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Landschaftsräume als Muster für Bewusstseins- und Reflexionsprozesse

zeitgenössischer Diskurse

3.2 Landschaftsräume als Muster für Bewusstseins- und Reflexionsprozesse

3.2.1 Funktion literarischer Landschafts- und Innenräume

Die literarische Veranschaulichung der Prozesse der menschlichen Psyche durch Raumdarstellungen hat eine lange Tradition, wird in der Romantik aber

614 Novalis, Tagebücher (wie Anm. 328), 245. Vgl. auch Anm. 328.

615 Adolf Friedrich von Schack, Meine Gemäldesammlung, Stuttgart 1881, 51f.

616 Hoffmann, Serapionsbrüder (wie Anm. 336), 492.

unmittelbar durch das im 18.  Jahrhundert sich entwickelnde Modell des See-lenraums, der Seelenlandschaft vorgezeichnet.617 Dass Landschafts- und Innen-raumdarstellungen als Muster für Bewusstseinsprozesse dienen können, hat die Literaturwissenschaft bereits vielfach herausgestellt. Beschreibungen von Träu-men, Wahnsinn oder Psyche eines Subjekts weisen in literarischen Texten der Romantik ganz bestimmte topographische Merkmale auf:618

An der Darstellung von Architekturen und Landschaften in der romantischen Literatur wird besonders deutlich, in welchem Sinne die von der Romantik dar-gestellte Welt auf das Ich konzentriert ist: Architekturen und Innenräume, aber auch Landschaften und ihre vielfältigen Prospekte werden zu Spiegelungen von Psychischem, zu Projektionsflächen, in denen sich das Ich reflektiert.619

Die Nachahmung der realen, äußeren Welt wird ersetzt durch »imaginative[…]

Entwürfe innerer Welten«.620 Die inneren Vorgänge einer Person werden auf den Handlungsraum abgebildet.621 Die Naturszenerien sind keine mimetischen Beschreibungen der Natur, sondern modulare Zusammensetzungen, die die Landschaftstopographien auf wenige stereotype Kunsträume reduzieren. Anhand dieser Merkmale wird die allegorische Bedeutung der Landschaftsbeschreibung erkennbar. Sie ergibt sich allerdings oft erst im Zusammenspiel mit anderen Räu-men, Personen oder auch Gegenständen.622

Eine umfassende Untersuchung zur Visualisierung von Bewusstseinsprozes-sen mittels stereotyper Landschaftstopographien, die zu einer »Verräumlichung des Seelischen«623 führt, steht noch aus, wohingegen einzelne Topoi der roman-tischen Landschaftsmalerei, wie zum Beispiel das Motiv der Ruine, in der kunst-geschichtlichen Forschung schon weitgehend berücksichtigt wurden.624 Ähnlich

617 Vgl. Carsten Lange, Architekturen der Psyche. Raumdarstellungen in der Literatur der Roman-tik, Würzburg 2007, 11f.

618 Vgl. Ders., Architekturen der Psyche (wie Anm.  617). Für eine ausführliche Darstellung der Landschaftsschilderungen Tiecks vgl. Gerburg Garmann, Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks. Traumreise und Individuationsprozeß aus romantischer Perspektive, Opladen 1989.

619 Monika Schmitz-Emans, Einführung in die Literatur der Romantik, 2. Aufl., Darmstadt 2007, 150.

620 Lange, Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 19.

621 Vgl. Ders., Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 39.

622 Kremer bezieht sich vor allem auf die Prosa der Romantik und veranschaulicht die These anhand einiger markanter und plausibler Beispiele romantischer Literatur. Vgl. Kremer, Prosa der Romantik (wie Anm. 236), 48–51, 123. Vgl. die Darstellung bei Lange für die romantische Lite-ratur. Er stellt in exemplarischen Romaninterpretationen heraus, dass anhand von Innenräumen und Architekturen Fragen der Imagination und Kunst aufgeworfen und herausgearbeitet wer-den. Vgl. Lange, Architekturen der Psyche (wie Anm. 617).

