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Ist die Person – wir finden unser anfängliches Problem wieder – nicht ohnmäch-tig, erdrückt von der Masse der großen Zahl? Welchen Zugriff bietet ihr denn der demokratische Staat? – Hier stellt sich unmittelbar das Problem derParteien, ihrer Legitimität, ihrer Aufgaben, ihrer Berechtigung und ihrer Grenzen.

Unerlässliche Mehrzahl der Parteien106

Etwas scheint mir von vorneherein sicher zu sein:wer sich gegen das Bestehen von Parteien oder für eine Einheitspartei ausspricht, der erklärt sich damit gegen die Demo-kratie. Nicht, dass die Parteien ideale Gebilde wären; nicht, dass sie die Demokratie auf die vollkommenste Weise ihre Rolle spielen ließen, wie wir versucht haben, sie darzustellen – im Dienst des unbedingten Wertes, auf den sie sich beruft; nein, für die Demokratie sein, heißt ganz einfach deshalb das Bestehen von Parteien bejahen, weil sie trotz aller ihrer Fehler, trotz der Entstellungen und Abweichungen, die sie für die Millionen von Staatsbürgern verursachen, welche die modernen Staaten zählen, daseinzigeMittel darstellen, ihre Verschiedenheiten, das Recht auf Propagierung ih-rer Ideen und auf ihren Beitrag an der Gestaltung der kollektiven Lebensformen zur Geltung zu bringen. Ein isoliertes Individuum kann sich kein Gehör verschaffen. Es ist also gezwungen, sich recht und schlecht mit denen zusammenzutun, die ungefähr dasselbe wollen, und mit ihnen verbunden eine Gemeinschaftsaktion zu unterneh-men. Eine Partei ist nichts anderes als eine genügend beachtliche Gruppe von Leuten, die es unternehmen, auf politischer Ebene ihren gleichen oder für eine Verbindung genügend verwandten Willensrichtungen zum Durchbruch zu verhelfen. Und umge-kehrt: Jede Gruppierung von Bürgern, die gebildet wurde, um auf politischem Boden gemeinsame Absichten zur Geltung zu bringen, muss sich wohl oder übel damit ab-finden, eine Partei zu sein, wie immer sie sich nennt. Unter einer Bedingung: sie muss eine Partei unter anderensein und bleiben. Man sollte über die Bedeutung des latei-nischen Wortes «partes» nachdenken. Der Ausdruck «Einheitspartei», dessen sich in unseren Tagen sogar überzeugte Demokraten ruhig bedienen, stellt eine Absurdität, eine contradictio in adjecto dar. «Partes» bedeutet «Rolle», und diese Bedeutung leitet sich von dem Wort ab, das «Teil» besagt. Eine Rolle in einem Theaterstück existiert

nur mit anderen zusammen; mit einer einzigen Rolle hört das Spiel auf. Wie bei der Demokratie steht und fällt die Daseinsberechtigung der Parteien mit einer grundle-genden Feststellung in Bezug auf menschliche Gemeinschaften: Die Menschen sind untereinander nicht einig. Und je mehr sie zur Autonomie des Denkens gelangen, desto weniger einig sind sie. Man könnte sagen, der Wahrheitskern, das menschlich unerreichbare Ideal des Gemeinschaftslebens offenbare seine eigentliche Vollkom-menheit, die absolute Einheit seines Anspruchs, durch die Vielfalt der gebrochenen, abgegrenzten Formen, die es in den individuellen Bewusstseinsgestalten annimmt.

Geradehier will sich die Einheit verkörpern, aber aus dem Grund eines Unendli-chen.

