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Lebendiger oder toter Marxismus132

Wir lassen hier Marx und seine Lehre absichtlich beiseite. Es ist Sache der Philoso-phiehistoriker, festzustellen, welches sein Beitrag an das westliche Denken gewesen ist. Es steht den Philosophen zu, die aus ihrer Einsamkeit heraus über Jahre, Jahrhun-derte und Jahrtausende ihr Gespräch untereinander pflegen, in diesem Austausch seine Stimme und seine Gegenwärtigkeit zur Geltung zu bringen, auf sie zu horchen und sie zu prüfen. Für die vorliegende Arbeit interessiert uns, wie gesagt, nur jener Marxismus, der gegenwärtig ist im Bewusstsein von Menschen, die sich von ihm an-regen lassen wollen, um auf die sozialen Gegebenheiten einwirken zu können; nicht der Marxismus dieses bekannten Professors oder jenes berühmten Interpreten, nicht einmal dieses oder jenes Arbeitsführers, sondern der «Marxismus» der durchschnitt-lichen Parteimitglieder oder Anhänger, der fast zum Merkmal und zur unerlässdurchschnitt-lichen Bedingung jeder Treue zur Sache der Arbeiterschaft geworden ist. Was besagt dieses Wort, dessen angebliche Unantastbarkeit schon eine Schwäche vermuten lässt? Lebt sein Gehalt noch im Bewusstsein oder ist er erstorben?

Eins scheint mir von vorneherein klar: Der philosophische Marxismus, wie er unter den Massen verbreitet ist, hat nie in einem System von klaren Ideen bestan-den, sondern eine Art recht unbestimmterAtmosphäregebildet und eine Reihe von

«Themen» in dem Sinn des Wortes geliefert, den man in der Musik verwendet. Die Unerbittlichkeit, womit der Marxismus die Mechanismen der kapitalistischen Wirt-schaft und des Klassenkampfes analysiert, ließ an die unerbittliche Strenge seines Denkens überhaupt glauben – so sehr, dass das Wort «Marxismus» schließlich sogar gleichbedeutend mit intellektueller Strenge auf allen Gebieten wurde.

Die Atmosphäre des Marxismus war diejenige des Positivismus: Vorliebe für die Tatsachen und deren Herrschaft; hohes Ansehen der «Wirklichkeit», von der man annahm, sie sei bekannt oder doch restlos erkennbar; der Triumph im Gefühl, von den Märchen, dem Zwang der Religion befreit, kein Narr mehr zu sein, erwachsen zu werden. Soviel ich sehe, hatte der Marxismus drei Hauptthemen:das Erlangen geschichtlichen Bewusstseins, die vordringliche Bedeutung der Wirtschaftsfaktoren, den dialektischen Determinismus.

Das Erlangen geschichtlichen Bewusstseins

Der Marxismus hat eine entscheidende Rolle bei der Vertiefung und Ausbreitung des geschichtlichen Sinnsunter den Menschen von heute gespielt. Auch hier versuchen wir nicht, abzuklären, in welchem Ausmaß die Marxschen Schriften in dieser Ent-wicklung treibende Kräfte oder bloße Symptome gewesen sind. Sicher ist, dass der Marxismus einer der Wege gewesen ist, auf denen der Mensch sich dessen bewusst geworden ist, in der Geschichte zu sein, eine der Sprachen, in denen er seitdem die-ses bewusstwerden zum Ausdruck gebracht hat. Mit geschichtlichem Sinn ist hier nicht der Sinn gemeint, wodurch der Historiker die Vergangenheit zu erfassen und wieder aufleben zu lassen, wodurch jeder Mensch auch seine Gegenwart als einen ge-schichtlichen Augenblick zu erleben vermag. Diese seine Gegenwart wird nun von einem allgemeinen Fluss fortgerissen, und sie hat ihren Sinn weder in sich selbst noch in der Ewigkeit, sondern eben in der Geschichte. Das bewusstwerden, das sich so vollzog, ist ein Ereignis von erstrangiger Bedeutung, dessen Folgen unabsehbar sind.

Zunächst verliert die Gegenwart ihr Gewicht. Ihre überwältigende Macht ist ihr genommen. Die Zukunft hebt die Verzweiflung auf. Die ontologische Dichte nimmt ab, dasSeinwird anämisch, überall wird es von der Zeitlichkeit aufgelöst. Es räumt demTunseinen Platz. Lassen wir hier das Problem Schicksal-Freiheit beiseite: Die Massen haben es nicht erlebt. Dagegen haben die Massen dieses weite Aufreißen der Türen zum Möglichen wahrgenommen, sie haben diesen Ruf zur Tat vernommen.

