der Große die konventionellen Schemata, sieht aber durchaus Vermischungen der Kategorien, so dass er insgesamt sechs Arten von Traumbildern definiert.208 Trotz Versuchen zur Begründung einer selbstreferenziellen Traumtheorie, zum Beispiel von Albertus Magnus, der die

»virtus imaginativa«209 als die traumbildende Kraft ansieht, sind weiterhin The-orien vorherrschend, die den Traum als göttliche Offenbarung oder dämonische Einflussnahme ansehen.210 Die Popularität von Traumvisionen, die sich an dem im Mittelalter stark rezipierten De consolatione philosophiae von Boethius orien-tieren, ist zurückzuführen auf einen naturphilosophischen Diskurs über die Mög-lichkeiten ihrer körperlichen Beeinflussung.211

Die von vielerlei somatischen Faktoren konditionierte Aktivität der imagina-tio nimmt im Traum-Diskurs des Hochmittelalters einen offenen […] Platz ein, der vom Körper produzierten ebenso wie von Gott gesandten Bildern zugänglich ist.212

Die Auffassungen der Frühen Neuzeit zum Traum sind insgesamt vielfältig: Er wird sowohl als physisches oder metaphysisches Medium gedeutet, entweder als Produkt der Einbildungskraft, als Bild- oder Ereignisreproduktion, als Seelentä-tigkeit im Schlaf oder als göttliche Kommunikation. Als selbstreflexives Moment im psychologischen Sinne wird der Traum jedoch nicht erklärt, auch wenn er

206 Vgl. Aurelius Augustinus, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus [Confessiones], 3. Buch, 11. Kap., übersetzt von Otto F. Lachmann, Leipzig 1888. Vgl. hier auch Ganz, Medien der Offen-barung (wie Anm. 9), 146.

207 Vgl. Annette Gerok-Reiter, Einleitung. Zwischen den Welten, in: Dies./Christine Walde (Hg.), Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen, Diskussionen, Perspektiven, Berlin 2012, 7–18, hier 12. Der Sammelband liefert darüber hinaus vier unterschiedliche Beiträge, die die Dis-kurszusammenhänge in der Vormoderne darstellen, hier 21–131.

208 »Manchmal entstehen nämlich die Träume durch einen vollen oder leeren Magen, manchmal durch eine täuschende Vorspiegelung, manchmal zugleich durch Denktätigkeit und durch täu-schende Vorspiegelung, manchmal durch Offenbarung, manchmal zugleich durch Denktätigkeit und durch Offenbarung.« Vgl. Gregor der Große, Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gre-gor des Grossen vier Bücher Dialoge übers. von Joseph Funk, Kempten 1933, Kap. 48f., 257f.

209 Albertus Magnus, Mineralium libri quinque. De anima libri tres. Philosophia pauperum, seu Isagoge in libros Aristotelis Physicorum, de coelo et mundo, de generatione et corruptione, Meteororum et de anima. Liber de apprehensione a quibusdam D. Alberto adscriptus, Bd. 5, in: Ders., Alberti Magni Opera omnia ex editione Lugdunensi religiose castigata, et pro auctoritatibus ad fidem Vulgatae versionis accuratiorumque patrologiae textuum revocata, auctaque B. Alberti vita ac bibliographia operum a PP. Quétif et Echard exaratis, etiam revisa et locupletata, hg. von Auguste Borgnet, Paris 1890, 579.

210 Vgl. Hammerschmidt-Hummel, Traumtheorien (wie Anm. 9), 24.

211 Vgl. Ganz, Medien der Offenbarung (wie Anm. 9), 106.

212 Ders., Medien der Offenbarung (wie Anm. 9), 106. Ganz nennt hier unter Berufung auf Steffen Bogen Pascalis Romanus, Guillaume de Conches, John of Salisbury oder Raoul de Longchamp, die eine »Somatisierung« des Traums vorantreiben unter Berücksichtigung medizinischer Lite-ratur arabischer Provenienz.