Demnach führt nicht die Natur der Parteien selbst zu den Spaltungen und Kon-flikten. Sie spiegeln sie, sie verkörpern sie, indem sie jede partikularistische Behaup-tung, die mit dem Anspruch auf Einzigkeit und Totalität auftritt, auf eine doppelte Relativität zurückführen, welche die des menschlichen Daseins selbst ist – die Rela-tivität in Bezug auf den Anspruch des Nächsten und die RelaRela-tivität in Bezug auf das unerreichbare Einzige. Eine Partei kann ihre Funktion nur unter der Bedingung er-füllen, dass sie nur einenTeil der öffentlichen Meinung neben anderen Tendenzen vertritt.107

Nun bedeutet, wie gesagt, «partes» «Rolle». Das heißt, dass eine Partei nicht auf den Grund der Dinge geht, und dass sie das auch nicht soll. Ihre Wirklichkeit ist funktional und nicht substantiell. Sie ist weder das Sein des Staatsbürgers, noch das Sein der Gesellschaft; sie gestattet jenem lediglich, auf diese einzuwirken.

Die Parteien rechtfertigen sich also auf dieselbe Weise wie die Demokratie. Im gleichen Maß, wie die Demokratie gerechtfertigt ist, sind sie es auch. Sie verlieren ihre Daseinsberechtigung in dem Maß, in dem die Demokratie verschwindet oder ihren Seinsgrund verliert. Sie sind ihr unerlässlich (wenn sie auch manchmal sie sogar in ihrer Existenz zu bedrohen scheinen); denn ohne Parteien verliert die Demokratie die Vielfalt, die sie nötig macht, und zugleich die Formen, die ihr das Funktionieren gestatten. Wie die Demokratie sind auch die Parteien keine idealen Gebilde; aber wie ihr ist es ihnen wesenmäßig eigentümlich, mit den Gegebenheiten des menschlichen Daseins zu rechnen, ohne dessen störende Eigenschaften zu verschleiern, und ihm Strukturen zur Verfügung zu stellen, die ihm erlauben, sein widersprüchliches Wir-ken auf dem Felde der Politik zu entfalten. Ich möchte so weit gehen, zu sagen, dass die Bejahung der Parteien eine Bejahung des Menschen darstellt, so wie er wirklich, wie er seiner Wahrheit nach ist, wie er in der Auseinandersetzung mit seinen absolu-ten Werabsolu-ten besteht, die in der sozialen Wirklichkeit inkarniert sein wollen, und in der Auseinandersetzung mit dem Willen des Nächsten, der wie er auf solche Inkarnation hin ausgerichtet ist.

Die Parteien dienen gewissermaßen als Blutgefäße im Staatskörper; sie haben einen aktiven Kreislauf zwischen dem individuellen Wollen und der Realpolitik des Staates zu ermöglichen. Um wirklich ein «Kreislauf» zu sein, muss diese Zirkulation zwischen dem personalen Subjekt und der kollektiven Objektivität in beiden Richtun-gen verlaufen. Durch die Vermittlung der Parteien soll das Individuum einen Zugriff auf die kollektive Objektivität haben, soll es dazu beitragen, dieser ihre Organe und eine Richtung zu geben; durch die Vermittlung der Parteien soll die kollektive Ob-jektivität aufhören, sich als eindeutige Tatsache, die einer naturgegebenen Tyrannis gleicht, den Subjekten aufzuerlegen. So wird sie den verschiedenen Deutungen, den einander widersprechenden Wertungen ausgesetzt; sie gewinnt dadurch immer wie-der die nötige Geschmeidigkeit, und neue zukunftsträchtige Möglichkeiten wachsen ihr zu; auf diese Weise wird sie dem menschlichen Kreislauf zurückgewonnen, in dem der Einzelne feststellt, vorstellt, urteilt und verändert.

Es besteht also keinerlei Grund, die Verschiedenheit der Parteien zu bedauern.