Die Zeit, die so lange als ein vernichtendes Ungeheuer erlebt wurde, das seine ei-genen Kinder frisst, das Schönheit, Leben, Liebe wegwischt, diese Zeit wurde zum Raum, der sich vor der Aktion auf tut, wurde die herrlich zu atmende Luft der Hoff-nung. Durch einen nur scheinbaren Widerspruch hat hier der Positivismus tatsäch-lich von der Tatsächtatsäch-lichkeit befreit: Tatsache wird nunmehr, was sich wird ändern lassen.

Doch nicht nur das Gegenwärtige verliert sein Gewicht, auch das Ewige. Das Ewige fällt in die Geschichte, es treibt mit allem Übrigen in diesem Fluss. Alle Werte, alle Ideen, alle Wesen, alle Götter, womit die Menschen die Ewigkeit zu bevölkern ver-mochten, erscheinen als historisch, als Früchte eines Augenblicks der Geschichte, als Triebkräfte eines anderen Moments; alle Werte, selbst die logischen und schließlich auch die Wahrheit. Über nichts kann seither mehr abgeurteilt werden. Man kann nur noch Standorte feststellen, Standorte in der Geschichte. Allein die Geschichte bleibt als rechtfertigende Instanz. Aber weshalb rechtfertigt sie, in wessen Namen? Weil sie Geschichte ist. Nicht weil sie ewig ist, sondern weil sie sich verändert.

Philosophen und Politiker sind auf diesen Wegen bis zu schwindelerregenden Folgerungen gegangen, neben denen die klassischen Sophismen reine Kinderspiele sind. Und das ist noch nicht zu Ende.

Vordringliche Bedeutung der Wirtschaftsfaktoren

Wir wollen hier die Frage beiseite lassen, ob nach der marxistischen Lehre wirklich die wirtschaftlichen dieeinzig determinierenden Faktorensind, wodurch die andern, die politischen und geistigen, zu bloßen Epiphänomenen würden. Es ist mir nie ge-lungen, von einem Marxisten in diesem Punkt eine klare, unzweideutige Antwort, oder vielmehr eine unverrückbare, endgültige Antwort zu erhalten: Meine Gesprächs-partner springen unaufhörlich von einer Einstellung zur entgegengesetzten – und die Texte tun das leider auch. Doch für unsere gegenwärtige Skizze ist die Zweideutig-keit wichtig. Der Marxismus wurde eben in dieser Hinsicht völlig zweideutig in den Massen propagiert, und deshalb müssen wir diese Zweideutigkeit mit allen ihren Aus-wirkungen erfassen.

Zunächst stieß der Marxismus, indem er die quasi determinierende Kausalität der Wirtschaftsfaktoren aufdeckte, die liberal konservative Rechtfertigung des kapi-talistischen Systems und seiner Privilegien um. Auf einmal waren diese nicht mehr die legitime Belohnung für das Verdienst; die gesellschaftliche Hierarchie verlor ihr ethisches Fundament, weil ja die Werte nach der bürgerlichen Ordnung und nicht diese Ordnung nach den Werten eingesetzt worden waren.

Die Werte ihrerseits, die an eine Klassenherrschaft gebunden waren, fielen zu-gleich mit der Erschütterung und dann mit dem Sturz dieser Herrschaft dahin. Die dialektische Bewegung der Geschichte räumte sie fort. Daraufhin konnte man sie durch andere ersetzen; insbesondere traten an die Stelle der Werte, deren Schwer-punkt in der Ordnung und in der Harmonie lag, diejenigen der Gerechtigkeit und des Umsturzes.

Streng genommen in dem Maß, in dem die Wirtschaftsfaktoren determinierend waren, waren diese neuen Werte auch keine eigentlichen Werte. Sie waren, als Epi-phänomene, nur Abbilder einer neuen Sozialstruktur oder genauer: Des Ersetzens einer vorherrschenden Klasse durch eine andere. Doch wurde in den Auseinander-setzungen doktrinären Charakters diese Konsequenz immer wieder im Strudel der Dialektik ersäuft. Diese Dialektik, die alle Wirklichkeiten der Geschichte aneinan-derheftet, lässt es zu, dass man bald eine Phase als unbeweglich festnagelt, bald im Gegenteil nur die ständige Bewegung im Auge behält. Der populäre Marxismus sei-nerseits wird nie diese unmenschliche Konsequenz ziehen, die ebenso der Aktion zuwiderläuft wie dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Dem Volk, das die

Werte aufnahm, die man ihm als die seinen bezeichnet hatte, erschienen sie dann auch als absolut am moralischen Himmel.

Die Vordringlichkeit der Wirtschaftsfaktoren bedeutete für das Proletariat üb-rigens eine Entschuldigung und zugleich einen Grund mehr, um zu fordern, dass es gerecht zugehe auf dieser Welt. Wenn ihm auf dem Gebiet geistiger Verdienste etwas abging, dann war daran nunmehr die Wirtschaftsordnung schuld. Wenn es wahr ist, dass das geistige Wesen sozusagen völlig, mit allen seinen Fähigkeiten, sei-nen Bedürfnissen, seinem Glauben, seisei-nen Bindungen sich unter dem bestimmenden Einfluss der wirtschaftlichen Bedingungen bildet, dann fühlt sich der Ausgebeutete durch ein ungerechtes Regime nicht mehr bloß um ein «Haben», sondern um sein Seinselbst betrogen; mit seiner revolutionären Anstrengung fordert er also sein Sein.