als individuell angesehen wird.213 Im Hinblick auf die Konfessionalisierung wird die Auffassung vom Traum als Medium göttlicher Offenbarung zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit einer Legitimierung der Kirche verbunden.214 Die Quellen des Traumwissens in der Frühen Neuzeit sind zumeist antike: Walter Hermann Ryff publiziert 1540 die Übersetzung der Traumlehre Artemidors mit einer gro-ßen Wirkung, die sich bis 1735 in den unzähligen Neuauflagen zeigt. Das Vor-wort des Werks ist von Philipp Melanchthon, der eine Einführung anhand des dreigliedrigen Schemas von Tertullian (natürliche, göttliche, dämonische Träume) gibt.215 Natürliche Träume werden mit dem Modell der Körpersäfte erklärt.216 Im Rationalismus wandelt sich die Einstellung zum Unbewussten und zum Traum in eine ambivalente: Die Anthropologie der Aufklärung hat zwar auch Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis seelischer Vorgänge, jedoch verkörpert der Traum als Medium der Vernunftsabwesenheit ein »Schreckbild, in dem sich die Angst vor der Unterbrechung einer kontinuierlichen, selbstgesteuerten Geistestätigkeit manifestiert.«217 Bestimmt ist die medizinisch-naturwissenschaftliche Traumthe-orie der Aufklärung daher vorwiegend von Erklärungen hinsichtlich physischer Auslöser für die Traumbilder.218 Falsche Ernährung wird als ein Auslöser von Alpträumen betrachtet sowie eine erhöhte Blutansammlung im Kopf.219 René Descartes als Hauptvertreter des Rationalismus vergleicht Träume mit Einbildun-gen Geisteskranker.220 Parallel zu diesen von körperlichen Ursachen ausgehenden Modellen gab es in religiösen Schriften, aber auch in Literatur und Kunst, weiter-hin die Vorstellung vom göttlichen, prophetischen Traum.221

213 Vgl. Claire Gantet, Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissen-schaftsgeschichte (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, 143), Berlin/New York 2010, 49, 54.

214 Vgl. Gantet, Traum (wie Anm. 213), 53. Vgl. auch insb. die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Calvin bzw. Johann Eck und Luther, hier 38–48.

215 Vgl. Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 56–58.

216 Man ging davon aus, dass die natürlichen Träume abhängig waren von der nächtlichen Verdau-ung und ihrem Einfluss auf das Mischverhältnis der vier Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim). Vgl. Gantet, Traum (wie Anm. 213), 13.

217 Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 132.

218 Robert Burton und Thomas Hobbes gehörten zu ihren Vertretern. Vgl. Hammerschmidt-Hum-mel, Traumtheorien (wie Anm. 9), 26.

219 Vgl. Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 168.

220 Die »Kranken […], deren Gehirne ein solch durchdringender Dampf aus schwarzer Galle zer-mürbt, daß sie hartnäckig versichern, sie seien Könige, während sie doch ganz arme Schlucker sind, oder in Purpur gewandet, während sie doch nackt sind, oder sie hätten einen Kopf aus Ton, oder sie seien allesamt Kürbisse, oder sie bestünden aus Glas. Aber das sind Geisteskranke!

[…] Na großartig! Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der gewöhnlich nachts schläft und dem in Träumen dasselbe widerfährt wie jenen wachenden Geisteskranken, und zuweilen sogar noch weniger Wahrscheinliches.« René Descartes, Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (Meditationes de prima philosophia), übers. und hg. von Christian Wohlers, Hamburg 2009, 20. Vgl. auch den Derrida-Kommentar zu Descartes unter Einbeziehung von Michel Foucault in: Jaques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Paris 1967, 73–101.

221 Vgl. Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 147.

In kritischer Auseinandersetzung mit Descartes setzt Spinoza, auf den sich Schelling später bezieht (vgl. Kap.  2.1), dem rationalistischen, Natur und Geist trennenden Weltbild ein ganzheitliches entgegen, indem er eine Einheit von Natur und Seele, Geist und Körper annimmt.222 Hiervon ausgehend entwickelt Leibniz, der gemeinhin als »Vater der Entdeckung des Unbewussten«223 angesehen wird, die Theorie der individuellen, jeweils aber das Ganze beinhaltenden Einzelsub-stanzen (Monaden) und kann so dem rationalistischen Modell zwei gleichbe-rechtigte und zusammenwirkende Systeme von Körper und Seele entgegensetzen.