Das Gejammer eines großen Teiles der demokratischen Presse (meist liberaler Fär-bung) zu diesem Thema, seine ständigen (übrigens nicht immer aufrichtigen und andere Wünsche verbergenden) Appelle zur Einigkeit offenbaren nur ein abgründi-ges Unverständnis für die Natur der Parteien, der Demokratie und der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Die Menschen sind nicht für die Einstimmigkeit geschaf-fen, wenn diese auch einige ihrer zutiefst wurzelnden, primitivsten und am meisten von der Trägheit bestimmten Bedürfnisse befriedigt. Wenn die Demokraten die De-mokratie besser verstanden hatten, dann hätten sich deren Bürger weniger von den 98-prozentigen oder gar einstimmigen Ergebnissen der totalitären Plebiszite beein-drucken oder gar verführen lassen; aber allzu oft hatten sie vorher selbst die Sehn-sucht danach genährt; sie waren selbst schon im voraus verführt, ohne es zu wissen;

denn was sie an der Demokratie liebten, das war nicht die Demokratie; trotz aller Etymologie ist Demokratie, viel eher als «Herrschaft des Volkes», Achtung vor der menschlichen Vielfalt und Liebe zu ihr. Und die Parteien sind da, um Möglichkeiten zu kristallisieren – damit jeder Bürgerdie Wahl habe.

Doch diese Wahl behält nur unter zwei Bedingungen ihren Sinn: Sie muss in klaren Begriffen gestellt werden, und sie darf nicht lediglich die Stärkung der Orga-ne zum Ziel haben, die sie stellen, das heißt der Parteien. Nun befinden wir uns hier wieder in der Auseinandersetzung mit einer grundlegenden, dauernden Schwierig-keit, die dem Menschenwesen eigen ist. Ein jedes Wirkliche darf sich, soll es seine Bestimmung erfüllen, nicht mit der bloßen Erhaltung seiner eigenen Existenz begnü-gen. Und doch muss es existieren, wenn es erfüllen soll, wozu es bestimmt ist, und deshalb muss es sich um sich selbst kümmern. So will es die Zweideutigkeit, die dem inkarnierten Dasein eigentümlich ist und die der Mensch auf alles überträgt, was er

berührt, auf alles, was er hervorbringt. Sein Körper ist nicht sein Seinsgrund, aber ohne seinen Körper kann er keinem Seinsgrund mehr dienen. Die Selbsthingabe hat ihre Grenzen; werden sie überschritten, gibt man dahinsterbend alles und alle auf, und die Grenzen des Selbstmords sind ungenau. Heiligkeit ist, streng genommen, nicht möglich. «Non proprer vitam vitae perdere causas.»108 Gut – aber wo verläuft die Wasserscheide? Und es handelt sich nicht nur um Leben oder Sterben. Es geht auch um den Schlaf, die Ernährung, die Hygiene. Die vom Christentum gepriesene Armut hätte bestimmt mehr Menschen in ihren Bannkreis gezogen, wenn sie einen absoluten Verzicht bedeuten könnte. Aber der Körper ist immer noch da, und die Armut erhöht erst recht seine Wichtigkeit. Sie kann nur mittelmäßig sein.

Propaganda und Lüge109

Man könnte diese Paradoxien recht weit verfolgen. Sie bestimmen die moderne indus-trielle Revolution, in deren Verlauf der Mensch seine Gegenwart in der physischen Welt plötzlich vervielfältigt hat. Niemand weiß, ob ein solcher Körperzuwachs ihn frei macht oder versklavt.

Die Parteien gehören zum Gesellschaftskörper. Wie jeder Körper haben sie eine materielle Wirklichkeit für geistige Zwecke zuzubereiten. Sie möchten die Möglich-keiten der Freiheit vergrößern. Wie jeder Körper sind sie nicht Selbstzweck; aber sie können ihrem Zweck nicht mehr dienen, wenn sie verschwinden, und auch nicht, wenn sie schwach werden. Wie jeder Körper brauchen sie Gesundheit – hier, auf dem Boden der Politik, heißt das Macht; die Ziele selbst, denen sie sich unterordnen, wei-hen sie; sie übertragen ihnen einen geistigen Wert, sie gebieten ihnen, auszuhalten, stark zu sein, zu wachsen.

