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Die ideologische Situation der Gegenwart

Geschlossenheit 72 der totalitären Ideologien

Die totalitären und die nicht totalitären Ideologien müssen wir gesondert betrach-ten. Ich nenne hier eine Ideologie totalitär, die sich nicht dem Urteil als Möglichkeit von Überzeugung und Aktionsbereitschaft anbietet, sondern die mit dem Anspruch auftritt, als ganze die einzig mögliche und deshalb unausweichlich zu sein – welches auch immer die Autorität oder unbestreitbare Evidenz sei, auf die sie sich beruft. Die faschistische und die kommunistische Ideologie sind in diesem Sinn, wie wir sahen, totalitär. Die erstere schreibt sich eine göttliche Mission oder gar magische Kräfte zu, die andere Allwissenheit, Einheit mit der geschichtlichen Notwendigkeit. Alle beide beziehen sie ihr Ansehen und ihre Anziehungskraft aus dem unauflösbaren Zusammenhang all ihrer Erscheinungsformen und damit aus der leidenschaftlichen Einstimmigkeit, die sie bei ihren Anhängern bewirken. An welchem Ende man sie auch anpackt, bringt eine Zustimmung alle anderen mit sich weniger durch die Wir-kung einer logischen Verbindung, die auf deduktivem Weg von der einen zur anderen führen würde, als durch das Band eines Glaubens, der in seiner Ganzheit in jedem einzelnen Punkt enthalten ist, so dass buchstäblich «in Allem das All» ist und umge-kehrt.

Greifen wir zwei Beispiele heraus. Es ist durchaus möglich, ohne der kommu-nistischen Doktrin anzuhangen, ihrem negativen Teil, ihrer Kritik am Kapitalismus zuzustimmen. Es ist aber – obwohl viele sich das einbilden – unmöglich, die Lösun-gen zu akzeptieren, die sie auf wirtschaftlichem Gebiet vorschlägt, ohne sie zugleich als Ganzes hinzunehmen. Ersetzt man die kapitalistischen Arbeitgeber durch einen einzigen, den Staat, dann überträgt man ihm eine derartige Machtfülle, und er wird

dadurch zugleich derartig empfindlich jeder Kritik und jeglicher Opposition gegen-über, dass man ihm eben auch entsprechende polizeiliche und militärische Macht-befugnisse einräumen und ihm genügend Gefängnisse konzedieren muss. Das ist die Zwangsläufigkeit der Tatsachen. Darüber hinaus gibt es eine andere; sie ist sub-jektiver und ideologisch gesehen wesentlicher: Damit einverstanden sein, dass der Staat der einzige Unternehmer wird, das bedeutet: Ihm ein grenzenloses Vertrauen schenken, und dementsprechend auch auf jede Kontrolle verzichten, ihn also zum absoluten Richter erheben. Die ganze Weltanschauung, die in der kommunistischen Ideologie enthalten ist, mitsamt ihren politischen Folgerungen, diese Grundgläubig-keit daran, dass der Staat im kommunistischen Regime das Organ der historischen Notwendigkeit ist und nichts anderes sein kann, und dass er als solcher den einstim-migen Willen des Volkes darstellt – all das ist mitenthalten in der Zustimmung dazu, dass der Staat der einzige Unternehmer wird. Nicht sehen wollen, was alles aus der ersten Zustimmung folgt, bedeutet, glaube ich, sich eine Sauberkeit der Absichten vorbehalten wollen, die völlig wirkungslos ist.

Viele Leute haben zur Zeit des italienischen Faschismus sich bemüßigt gefühlt, ihm ihre Sympathien entgegenzubringen, weil die Züge pünktlich ankamen. Natür-lich kann man einem pünktNatür-lichen Zugsverkehr einige Bedeutung beimessen, ohne damit auch Sondergerichte, politische Gefängnisse und Deportationen gutzuheißen.