623 Ders., Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 13.

624 Zur Motivgeschichte der Ruine in der romantischen Literatur vgl. Andrea Siegmund, Die roman-tische Ruine im Landschaftsgarten. Ein Beitrag zum Verhältnis der Romantik zu Barock und Klassik (Stiftung für Romantikforschung, 22), Würzburg 2002. Zur Rezeptionsgeschichte der Ruine im 18. Jh. vgl. Ute Klostermann, Von der Ruine im Landschaftsgarten zur Ruine der Land-schaft, in: Günter Oesterle/Harald Tausch (Hg.), Der imaginierte Garten (Formen der Erinne-rung, 9), Göttingen 2001, 239–252.

umfassend analysiert wurden die Innenraumdarstellungen der Romantik, deren Deutungen für diese speziellen Konfigurationen auch immer eine psychische Dimension beinhalten.625

Das literarische Interieur dient im 19. Jahrhundert als »Raum der Innerlichkeit, ein Ort der Selbstbegegnung des Subjekts, als somnambule Traumwelt der Wirk-lichkeit entrückt und nur der Materialisation seelischer Zustände dienlich.«626 Interieurs sind dabei häufig nicht bloß im Sinne von Wohninnenräumen gemeint, es kann sich auch um Gartenräume und Landschaftsinterieurs handeln.627 Natur bzw. Landschaft präsentiere sich vornehmlich als »Lieferant realer Versatzstücke für die Erstellung eines eigenständigen Innenraumes, der als Projektionsfeld seeli-scher Zustände fungiert […] und als Resultat subjektiver Kombinatorik, als Raum der Seele.«628 Die Atelierräume in den Selbstbildnissen der Künstler vor der Lein-wand (Abb. 38) fungieren in der bewussten Abwendung von einem Außen als Symbol für den psychischen Innenraum und den dort verorteten Schaffensprozess des Künstlers. Meist wird in den Innenraumdarstellungen ein Ausblick auf einen Außenraum gegeben. Als divergierende Elemente stehen sich die Räume gegen-über und definieren sich erst gegen-über den jeweils anderen Raum. Auch die Raum-konfiguration und Topographie der romantischen Landschaftsmalerei ergibt sich oftmals aus der Konfrontation oppositioneller Räume. Die Relationen literari-scher Räume und oppositioneller Raumfelder sind von dem Strukturalisten Jurij Lotman hinsichtlich struktureller Grundprinzipien der Vertikalität, Horizontali-tät und der Grenze untersucht worden. Die Grenze sieht Lotman als »wichtigste[s]

topologische[s] Merkmal des Raumes«, weil sie den Raum »in zwei disjunkte Teilräume« teilt.629 Auch in der Raumkonfiguration der romantischen Land-schaftsmalerei ist dieses Schema erkennbar: Die korrelierenden Räume stehen in Korrespondenz miteinander durch ihre Bindeglieder (Schwelle, Grenze, Öff-nung, Figur), die sowohl Abgrenzung als auch Verbindung sein können. Anhand des Gemäldes Der Träumer von Caspar David Friedrich (Abb. IV) soll die Funk-tion opposiFunk-tioneller Räume und das Potenzial ihrer Synthese im Hinblick auf die Raumkonfiguration untersucht werden. Es soll herausgearbeitet werden, was sich im Spannungsfeld zwischen Natur- und Architekturraum im Zusammenspiel mit der Betrachterfigur, dem Ausblick und der »ästhetische[n] Grenze« (siehe unten) ergibt und inwieweit sich hieraus Konfigurationen ergeben, die Ausdruck einer

625 Vgl. Fritz Laufer, Das Interieur in der europäischen Malerei des 19. Jahrhunderts [Teildruck], Zürich 1960, 25. Vgl. auch Karl Schütz, Das Interieur in der Malerei, München 2009, 260–266.