Daher kommt die ständige Versuchung, der die Parteien ausgesetzt sind und oft sieht es so aus, als sei es eine Verpflichtung –: Den Staatsbürgern die Wahl, um die es geht, nicht in möglichst klaren Begriffen vorzulegen, sondern in denen, die ihnen selbst die meisten Erfolgschancen bieten. Die vorteilhafte Verwirrung bietet sich hier um so leichter und verführerischer an, als die vonallenParteien unter gewissen ge-meinsamen Voraussetzungen aufgestellten Ziele zwangsläufig einander sehr ähnlich sein müssen und die Unterschiede scheinbar nur die Mittel betreffen. Aufrichtige politische Gegner, die einander mit offenem Geist in einer Diskussion entgegentre-ten, verstehen schließlich nicht mehr, was sie voneinander trennt, und es will ihnen scheinen, sie seien fast einig; und doch ereignet es sich beim nächsten politischen Waffengang fast unausweichlich, dass der eine für etwas kämpft und der andere da-gegen – beide mit derselben Erbitterung. Dazu kommt, dass die heutige Welt äußerst kompliziert ist. Sogar wenn man sich selbst die Probleme stellt, gelingt es oft nicht,

ei-gene Überlegungen zu Ende zu führen, deren Notwendigkeit man doch einsieht. Die

«Aber», die Rückwirkungen, die indirekten Auswirkungen der vorgeschlagenen Maß-nahmen, die unvermeidlichen und ungewollten Schuldverstrickungen vervielfachen sich und überschwemmen schließlich das aufmerksame Denken. Wie soll man un-ter solchen Voraussetzungen Propaganda machen? Und doch muss man sie machen:

Die Ziele, die höchsten Werte gebieten es; auf dem Felde des Handelns betrachtet er-weisen sich die Ähnlichkeiten mit den Zielen des Gegners als bloßer Schwindel. Auf jeden Fall muss man auf die strenge Wahrheit verzichten, die, so scheint es schließ-lich in diesem Gestrüpp, ganz einfach nicht existiert, und muss sich für die Wahl ein Gesicht zurechtmachen. Und warum sollte man sich nicht eines aussuchen, das den Leuten gefällt? Das Volk selbst muntert euch dazu auf. Es fordert einfache Ideen von euch, ein sicheres Programm, das unvermischt das doppelte Verlangen nach Tugend und Glück befriedigt. Das Volk stößt euch selbst in die Rolle des wohlwollenden auf-geklärten Despoten und wünscht, von euch verführt zu werden.

Damit verfehlen die Parteien ihre Aufgabe, und das demokratische Kräftespiel ist verfälscht. Anstatt das Organ des Volkswillens und der Volkskontrolle zu sein, verschleiern sie die Wirklichkeit. Sie hindern jedermann daran, klar zu sehen, und unterschieben den wirklichen Problemen die Probleme ihrer Rivalitäten. Diese künst-lichen Probleme wiederum werden Wirklichkeit, zeitigen ihre Folgen, mischen sich unter die andern. Wahlkampagnen bestimmen Komissionsbeschlüsse, sie verschlin-gen die Zeit der mit Geschäften überlasteten Minister. Wo ist da Wirklichkeit, wo Fiktion? Was ist Ziel und was Mittel? Niemand mehr weiß es.

So versanden die Willensimpulse der Menschen, die doch mit Hilfe der Par-teien Möglichkeiten über die bestehenden Zustände hinaus entwerfen sollten, mit diesen Parteien in der faktischen Situation. Man wird durch das Bestehende immer wieder in Staubwolken gehüllt und findet keine Zeit mehr, den Kopf darüber hin-aus strecken und den Blick so hoch erheben zu können, dass man das Ganze zu überblicken vermag. Je unentwirrbarer die Welt erscheint, desto leichter findet die Lüge in ihrZugang, desto lauter schreit diese Welt selbst geradezu danach als nach einer unerlässlichen Vereinfachung. Je zahlreicher die Lügen werden, desto unent-wirrbarer wird die Welt; selbst die Motive des Lügens, seine Ziele versinken in den Tatsachen.