Aber im faschistischen Regime hing, was die Züge regelmäßig verkehren (oder auch die Bettelei verschwinden) ließ, unabtrennbar mit dem faschistischen politischen Sys-tem zusammen, und es hatte keinen Sinn zu sagen, «es gebe da doch allerlei Gutes»

und dabei von der Unterdrückung der Freiheit absehen zu wollen. In jedem politi-schen Regime, es sei welches es wolle, gibt es etwas «Gutes». Aber man muss genau hinsehen, ob dieses «Gute» nicht mit einem «Bösen» verknüpft ist, das man um kei-nen Preis hinnehmen würde. Ein totalitäres Regime ist so wenig aus voneinander ablösbaren Stücken zusammengesetzt, dass dies so gut wieimmerder Fall ist – wenigs-tens für jemanden, nach dessen Ansicht es immer noch nichts gibt, was den Verlust der Freiheit ersetzen könnte.

Ein totalitäres Regime fordert also nicht erst faktisch durch seine Polizeitruppen, sondern schon ideologisch ein grenzenloses und rückhaltlosesJaoderNein. Jede Ab-schwächung bedeutet hier wohl oder übel einen Schwindel, weil sie der Natur des Einsatzes widerspricht. Weder das Vielfache an Schulen, die in den UdSSR gegen früher eingerichtet werden, noch die Überwindung der Arbeitslosigkeit in Hitler-Deutschland, noch die in Italien oder anderswo durchgeführten Sozialversicherungs-Maßnahmen – nichts von all dem kann für sich bewertet werden; die Resultate sind in solchen Regimen nicht von den Mitteln zu trennen, die verwendet wurden, um sie zu erreichen. Man muss alles hinnehmen oder alles bekämpfen.

Das Grundprinzip eines jeden totalitären Regimes ist der Anspruch, die Wirk-lichkeit in ihrer Totalität zu kennen, zu beherrschen, zu meistern. Ob man in dieses Spiel die Autorität Gottes, die eines Magiers oder der Wissenschaft einbezieht –das Ganzeist beherrscht. Natürlich gibt es selbst unter den Anhängern Ängstliche, die es nicht wagen, die letzten Konsequenzen aus ihrer Anhängerschaft zu ziehen, und die sich in ihrem Innersten ein ebenso mysteriöses wie unwirksames Jenseits reser-vieren. Das sind aber doch nur Inkonsequenzen, ein Überbleibsel von bequemem Arrangement mit der Vergangenheit. Tatsächlich lassen das totale Wissen, die totale Bemeisterung als einzige Rechtfertigung totalitärer Ansprüche nur eine totale Imma-nenz zu. Ob religiös motivierte Eingebungen der Staatsmacht, ob die dem Führer zuerkannte übernatürliche Berufung, ob empirisch-wissenschaftliche Evidenz des zu befolgenden Weges und seines Ziels – in jedem möglichen Fall lebt der Totalitarismus nur davon, dass er das Absolute in Beschlag nimmt und damit jede Transzendenz ausschließt.73All dem ist eine gewisse Größe, Anziehungskraft, ja Faszinierung nicht abzusprechen, und gewiss geht davon ein außerordentlich wirksamer Appell an die Hingabefähigkeit und Opferbereitschaft der Regierten aus. Aber es stimmt doch recht traurig zu sehen, mit welcher Leichtfertigkeit die Menschen unserer Zeit derartige Surrogate als «mystisch» bezeichnet haben, bei denen Lästerung und Aberglaube so offenkundig sind. Selbst die beklagen sich oft darüber, diesen «Mystiken» keine «Mys-tik» entgegensetzen zu können, die gegen die Totalitären kämpfen; sie suchen eine, sie warten darauf. Die antitotalitären Ideologien drängen auch darauf, sich zu Blocks zu-sammenzuschweißen, ihre Anhänger bis zur Einstimmigkeit zu disziplinieren, sich zu einer absoluten Religion zu übersteigern – all das natürlich mit minimalem Er-folg und mit schlechtem Gewissen. Das ist eben falsch. Es geht nicht darum, einen Wettkampf mit den unreinen Mächten auszutragen, sondern sie zu entlarven, sie ab-zulehnen und in dieser Ablehnung andere Kräfte zu finden, die dem echten Wesen des Menschen entsprechen.