Leibniz geht von einer unbewussten Wahrnehmung im Traum durch die Seele als Teil des Körpers aus.224 Nichtsdestotrotz ändert sich die Einstellung zum defizitären Erkenntnisvermögen des Traums nicht. Die meisten Anthropologen des 18. Jahrhunderts halten zudem auch am Ansatz Descartes’ fest.225 Der Arzt Johann August Unzer untersucht 1764 in seinem Werk Gedancken vom Schlafe und denen Träumen die Wahrnehmung im Traum. Weil Körperbewegung und Reizaufnahme während des Schlafs möglich sind, sieht er den Traum nun nicht mehr als komplett unabhängig von der seelischen bzw. geistigen Tätigkeit, son-dern als gesenkte Stufe. Die ungeordnete Dramaturgie des Traumes wird mit dem Fehlen des Urteilsvermögens erklärt. Unzer wirft zudem den Gedanken auf, dass auch äußere Eindrücke Einfluss haben könnten.226 Diese von ihm bloß vermutete Interaktion von Unbewusstem und Umwelt wird in der vor allem in Deutschland verbreiteten Erfahrungsseelenkunde empirisch untersucht.227 Ein grundlegendes Werk dieses psychologischen Empirismus bildet Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde von 1783–1793 mit Artikeln zu psychischen und physischen Vorgängen während des Schlafes und Träumens.228 Aber gerade auch im Empiris-mus ist die Auffassung vorhanden, dass Träume »sowohl logische und moralische als auch ontologische Defizite«229 aufweisen, wobei der »Vernunftzustand durch

222 Vgl. Stefan Schweizer, Anthropologie der Romantik. Körper, Seele und Geist. Anthropologische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik, Paderborn 2008, 72–78.

223 Lütkehaus, Afrika (wie Anm. 44), 19.

224 Gottfried Wilhelm Leibniz, Von den Worten. Von der Erkenntnis, Bd. 2, in: Ders., Neue Abhand-lungen über den menschlichen Verstand (Philosophische Schriften, 3), hg. und übers. von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Darmstadt 1961, 115, 117. Vgl. auch Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 135, 140. Vgl. auch Gantet, Traum (wie Anm. 213), 416.

225 Vgl. Müller-Tamm, Kunst (wie Anm. 65), 58.

226 Vgl. Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 160–164.

227 Die Erfahrungsseelenlehre bezeichnet eine medizinisch-psychologisch-philosophische Rich-tung, die sich durch Beobachtung psychologischer und physiologischer Phänomene eine Auf-klärung über Prozesse des menschlichen Körpers erhoffte. Vgl. Ders., Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), Kap. »Positionen der Erfahrungsseelenkunde«, 173–189.

228 Vgl. Karl Philipp Moritz/Salomon Maimon (Hg.), Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Berlin 1783–1793, Permalink: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/toc/2097611/0/LOG_0000/ (Zugriff vom 20.08.2014). Vgl. auch Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 175f.

229 Walter Hinderer, Friedrich Schiller und die empirische Seelenlehre. Bemerkungen über die Funktion des Traumes und das ›System der dunklen Ideen‹, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-gesellschaft 47 (2003), 187–213, hier 191.

Selbstkontrolle wiederhergestellt«230 werden kann. Der Traum als Parallelphäno-men zu Wahnsinn, Rausch und Schwärmerei gilt den Anthropologen nicht als jenseitig der Vernunft, sondern als »physiologisch und psychologisch erklärba-res Versagen«.231 Eine Ausnahme in den Bewertungen des Traums bildet Herder, der entgegen den rationalistischen und empiristischen Tendenzen eine metaphy-sische Komponente jenseits der menschlichen Vernunft in sein Traumkonzept einfügt. Sein Text Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele von 1778 beschreibt darüber hinaus die Individualität von Träumen und ihre Bedeutsam-keit für die Entwicklung der menschlichen PersönlichBedeutsam-keit.232

2.4.2 Romantik

Mit Blick auf die Beurteilung des Traums in der Aufklärung kann man in der Romantik von einem Paradigmenwechsel hinsichtlich seiner Bewertung spre-chen, da er gegenüber dem Bewusstsein den Vorzug bekommt und als konstitu-tiv für den kreakonstitu-tiven Prozess angesehen wird (vgl. Kap. 2). Der Traum erhält eine positive Konnotation, auch weil seine alineare, assoziative, raum- und zeitüber-greifende, additive und chiffrierte Struktur und seine bildbasierte Sprache die Konstruktion der Indifferenz von divergierenden Elementen möglich machen und somit die Aussicht auf die Rekonstruktion einer archetypischen Einheit liefern.