Vgl. auch die Analyse der Innenraumdarstellungen bei Caspar David Friedrich in: Busch, Ästhe-tik und Religion (wie Anm. 6), 26–33. Vgl. auch Horst Fritz, Innerlichkeit und Selbstreferenz.

Anmerkungen zum literarischen Interieur des 19.  Jahrhunderts, in: Udo Benzenhöfer (Hg.), Melancholie in Literatur und Kunst (Schriften zu Psychopathologie, Kunst und Literatur, 1), Hürtgenwald 1990, 89–110.

626 Ders., Innerlichkeit (wie Anm. 625), 89.

627 Vgl. Ders., Innerlichkeit (wie Anm. 625), 93.

628 Ders., Innerlichkeit (wie Anm. 625), 93.

629 Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, 311–329, Zitate 327.

traumtheoretischen und naturphilosophischen Reflexion und einer dialektischen und selbstreflexiven Auseinandersetzung sind.630

3.2.2 Caspar David Friedrich – Der Träumer

Das Bild Der Träumer631 (Abb. IV) zeigt den Ausschnitt einer Ruinenmauer einer gotischen Kirche. Das hohe, zweibahnige Spitzbogenfenster ist mittig in die Mauer eingelassen und nur noch als Skelett vorhanden. Das ehemals vorhandene Maß-werk lässt sich aber an der obersten Spitze noch erahnen. Die Öffnung gibt den Blick frei auf einen Teil des dahinterliegenden Tals und den sich darüber erstre-ckenden Himmel. In der Öffnung der rechten Fensterhälfte sitzt ein Mann seitlich gewendet mit Blick zum Tal. Der Vordergrund zeigt den ›Innenraum‹ der Ruine, dessen steiniger Boden mit Moos und Gras überwachsen ist. Zwei verdorrte Bäume befinden sich innerhalb der vorderen Zone. Es dominieren die Farben braun, grün und beige, die die Komponenten des Vordergrundes verschwimmen lassen und keine klare Orientierung bieten. Der Vordergrund wirkt dadurch ent-materialisiert und flächig. Dem Raum fehlt das Spezifische, die Authentizität des historischen und zeitlich eingebetteten Ortes.632 Verstärkt wird dies durch die feh-lende Begrenzung an den Bildrändern. Der Mittelgrund wird durch die flächige Vertikale der Ruinenmauer bestimmt, die farblich und strukturell mit dem Vor-dergrund korrespondiert. Die Mauer unterbricht das Kontinuum des homogenen Vordergrundes und trennt diesen vom Hintergrund in zwei Bildräume. Auf die häufig bei Friedrich existierende »bildparallele […] Zweischichtigkeit« mit einem oft nicht bestimmbaren hinteren Bildraum und einem überspringbaren Mittel-grund hatte Helmut Börsch-Supan bereits 1960 hingewiesen.633 Die Vertikalen und Horizontalen bilden formale Gegensätze und erzeugen eine gewisse Flä-chigkeit ohne Tiefenwirkung. Das System der Reihung und Symmetrie und die

630 Für die romantische Literatur hat Carsten Lange festgestellt, dass die »romantische Raumdarstel-lung […] als reflexive Doppelallegorie auf[tritt], indem Architekturen nicht allein auf Psyche und Identität der Figuren zielen, sondern auch den Roman selbst, Textualität an sich oder künstleri-schen Medien überhaupt reflektieren.« Lange, Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 69.

631 So bezeichnet in der Monographie Caspar David Friedrichs von Börsch-Supan. Ob der Titel original ist, lässt sich nicht belegen. Deutungen speziell zu diesem Bild gibt es kaum. Von Börsch-Supan wurde das Bild ausschließlich religiös gedeutet, was einer näheren Betrachtung nicht standhält. »Der Vordergrund bedeutet die dem Verfall preisgegebene irdische Welt. Dem Mann […] sind die dürren Bäume diesseits der Mauer als Memento mori zugeordnet. Er blickt träume-risch nach draußen in die Tiefe, die den Abgrund des Todes symbolisiert. Die Fichten jedoch, die unter dem Fenster aufwachsen, bedeuten, dass für die Christen die jenseitige Welt der Grund ist, in dem sie Halt finden.« Börsch-Supan, Friedrich (wie Anm. 442), 457.