Nicht-Geschlossenheit74der anderen Ideologien

Der totalitäre Anspruch steht und fällt mit der Behauptung einer totalen Erkennt-nis, und diese Behauptung fällt mit jedem Offenwerden für die Transzendenz in sich zusammen. Das wird sich zeigen, wenn wir uns die angebliche Geschlossenheit der nicht totalitären Ideologien näher ansehen. Nehmen wir einige Beispiele. Die Kon-servativen machen aus dem Glauben an Gott, aus der Unterwerfung unter seinen Willen ein Argument zugunsten der bestehenden Zustände. Aber dieses Argument wäre doch nur dann gültig, wenn sich der Wille Gottes auf die eindeutige Imma-nenz eines Tatbestandes beschränkte. Zu allen Zeiten hat man versucht, so die

be-stehende Ordnung und die gerade geltenden Privilegien zu rechtfertigen. Sehen wir näher zu.

Man behauptet also, «das, was ist» offenbare den Willen Gottes. Aber was ist denn? Es ist eine Banalität, zu sagen, das Gegenwärtige werde zum Nichts zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das Gegenwärtige resultiert offensichtlich in seinem Sosein aus Anschlägen gegen ein Vergangenes (von dem immer noch Reste übrigblei-ben, die Heimweh erregen), das einmal gegenwärtig, also eine Offenbarung dessen war, was Gott wollte. So könnte man ebensogut von jedem beliebigen Gegenwärtigen sagen, es sei die Frucht einer Gotteslästerung, es sei gegen Gott erworben worden. So gesehen wird die ganz Geschichte anti-göttlich. Aberistdenn die Geschichte nicht?

Ist sie nicht von Gott gewollt, so gut wie die Gegenwart? Die Keime von Revolten, oder selbst die zu Mächten organisierten Bewegungensinddoch auch und müssten demnach ein Anrecht auf die theologische oder ontologische Unantastbarkeit haben.

Hier sind die Zeit selbst, mitsamt der Geschichte, das Wesen des Menschen, ja mehr noch: Die Schöpfung in Frage gestellt. Sobald man aus der Gebetsformel

«Dein Wille geschehe» ein eindeutiges Prinzip politischer Moral machen will, begeht man eine Lästerung und ruft umsonst den Namen des Herrn an. Man macht willkür-lich aus der geschichtwillkür-lichen Gegenwart einen von Gott her gesehen ausgezeichneten Augenblick – und im Ganzen des Gegenwärtigen liest man erst noch eine für die Privilegierten günstige Struktur aus. Man bedient sich Gottes, um diese willkürliche Auswahl, diese ausgesprochen menschliche Interpretation, diesen Menschenwillen zu begründen, und man macht damit sogar der Schöpfung ihr Werden streitig.

Die Unterwerfung unter Gott hat nicht notwendigerweise eine konservative po-litische Entscheidung im Gefolge; sie schließt eine revolutionäre Entscheidung keines-wegs aus. Wenn aber jemand es unternehmen sollte, diese letztere durch Argumente der religiösen Eschatologie zu rechtfertigen, so würde er damit einen ganz ähnlichen Missbrauch treiben; er würde ganz einfach statt eines gegebenen einen zukünftigen Zustand, den er aus seiner Phantasie entworfen und zum Ideal erhoben hat, mit dem göttlichen Willen gleichsetzen. Offenkundig auferlegt ist dem Menschen die Zeit.

Aber nichts gestattet wahrer Frömmigkeit, Gott zum Garanten menschlicher Werte oder Pläne zu machen.

An sich bedingt auch die Bindung an die Tradition nicht vorzüglich eine kon-servative Politik. Auch eine Tradition steht in der Zeit. Sie hat sich im Laufe der Zeit in einer bestimmten Richtungentfaltet. Sie hat Wandlungen bewirkt. Sie gehört nicht der Ewigkeit an. Solange sie lebendig ist, bedeutet das eine Anforderung an die Men-schen, sie aktiv in ihre Zukunft hinein zu entwickeln.