Natürlich werden dann alle möglichen Theorien entwickelt. Die Wirklichkeit schießt so sehr ins Kraut, dass sie ihnen allen genügend Stoff bietet; sie ist aber aus sich selbst zu schwach, um sie zu dementieren. Hypothesen werden wirksam, bevor sie bewahrheitet sind, und sie werden zu mächtigeren Fakten als die natürlichen Gege-benheiten. So kommt die intellektualistische Geistreichelei zur Geltung, der «Essay», in dem man alles und sein Gegenteil behaupten kann.

Nun werden von allen Theorien diejenigen immer am ehesten Erfolgschancen haben, die den menschlichen Willen in ihrer Daseinsdeutung so vollkommen er-klären, dass mit ihrer Hilfe der physiologische oder biologische Determinismus auf die Gesellschaft und den Menschen schlechthin übertragen werden kann.110Was sie aufdecken, ist wahr: Trotz aller oft fanatischen Auflehnung hat sich nun eben der menschliche Wille aufgegeben. Er ist so hoffnungslos der Macht der Tatsachen un-terworfen, dass er sich in seiner Verwirrung krampfhaft an die Schlingpflanzen an-klammert, die in einem fiktiven, wiederum gerade von diesen Mächten vor seine Augen gezauberten Wald wachsen. Diese Situation beschreiben, die durch alle Ideo-logien hindurch wirksame Herrschaft der nackten Macht feststellen, das bedeutet ebenso, etwas Wahres sagen, das Bedürfnis nach Verstehen der Realität befriedigen, wie es bedeutet, dem sich selbst aufgebenden Willen seine Unschuld bestätigen. Es bedeutet noch mehr: Ihn zur bedingungslosen Selbstaufgabe für immer ermuntern.

Und alle leidenschaftlich festgehaltenen Fiktionen der Spiritualisten, die nunmehr durch die deterministische Deutung aller ihrer Substanz entleert sind, werden den Determinismus Schlag auf Schlag bestätigen. Wenn es auch wirklich stimmt, dass die Fiktionen und Lügen in der sozialen Wirklichkeit leibhafte Gestalt annehmen und darin zu Realfaktoren werden, so bleiben doch die ideologisch unverbrämten, nackten tatsächlichen Situationsgegebenheiten (Machtverhältnisse, demographische Entwicklung, Konsumbedürfnisse, Arbeitsmarkt, Verteilung der Kapitalien, Lebens-standard der Lohnempfänger usw.) nicht weniger bestehen. Ja, man darf sagen, die rohe Kraft dieser anderen Gegebenheiten wirke nur um so stärker, je mehr sich der Wirrwarr der Propaganda auf der lärmerfüllten Bühne ausbreitet. Es ereignet sich auf der Stufe der Politik, was im individuellen Leben oft genug vorkommt: Je mehr sich Wille und Verstand auf einen Kult des Geistes versteifen und dem physischen Dasein den Rücken zuwenden, desto mehr wird der Körper zum bloßen Körper: Er wird entgeistigt und unterliegt der tyrannischen, dunklen Macht der Naturgegeben-heiten. Ebenso lässt in der Wahlstrategie der Kampf mit Versprechungen, Verdrehun-gen und LüVerdrehun-gen die wirklichen wirtschaftlichen Probleme der Gesellschaft so weit in den Hintergrund treten, bis sie völlig unsichtbar werden; dann entziehen sich die-se Wirtschaftsfaktoren dem Eingriff und der Kontrolle des menschlichen Willens und verfallen dem Determiniertsein. Wohlverstanden ist dies nicht nur das Resul-tat der Propaganda von konservativen Spiritualisten; dahin führt auch, und auf noch viel erschreckendere Weise, die Haltung der Leute, die überall und immer zunächst einmal nach der Wirkung von Wirtschaftsfaktoren suchen. Das Gerede vom Primat der Wirtschaft, von Wirtschaftsgesetzen, vom sozialen Substrat, von der konkreten Wirklichkeit besagt ebensowenig über die Klarsicht und den echten Aktionswillen gewisser Parteien gerade auf diesem Gebiet, wie der laut verkündete «Primat des