632 Wolfgang Kemp nennt die Friedrichschen Orte »virtuelle Orte«, weil sie zwar möglich, aber nicht sinnstiftend sind. Vgl. Wolfgang Kemp, Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Stu-dien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983, 48, Zitat 48.

633 Börsch-Supan nennt die zweischichtige Bildgestaltung »kontrastreiche[r] Stil«. Vgl. Helmut Börsch-Supan, Die Bildgestaltung bei Caspar David Friedrich, München 1960, hier insb. Kap.

»Der kontrastreiche Stil«, 77–91, Zitat 76.

damit verbundene »Negation des materiellen Bildträgers« bewirken die »Unab-geschlossenheit der Komposition« und die »Desillusionierung des räumlichen Sehens«.634 Die schrankenhafte Architektur, die unbestimmte Topographie und das Fehlen diagonaler Kompositionslinien zur Erzeugung einer Tiefenwirkung tragen dazu bei. In der rechten Fensterhälfte sitzt ein Mann in einem schwar-zen Anzug mit weißem Hemd, dessen rechtes Bein angewinkelt auf dem Fens-terrahmen ruht. Seine Hände sind auf seinen Beinen abgelegt. Sein Blick ist ins Tal gerichtet. Die schattenrisshafte635 Darstellung lässt ihn mit den Strukturen der Mauer verschmelzen. Der symmetrische Aufbau des Bildes wird nur durch seine Figur aufgebrochen. Der Hintergrund setzt sich von der vorderen Ebene durch die Farbgestaltung ab. Über der schon in Schatten getauchten und daher bläu-lichen Talebene ist der Himmel durch die untergehende Sonne noch erleuchtet.

Hinter der Fensteröffnung ragen zwei große, schlanke Fichten gen Himmel. Dem Hintergrund fehlt jede messbare räumliche Tiefe, auch diese Ebene wirkt flächig.

Die leicht nebelige Luftperspektive trägt zu diesem Eindruck bei. Die Weite des Raumes und ihr Ort bleiben unbestimmbar, weil die Öffnung nur einen geringen Blick auf die Landschaft zulässt, der keine Parameter zur zeitlichen, räumlichen und historischen Einordnung enthält.

Der Nähe des tristen Vordergrunds ist die (verstellte) Aussicht in die Ferne, ins Weite gegenübergestellt. Der vordere Raum enthält Symbole des Verfalls:

die Ruinenmauer, abgestorbene Bäume und wucherndes Moos. Der ferne Raum zeigt gegenteilige Symbolik: Der Sonnenuntergang wird gemeinhin als Symbol des Lebenskreislaufes und die immergrünen Fichten als Unendlich-keitssymbol gedeutet.636 Dem abgeschlossenen Vordergrund wird die zeitliche und räumliche Offenheit, die Andeutung eines unendlichen Horizonts ent-gegengesetzt. Carl Gustav Carus sieht im Himmel das »eigentliche Bild der Unendlichkeit«:

Der Himmel hinwiederum in voller Klarheit als Inbegriff von Luft und Licht, ist das eigentliche Bild der Unendlichkeit […]. Wie daher durch Wolken, ja selbst durch hochaufgetürmte andere Gegenstände das Anschauen dieser Unendlichkeit mehr und mehr eingeengt und endlich ganz verhüllt wird, so regt dies auch im Gemüth mehr und mehr eine beklommene Stimmung an, wenn dagegen das Übergehen dieses Wolkenschleiers in lichte Silberwölk-chen, das Zertheilen desselben durch des aufgehenden Mondes oder der Sonne ruhige Klarheit, die innere Trübheit verlöscht und zum Gedanken des Sieges eines Unendlichen über ein Endliches uns erhebt.637

634 Vgl. Prange, Reflexion und Vision (wie Anm. 473), 286f., Zitate 287, 286.

635 Zum Schattenriss in der Romantik vgl. Rüdiger Görner, Schattenrisse und andere Ansichten vom Ich. Zur Identitätsproblematik als ästhetischem Gegenstand romantischen Bewusstseins, in:

Nicolas Saul (Hg.), Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften, München 1991, 1–18.