Die Konservativen vergewaltigen Gott, indem sie ihm einen menschlich ver-standen eindeutigen Willen zuschreiben, demgegenüber einem frommen Verhalten

einzig die Unterordnung ziemt. Genau so verstehen die fortschrittlichen Demokra-ten die sittlichen Werte. Trotz ihrer Toleranz sind sie davon überzeugt, wenn man einmal die sittlichen Werte anerkannt habe, an die sie glauben – Gerechtigkeit und Liebe –, müsse sich die politische Linie von allein ergeben, der sie selbst folgen. Von einer Tatsache wissen sie und wollen sie nichts wissen: Auch diese Werte sind nur in der reinen, unmenschlichen und wirkungslosen Unbedingtheit ihrer Transzen-denz eindeutig. Sobald sie in einer konkreten Situation auf ein faktisches Handeln bezogen werden, trüben sie sich, werden zwiespältig und vieldeutig – je nach dem Subjekt, das sich von ihnen leiten lassen möchte. Auch spielen sie beim Gegner eben-falls, und nicht nur propagandistisch, eine Rolle. Es ist das Schicksal des Menschen, wo immer er zu kämpfen hat, auch gegen den Gerechtigkeitssinn und die Liebe des Feindes kämpfen zu müssen – und gegen das Stück Wahrheit, das selbst noch in des-sen Lüge steckt. Eine Lüge ganz ohne jede Wahrheit zerfällt von allein, man braucht sie nicht einmal zu bekämpfen. Die Haltbarkeit einer verbrecherischen Ideologie be-ruht immer auf der Treue zu einer Liebe oder einer Gerechtigkeit, die sie verkündet.

Das absolute Böse ist ein Hirngespinst, weil es an seiner eigenen Schwäche eingehen müsste.

Die fortschrittlichen Demokraten wissen nichts von den Opfern, dieihre Ge-rechtigkeit,ihreLiebe in der harmlosen und geduldigen Form, welche diese Werte in ihren Augen annehmen, täglich fordern oder zulassen. Sie bewahren sich lieber ein gutes Gewissen, als dass sie die Wirklichkeit sehen. Sie merken nicht, dass ihre Geg-ner ihre wilde Entschlossenheit und Gewalttätigkeit aus denselben Quellen speisen, aus denen sich ihre Toleranz erhält. Man gefährdet die Sache, für die man eintritt, wenn man die Kräfte des Feindes unterschätzt; ebenso unklug ist es, dessen morali-schen Wert gering zu achten.

Gerechtigkeit und Liebe können Menschen dazu veranlassen, eine demokrati-sche Rechtsordnung zu stürzen, die konkretes Leben verkümmern und verstümmeln lässt. Die demokratische Gesetzlichkeit ist ein irdisches Mittel und kein absoluter Wert. Gerechtigkeit und Liebe sind absolute Werte und keine buchstäblich vorge-schriebenen Verhaltensweisen. Sie werden unterschiedlich interpretiert, und sie lö-sen verschiedenes Handeln aus. Deshalb ist das teilweise in einer Ideologie enthaltene Gute nie ein zureichender Grund, ihr anzuhangen oder auch nur, sie zu tolerieren.

Aus demselben Grund ist aber auch einer, der sich dafür einsetzt, niemals mit Haut und Haaren – und bequemerweise ein Feind.

Die positivistische und materialistische philosophische Tradition des Sozialismus ver-pflichtet als solche noch keineswegs dazu, die Wirtschaft revolutionieren zu wollen.