Eine Darstellung des Traumdiskurses der Romantik ist deshalb problema-tisch, weil er nicht homogen ist und viele unterschiedliche Bereiche und Diszi-plinen umfasst, die insbesondere auch durch ihre engen Wechselbeziehungen das Traumverständnis konstituieren. Der Traumdiskurs kann als Netz verstanden werden, dessen Verbindungen die wechselseitige Beeinflussung markieren. Der Traum wird in den unterschiedlichen Wissenssystemen unter philosophischen, naturwissenschaftlichen, medizinischen, literaturwissenschaftlichen, poetologi-schen, ästhetischen und kunsttheoretischen Aspekten untersucht. Die Übergänge zwischen diesen einzelnen Systemen sind aufgrund der Mehrfachkompetenzen und -interessen der Wissenschaftler, Philosophen und Künstler fließend und eine glatte Trennung zwischen den Disziplinen ist oftmals nicht möglich. Für das Ver-ständnis des komplexen Traumdiskurses sind darüber hinaus nicht nur explizite Bezugnahmen auf den Traum ausschlaggebend, sondern auch Sekundärphäno-mene wie zum Beispiel die Experimente mit einer traumanalogen, poetologischen

230 Busch, Arabeske (wie Anm. 2), 194.

231 Manfred Engel, Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 2 (1998), 97–128, 105.

232 Vgl. Johann Gottfried Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemer-kungen und Träume, Bd. 8, in: Ders., Sämtliche Werke, [Nachdruck der Berliner Ausgabe 1892], Hildesheim 1967, 165–262. Vgl. auch Alt, Schlaf der Vernunft (wie Anm. 9), 221f.

Methode in der Literatur oder Entdeckungen in der Medizin und Naturwissen-schaft, die zwar nicht unmittelbar zur Traumforschung beitragen, aber scheinbar empirische Beweise für Phänomene erbringen, die wiederum für die Traum-theorien fruchtbar gemacht werden können. Die medizinische und naturwis-senschaftliche Forschung stützt also mit ihren Erkenntnissen die spekulativen Thesen der Traumtheoretiker und auch der Naturphilosophen (vgl. Kap. 2.2, 2.3), ist aber wechselseitig auch von der Naturphilosophie beeinflusst.233 Novalis sieht die Interdisziplinarität und Ganzheitlichkeit der Forschung als essenziell an und beklagt ihr Fehlen in der Zeit vor der Romantik:

In der Physik hat man zeither die Phaenomene stets aus dem Zusammen-hange gerissen und sie nicht in ihre geselligen Verhältnisse verfolgt. Jedes Phaenomen ist ein Glied einer unermeßlichen Kette – die alle Phaenomène als Glieder begreift.234

In der Folge und in Anlehnung an die Naturphilosophie Schellings bildet sich eine Reihe von Theorien auf dem Gebiet der Medizin, Naturforschung und Phi-losophie heraus, die sich der Erforschung des grundsätzlichen Zusammenhangs der Welt im weitesten Sinne widmen.235 Die Alchemie, eine Vorform der Che-mie, deren Forschungsinteresse auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet ist und der Metamorphose von Körpern und Stoffen gilt, bringt jenseits jeder mystischen Symbolik zahlreiche chemische Entdeckungen hervor, die als Beweise für das zugrunde liegende Absolute angesehen werden: Zum Beispiel dient Phosphor, das von jedem verwesenden Körper freigesetzt wird, aufgrund seiner fluores-zierenden Eigenschaften den Wissenschaftlern als Beweis für die Existenz eines absoluten Lichts.236