636 Vgl. Börsch-Supan, Friedrich (wie Anm. 442), 457.

637 Carus, Landschaftsmalerei (wie Anm. 64), 51.

In ihren Diskontinuitäten und der fehlenden Beziehung zwischen Nähe und Ferne wird das Sinnfundament des traditionellen Landschaftsbildes in Frage gestellt. Die beiden Räume scheinen nur als Muster zu fungieren, als Stellvertreter für Pola-ritäten. In der reihenden und symmetrischen Flächenordnung wird jedoch eine völlige Gegensätzlichkeit der Ebenen gelockert und eine Synthese angedeutet.638 Die zwischen den divergierenden Räumen entstehende Diskrepanz wird über das Potenzial ihrer Synthese – gemäß der Schellingschen Philosophie – aufgelöst (vgl. Kap. 2.1): Der Immaterialität des zarten Hintergrundes ist die Materialität des Vordergrundes entgegengestellt, Distanz und Nähe, Innen und Außen sind jeweils konkurrierende Charakteristika der beiden Ebenen. Dem Schatten und den dunk-len Farbtönen, der Stofflichkeit und der Endlichkeit des Vordergrundes ist Licht und helle Farbigkeit und die Unendlichkeit des Hintergrundes gegenübergestellt.

Dieses Konzept kommt im Œuvre Caspar David Friedrichs wiederholt vor.

Nicht nur bildimmanent setzt sich Friedrich mit Dichotomien auseinander, sondern auch über Bildgrenzen hinweg entwirft er gelegentlich zwei Bilder als Gegensatzpaar. So veranlasst er 1826, dass das Eismeer (Abb. 80) und der Watz-mann (Abb. 81) gemeinsam ausgestellt werden. Formale Analogien stoßen hier auf inhaltliche Ambivalenz im Hinblick auf das zugrunde gelegte Weltbild: Abstrakte Aussichtslosigkeit steht Erhabenheit gegenüber.639

Die Ruinenmauer fungiert deshalb zum einen als Grenze und Zäsur, zum anderen aber auch als Übergang, als Durchblick und Vermittlung zwischen den gegensätzlichen Ebenen. Die räumliche »Schwelle« als Phänomen der Roman-tik640 hat immer diese Doppelfunktion. Sie thematisiert die Dialektik schon in ihrer Präsenz und bietet gleichzeitig die Möglichkeit der Überschreitung. Mit dem

»Schwellenbewusstsein« bzw. der »Schwellensehnsucht«641 wird die Differenz zwischen den beiden Räumen offenbar, aber auch das Potenzial der Verbindung.

Die »ästhetische Grenze«642, die als rezeptionsästhetische Prämisse die variable Betrachtergrenze zwischen Kunst- und Realraum bezeichnet und die in der Regel mit der realen Bildgrenze zusammenfällt, ist in diesem Fall durch die Ruinen-mauer ins Bild verlegt.

638 Vgl. Prange, Reflexion und Vision (wie Anm. 473), 282.

639 Vgl. Werner Hofmann, Die Romantik – Eine Erfindung?, in: Hubertus Gaßner (Hg.), Caspar David Friedrich – Die Erfindung der Romantik (Ausstellungskatalog: Essen, Museum Folkwang, 05.05.–20.08.2006), München 2006, 20–31, hier 29.

640 Zur Untersuchung des Phänomens der »Schwelle« vgl. Lothar Pikulik, Schwelle und Übergang, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit 53 (1993), 13–24, Zitat 18.

641 Begriffe stammen von Pikulik in der literaturwissenschaftlichen Analyse des Phänomens. Piku-lik, Schwelle und Übergang (wie Anm. 640), 19.