Keine bloße Feststellung genügt, um eine Revolte auszulösen; es braucht dazu

außer-dem einen Geist, der an Werte gebunden ist, denen die festgestellten Tatbestände wi-dersprechen. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist, auch wenn sie in ihrem ganzen Umfang enthüllt wird,an sich selbstnicht empörend. Sie wird es erst im Blickfeld eines Bewusstseins, für das jedes Menschenwesen zum Wert erhoben ist und unwandelbare Rechte besitzt. Doch steckt der Wert weder in den Tatsachen, noch in den Rechten. Angenommen, es gäbe einen einzigen Schlüssel zur Weltgeschichte, der es erlaubte, ihre Entwicklung nach einer unausweichlichen Notwendigkeit zu deu-ten und demnach die Zukunft vorauszusehen: Selbst dann wären Werte und Rechte nichtindieser Geschichte. Man könnte uns beweisen, so viel man wollte, dass die Geschichte notwendigerweise zu einer allgemeinen Befreiung der Individuen führe, diese Notwendigkeit wäre doch immer nur als eine Tatsache hinzunehmen, und kei-neswegs als ein Wert, dem wir Zustimmung schuldig wären. Ein Wert kann fordern, dass man fast ohne Hoffnung gegen den Strom der Geschichte schwimmt.75

Was die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen betrifft, so gibt es Leu-te, die diesem Sachverhalt zustimmen, den sie als eine natürliche, ja sogar göttliche Ordnung betrachten. Dem notwendigen Lauf der Geschichte gegenüber empfinden die einen überhaupt nichts, andere resignieren, wieder andere empören sich. Jeden-falls ist es eine große Inkonsequenz (die sich, wie wir gesehen haben, einzig aus den bedrückenden Bedingungen erklären lässt, in denen sich die Arbeiterbewegung zu Beginn befunden hat), als einzigen Wert die positive Wirklichkeit gelten zu lassen, auch wenn sie in voller Entwicklung nach den Gesetzen der Notwendigkeit gesehen wird, und gleichzeitig von einem jeden den letzten Einsatz für die Befreiung des Men-schen zu verlangen. Dieses Verlangen beruft sich unweigerlich auf die transzendente Wertwelt; wo nicht, ist es völlig sinnlos.

Der dialektische Materialismus76führt also nicht notwendig zu revolutionären Forderungen. Umgekehrt enthalten diese nicht unbedingt den dialektischen Materia-lismus. Die Transzendenz77in jeder beliebigen Form, etwa die Religionen, welche die Menschheit an sie erinnern, können durchaus, anstatt Opium für das Volk zu sein,78 den revolutionären Willen wachhalten und unermüdlich gegen dessen Neigung an-kämpfen, unter dem Druck der Tatsachen zu erschlaffen. Die Triebe allein reichen nicht aus. Die allmähliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft könnte einen Grad erreichen, wo der Hunger aufhört, wo der Schlaf nicht mehr ge-stört wird, wo man der Einladung zu allerlei Spielen folgt, die nur veranstaltet werden, um die Massen in Zufriedenheit einzulullen. Das Triebhafte begnügt sich schließlich mit recht wenig. Sehr viel gefährlicher, weil unersättlicher auf das Unendliche und Absolute ausgerichtet, ist der Anspruch auf Freiheit, Würde und Verantwortung (drei-mal dasselbe von verschiedenen Gesichtspunkten aus), wie ihn die unverrückbare Perspektive der Transzendenz lebendig erhält. Unter der Bedingung, wohlverstanden,

dass diese nicht ein Mittel zur Flucht wird: Im Gemeinschaftsleben kann man sich nur dadurch auf die Transzendenz hin ausrichten, dass man sich in den irdischen Gege-benheiten abmüht – durch die schwere Masse materieller Möglichkeiten hindurch, da wo Freiheit, Würde, Verantwortung konkrete und präzise Forderungen darstellen, wenn sie sich damit auch nicht erschöpfen. Die Transzendenz gibt wirklich entfernt keinen Grund dafür ab, die Gegebenheiten im Zusammenhang der sozialen Zwang-haftigkeit im Schlaf auf sich beruhen zu lassen, sondern sie stachelt im Gegenteil ein unaufhörliches Fordern an.