Geis-tes» die geistige Stärke der andern beweist. Die Möglichkeiten, sich in bloße Worte zu flüchten, sind zahllos. Sein Misstrauen der Theorie gegenüber und seine Vorlie-be für die Tat proklamieren heißt immer noch theoretisieren. Seit einiger Zeit will alle Welt «konkret» sein: Man übersieht dabei, dass «das Konkrete» eine abstrak-te Kaabstrak-tegorie ist. Es ist sehr bequem, unabstrak-ter Berufung auf die «konkreabstrak-te individuelle Situation» die «abstrakten» Probleme zu übersehen, die sich durch die Beziehgen zwischen Lebenshaltungsindex und Löhnen stellen; ebenso bequem ist es, un-ter Berufung auf «die großen Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklungen, die das konkrete Dasein der Menschen bestimmen», das «abstrakte» Recht verächtlich zu machen, seinen Arbeitgeber zu wechseln oder öffentlich eine Meinung zu vertre-ten.

Wie man sieht, besteht in der Demokratie, und ganz besonders im Kräftespiel des Parteienlebens, das unbedingt dazugehört, ein Risiko und nicht nur ein Risi-ko: die ständig wirksame Tendenz –, circulus vitiosus,111 verhängnisvolle Zirkel im logischen wie im funktionellen Sinn des Wortes aufzulösen. Gerade weil das demo-kratische Regime und das Kräftespiel der Parteien ohne Lüge das Wesen des Men-schen in Rechnung stellen, dieses ungesicherten Geschöpfes, das mit seinen Bindun-gen nur innerhalb des Wirklichen, das ihn gefanBindun-gen hält, und mittels dieses Wirk-lichen frei sein kann; das sich auf das Eine ausrichtet und doch verhängt bleibt in die Vielfalt und das Dasein mit Seinesgleichen, von denen es sich um ihretwillen, und in gewissem Sinnauf sie zu, losreißt genau deshalb haben diese Institutionen an der Hinfälligkeit eben des Menschen teil; sie werden wie er vom Ärgsten bedroht, gerade wenn sie am kräftigsten auf das Beste zusteuern. Sie wollen die Wahrheit und stehen im falschen Blütenschmuck von Propagandalügen; sie wollen die Frei-heit der Person hochhalten und reduzieren schließlich den Menschen auf den Wäh-ler: Den Wähler, ein Ding, das es zu erobern gilt freilich um seines eigenen Wohles willen; sie sind entschlossen, die Regierenden unter Kontrolle zu halten und wirk-sam in die faktischen, durch die geschichtliche Situation auferlegten Gegebenheiten einzugreifen – und sie lassen ein Gestrüpp von ideologischen Fiktionen wuchern, das die wirklichen Probleme überdeckt und verfälscht und es den Bürgern verun-möglicht, an die Wirklichkeit heranzukommen. Darunter fließt der Strom der tat-sächlichen geschichtlichen Faktoren, die unerbittlich ihre Wirkung tun; der Deter-minismus entreißt der Freiheit Boden dank ihrer eigenen Geschwätzigkeit; und die Lehren, die ihn entlarven, stärken ihn, indem sie die Menschen zur Abdankung er-mutigen.

Trotzdem, wenn es auch so aussieht, als ob das Bestehen einander bekämpfen-der Parteien nur verhängnisvolle Folgen habe, kann das Heil doch nicht in ihrer Auflösung oder in der – so falsch benannten «Einheitspartei» beruhen. Man rettet