642 Geprägt wurde der Begriff »Ästhetische Grenze« von Ernst Michalski in: Ernst Michalski, Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, [zugl. Habil. 1931], Berlin 1961. Prange kritisiert seine Methode insofern, als sie auf die Kategorisierung von auto-nomer und einer vom Betrachter abhängigen Kunst hinausläuft. Vgl. Prange, Sinnoffenheit (wie Anm. 17), 134–137.

Die Grenze, die zwischen geformtem Kunstraum und ungeformtem Frei-raum verläuft, wird hier als ästhetische Grenze bezeichnet. Die Grenze ist nun keineswegs konstant und undurchbrechlich. Sie kann in verschiedenarti-ger Weise überschnitten werden. Die Kunstformation kann in den Realraum übergreifen und umgekehrt kann der Realraum, gleichsam als ungeformter Rohstoff, in den Kunstraum eindringen.643

Der homogene und illusionistische Innenraum des frühneuzeitlichen Bildes hat eine durchlässige Grenze zum Realraum und macht damit den Innenraum prinzipiell begehbar für den Betrachter. Die Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum wird damit der bewussten Wahrnehmung entzogen.644 Friedrich radikalisiert dieses Sehmodell insofern, als er die »ästhetische Grenze« ins Bild verlegt und die Durchdringung von Kunst- und Realraum als rezeptionsästheti-sches Modell im Bild durch die Durchdringung von Architektur- und Naturraum verdoppelt. Das Dispositiv wird hier auf die Ebene des Bildes ausgedehnt, indem es den gesamten Raum zwischen Betrachter und Ruinenmauer einnimmt. Der vordere Bildraum wird durch seine »Verlängerung in den Wahrnehmungsraum des Betrachters«645 zwar entgrenzt, jedoch erzeugt die Verlagerung der ästheti-schen Grenze eine Distanz, die das Dispositiv zu einem nicht auf Identifikation und Immersion angelegten Raum macht, sondern in einen Reflexionsraum umwandelt. Die Reflexion wird als synthetisierender, potenziell unendlicher Pro-zess in der Figur widergespiegelt.

In literarischen Texten der Romantik fungieren »Gebäudereste […] als geheime Orte oder versteckte Teilbereiche einer Seelentopographie«.646 Der Raumtypus des Unbewussten kann in den unterschiedlichen Erzähltexten variieren, jedoch stimmen die Attribute bei den Beschreibungen überein: Unzugänglichkeit, Iso-liertheit, Kontrast zur Landschaft.647 Auch weil er sich durch seine »Phänomeno-logie als Ort des Archaischen und als Erinnerungsträger«648 besonders gut dafür eignet, ist es üblicherweise der Ruinenraum, der metaphorisch für das Unbe-wusste des Protagonisten steht, wenngleich das Verhältnis zu anderen räumlichen Elementen oder Figuren dabei auch eine Rolle spielt.649 In der vorliegenden bild-lichen Darstellung von Friedrich fungiert der Ruinenraum auch als Betrachter-raum und ist damit zugleich Spiegelbild des Inneren des Betrachters bzw. offeriert die Möglichkeit der Selbstreflexion. Der Vordergrund ist ein unbestimmter Raum und bietet dem Betrachter keine Anhaltspunkte für eine eindeutige Sicht- oder

643 Michalski, Grenze (wie Anm. 642), 10.

644 Vgl. Prange, Sinnoffenheit (wie Anm. 17), 160.

645 Dies., Reflexion und Vision (wie Anm. 473), 288.

646 Lange, Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 128.

647 Vgl. Ders., Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 129.

648 Lange zeigt diese Funktion des Ruinenraumes anhand von vier exemplarischen Texten: E.T.A.

Hoffmanns Das öde Haus und Das Majorat, zudem Die Kronenwächter von Arnim und Das Mar-morbild von Joseph von Eichendorff. Vgl. Ders., Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 128f., Zitat 128.