Es gäbe noch manches Beispiel, das die Wahrheit illustrieren könnte, wie wenig die Ideologien, die man uns anbietet, zusammenhängende Ganze sind, und wie wenig sie eine totale Zustimmung zu allen ihren Bestandteilen verlangen dürften, als die sie in den verschiedenen Gebieten in Erscheinung treten. Was wir miteinander betrachtet haben, genügt wohl, uns unsere Freiheit des Prüfens und Bestreitens zurückzuge-ben.

Die wirklichen ideologischen Fronten fallen nicht

mit den Abgrenzungen der politischen Parteien zusammen

Die politischen Parteien erheben zwar den Anspruch auf einen inneren Zusammen-hang und den Besitz einer ganzheitlichen Weltanschauung; sie sind aber dazu unfä-hig, obwohl sich in ihnen doch die verschiedenen Ideologien verkörpern sollten, um durch sie die Realität gestalten zu können; tatsächlich werden sie durch alles andere als gerade diese Ideologien innerlich gebunden und nach außen am Leben erhalten.

Alle Parteien werden eine Art Kirche. Sie stellen sich kaum noch dem Geist zur Wahl.

Die Mitgliedschaft vererbt sich vom Vater auf den Sohn und versteht sich schließlich von selbst, wenn einer der Tradition seiner Familie oder seiner Klasse treu sein will.

Die politische Farbe ist erblich wie die Religion. Da kann natürlich die Partei nicht mehr das Organ einer von einer Ideologie inspirierten Revolution sein; sie dient nur noch der Interessenvertretung eines Clans oder einer Klasse. Da erlebt man es dann, dass eine konservative Partei Staatsinterventionen und Zollschranken verlangt – oder aber die Freiheit auf dem Felde der Wirtschaft und den Freihandel fordert –, je nach den Umständen und den mutmaßlichen Folgen für die oder jene interessierte Grup-pe. Man erlebt es, wie eine sozialistische Partei unter Absingen der Internationale und zur äußeren Feier der Menschheitsverbrüderung das Beibehalten der nationalen Souveränität und des Protektionismus verlangt. Man erlebt, wie die sittlichen Werte der Fortschrittlichen dazu dienen, Gesetze durchzubringen, welche die Interessen pri-vater Gruppen schützen. Nicht zu reden von den Faschisten und ihrem Gerede von

«Volk» und «Frieden», noch von den Kommunisten, die sich über die Einmischung des Auslandes in nationale Angelegenheiten aufregen.

Es wäre sehr einfach, wenn all diese Dinge nur Lüge oder Irrtum betreffen wür-den. Dem ist aber nicht so. In Wirklichkeit wird von dem Augenblick an, in dem eine Partei eher eine soziale Schicht als eine Ideologie vertritt, jede Wahl eines freien Geistes verfälscht. Körper und Seele, die materiellen und sozialen Gegebenheiten und das geistige Leben sind in der menschlichen Wirklichkeit so unentwirrbar miteinan-der verflochten, dass es fast unmöglich ist, wenn eine Schicht, und sei es selbst zu Unrecht, eine Idee für sich in Anspruch nimmt, sich für diese oder gegen jene zu ent-scheiden, ohne teilweise die Idee oder dann diese Schicht zu verraten, und zwar schon durch die Scheidung, die man auf diese Weise vollzieht. Gewissenskonflikte, wie sie

Es wäre sehr einfach, wenn all diese Dinge nur Lüge oder Irrtum betreffen wür-den. Dem ist aber nicht so. In Wirklichkeit wird von dem Augenblick an, in dem eine Partei eher eine soziale Schicht als eine Ideologie vertritt, jede Wahl eines freien Geistes verfälscht. Körper und Seele, die materiellen und sozialen Gegebenheiten und das geistige Leben sind in der menschlichen Wirklichkeit so unentwirrbar miteinan-der verflochten, dass es fast unmöglich ist, wenn eine Schicht, und sei es selbst zu Unrecht, eine Idee für sich in Anspruch nimmt, sich für diese oder gegen jene zu ent-scheiden, ohne teilweise die Idee oder dann diese Schicht zu verraten, und zwar schon durch die Scheidung, die man auf diese Weise vollzieht. Gewissenskonflikte, wie sie