233 Vgl. Olaf Breidbach/Roswitha Burwick, Einleitung: Physik um 1800: Kunst, Wissenschaft und Philosophie – eine Annäherung, in: Dies. (Hg.), Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie (Laboratorium Aufklärung, 5), München 2012, 7–18. Hegel fand dagegen wenig Reso-nanz. Vgl. Engelhardt, Schuberts Stellung (wie Anm. 136), 11. Die Wirkung und Anziehungskraft Schellings in Jena und Würzburg war groß. Die Nachfolger des naturphilosophischen Denkens auf dem medizinischen Gebiet waren z.B. Philipp Franz von Walther, Ignaz Paul Troxler und Dietrich Georg Kieser. Vgl. Karl Eduard Rothschuh, Naturphilosophische Konzepte der Medi-zin aus der Zeit der deutschen Romantik, in: Richard Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutsch-land (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderbd., 52), Stuttgart 1978, 243–266, hier 251. Vgl. auch Hans Baumann, Die Geschichte der Heilkunde.

Medizin vom Mittelalter bis zum 1. Weltkrieg und ihr Zusammenhang mit der wissenschaftli-chen, technischen und sozialen Entwicklung, Norderstedt 2004, 126f.

234 Novalis, Das philosophische Werk 2 (wie Anm. 13), 574.

235 Einen Sammelband mit Texten zur Schelling-Nachfolge von Arnim über Novalis bis Troxler liefern Thomas Bach/Olaf Breidbach (Hg.), Naturphilosophie nach Schelling, Stuttgart 2005.

Vgl.  z.B. die Schelling-Rezeption Novalis’ in: Gabriele Rommel, Friedrich von Hardenberg (Novalis) – Gedanken über »die innre chiffrierende Kraft. Spuren derselben in der Natur«, in: Olaf Breidbach/Roswitha Burwick (Hg.), Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie (Laboratorium Aufklärung, 5), München 2012, 67–102.

236 Vgl. Detlef Kremer, Prosa der Romantik, Stuttgart/Weimar 1998, 84f.

Johann Christian Reil gilt um 1800 als einflussreicher und geschätzter Mediziner im Bereich der Neurologie.237 Mit der Erforschung des Nervensystems wendet Reil sich von dem bis dahin bestehenden Modell der Körpersäfte ab, das bis dahin als physiologische Grundlage für eine somatische Traumursache gilt, und propagiert hingegen ein Modell der Wechselwirkungen und des Zusammenspiels aller Körper-bereiche. Es geht ihm dabei nicht bloß um die physiologische Koordinierung aller Körperteile, sondern auch um das ästhetische Modell der »Cultur der Seele«:238 die Nerven werden in diesem Modell als Mittler nicht nur blinder Impulse, son-dern auch als Mittler von Vorstellungen betrachtet.239 Luigi Galvani entdeckt durch seine Experimente zur Erforschung der Muskelkontraktion im tierischen Orga-nismus eine elektrische Kraft, die den vermeintlichen Beweis einer Verbindung zwischen Körper und Geist erbringt. Auf Basis dieser Erkenntnisse führt Johann Wilhelm Ritter Experimente durch, mit denen er – oftmals in Selbstversuchen – das dualistische galvanische Prinzip auch im menschlichen Körper nachzuweisen versucht und damit zur Einsicht gelangt, dass es sich bei der Elektrizität um die einheitsstiftende Gestaltungsweise der Natur handelt.240 Ritter entdeckt in seinen Untersuchungen zum Licht darüber hinaus auch die komplementären Prinzipien der infraroten und ultravioletten Strahlung, immer davon ausgehend, dass ein Phänomen durch ein gegenteiliges bedingt ist.241 Novalis beschäftigt sich

eindring-237 Vgl. Albrecht Koschorke, Poeisis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin, in:

Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, 259–272, hier 259.

238 Johann Christian Reil, Besondere Fieberlehre: Fieberhafte Nervenkrankheiten, Bd. 4, in: Ders.,

238 Johann Christian Reil, Besondere Fieberlehre: Fieberhafte Nervenkrankheiten, Bd. 4, in: Ders.,