649 Vgl. Ders., Architekturen der Psyche (wie Anm. 617), 16.

Herangehensweise. Der Raum ist als Ruinenraum, aber auch als Referenzsystem, ruinöse Konstruktion. Dieses unbestimmte Dispositiv zwischen Betrachter und Bild erzeugt Ambivalenzen. Der Betrachter kann den Raum, auch wenn er in den Realraum hineinragt, nicht überbrücken. Indem die Bildgrenze zur Ruinenmauer verschoben wird, entsteht dieser Reflexionsraum, eine ästhetische Leerstelle, die mit Begrenzung durch die Ruinenmauer zum Abschluss kommt und das Artifizi-elle und den Konstruktionscharakter umso evidenter werden lässt. Diese ästheti-sche Grenze ist Schranke und Mittel zur kritiästheti-schen Distanz zum Abgebildeten.650 Diese Leerstellen, Grenzen und Ambivalenzen im Bild schaffen einen Bruch zwi-schen Bild und Betrachter,651 bieten ihm dafür aber einen Reflexionsraum. Die Distanzierung des Betrachters wird durch bewusste Setzung dieser Parameter erreicht. Indem die Darstellung ihre spezifischen Voraussetzungen – den Bildträ-ger, die Komposition und die Materialität – bildimmanent, zum Beispiel anhand der ästhetischen Grenze thematisiert, verhindert sie das Verwischen der Gren-zen zwischen Bild und Realität, reflektiert sich selbst, die Wahrnehmung und die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst. Doch die ästhetische Grenze in Form der Ruinenmauer weist den Betrachter nur vorübergehend ab. Nach der Überwin-dung des Vordergrundes und der Grenze durch die Ruinenmauer ist der Blick ins Tal möglich. Dass das Tal Ziel des Betrachterblicks ist, wird durch die strah-lende Lichtwirkung des Hintergrunds in Abgrenzung zur dunklen und diffusen Farbigkeit des Vordergrunds deutlich. Unterstützt wird dies durch die Kompo-sitionslinien, die trichterförmig von den Mauern der Ruine auf die Ebene hin-ter dem Fenshin-ter verweisen. Der Betrachhin-ter wird von dem Bild gefordert, weil es durch den radikalen Bruch mit den Sehgewohnheiten auch die Rezeptionsmecha-nismen offenlegt und zur Reflexion mahnt. Maler Reinhold sagt in den Gemälde- Gesprächen über den Künstler: »Er lehrt uns sehen. Drollig genug, dass man es in dem Grade verlernen kann. Aber wann sieht man auch einmal um des Sehens willen? Es geschieht immer in andern Geschäften.«652 Die Rezeptionsweise beim Betrachten von Kunst als ein ungewöhnliches Sehen hatte Carus mit dem »fixier-ten Blick« erklärt:

Das Bild, könnte man sagen, ist ein fixierter Blick; das gewöhnliche Sehen als ein bewegliches und stets bewegtes Umschauen in der natürlichen Welt kennt keine Concentration der Massen und des Lichts, der möglichst festgeheftete Blick dagegen (einen absolut festgehaltenen gibt es nicht wegen der steten inneren Erzitterung des Auges) zeigt uns allemal in der Mitte des Sehfeldes,

650 Hier finden sich Analogien zum epischen Theater von Bertold Brecht. Vgl. Marianne Kesting, Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas, Stuttgart [u.a.] 1978, 57–88. Die Evo-zierung des Verfremdungseffekts zielt darauf ab, Betrachtererwartungen und Gesetzmäßigkeiten zu durchbrechen und somit den Reflexionsprozess anzustoßen, hier 64f.

650 Hier finden sich Analogien zum epischen Theater von Bertold Brecht. Vgl. Marianne Kesting, Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas, Stuttgart [u.a.] 1978, 57–88. Die Evo-zierung des Verfremdungseffekts zielt darauf ab, Betrachtererwartungen und Gesetzmäßigkeiten zu durchbrechen und somit den Reflexionsprozess anzustoßen, hier 64f.