Der dialektische Zirkel stellt sich vollkommen wieder her: Da das Geistige nur ei-ne Art Epiphänomen des Wirtschaftlichen ist, werden ausreichender Lohn, bessere Nahrung und Wohnung, die materielle Sicherung, die Freiheit ebensoviele geistige Forderungen, weil sie eben Voraussetzungen für jedes Leben des Geistes sind.

Der marxistische Materialismus, wie er im Volk verbreitet ist, ist kein Materia-lismus in Bezug auf die Ziele, sondern nur in Bezug auf die Mittel.

Der dialektische Determinismus

Dank der magischen Formel des «dialektischen Determinismus» hat der Marxismus den Anspruch erhoben, den Schlüssel zur Universalgeschichte zu besitzen. Die Be-ziehung Herr und Sklave,133Besitzender und Ausbeutungsobjekt wurde bis zu einem Grade verallgemeinert, dass sich daraus eine Methode der Erklärung nicht nur für so-ziale Tatbestände, nicht nur für alle historischen Ereignisse, sondern für alles Denken, für alles Glauben, für alle wissenschaftlichen Errungenschaften und künstlerischen Schöpfungen der Menschheit ergab. Ein solcher Anspruch hat zahllose und weitrei-chende Folgen. Zunächst würde die Tatsache, dass einer den Schlüssel zur Universal-geschichte besäße, bedeuten, dass Wissenschaft und Aktion zusammenfallen; deren gemeinsamer Grundbegriff wäre fernerhin eben die Geschichte, in die demnach die Aktion mit fragloser Sicherheit eingreifen würde. Das heißt die Geschichte für sich haben. Wenigstens hat der Marxismus es nicht für möglich gehalten, dass man auch gegeneinen geschichtlichen Ablauf, dessen Stadien man im voraus kennt, Stellung nehmen könnte. Nach ihm widersetzen sich der Geschichte – übrigens immer um-sonst – nur diejenigen, die durch ihre Situation in der wirtschaftlichen Ordnung oder Unordnung blind geworden sind und sich deshalb weigern, sich der Evidenz zu fügen. Opposition wird hier ebenso absurd wie beispielsweise in der Mathematik.

Wenn einer am Schluss einer korrekten Beweisführung zu einem Theorem erklärt, er

sei nicht einverstanden, dann kann das nur bedeuten, dass er nichts verstanden hat.

Wenn einer sagt: «Ich habe verstanden», bedeutet das: «Ich bin einverstanden». Es gibt Gründe genug, warum die marxistischen Philosophen Spinoza, für den Intellekt und Wille zusammenfallen, haben annektieren wollen.134

Sobald man das Schema der Universalgeschichte kennt, legt sich dieses dem Wil-len auf – in Freiheit oder mit Zwang. Doch findet sich im Marxismus diese positive Rechtfertigung mittels strenger Wissenschaftlichkeit verdoppelt durch eine andere, die sich auf die Gerechtigkeit beruft. Die Geschichte nähert sich in ihrem Ablauf der Gerechtigkeit – gemäß der Notwendigkeit. Der materialistische Determinismus fällt zusammen – ist das nun Dialektik oder ein Wunder? mit der Verkörperung eines geistigen Wertes.

So ist die politische Aktion doppelt begründet: Zugleich auf einer faktischen Notwendigkeit und auf einer sittlichen Rechtfertigung, und sie weist nunmehr alle Merkmale einer Technik auf. Der wirklich politische Mensch kann sich weder irren, noch kann er Unrecht haben. Die Meinungsverschiedenheit hat keinen Sinn mehr.

Wir befinden uns an der Schwelle der Epoche, die gewisse Leute aus Optimismus oder Nachgiebigkeit «das Zeitalter der epischen Menschheit» genannt haben.

Eine solche Auffassung muss sich allen aufdrängen: Wenn sie auf Gegner stößt, dann sind deren «Irrtümer» sofort erklärt, lokalisiert, dem System einverleibt, von ihm wieder absorbiert; schließlich bestätigen sie es nur. Es wird völlig überflüssig, zu untersuchen, was an den Gedanken eines andern noch gültig sein könnte. Da bleibt nichts übrig als Wiedererziehung oder Züchtigung: Konzentrationslager oder Tod.

Beides tendiert dahin, ineinander überzugehen.

Was ist von diesem Marxismus heute noch wirklich im Bewusstsein der Sozialisten lebendig?

Zunächst ein gefühlsbeladener Götzendienst mit dem Wort «Marxismus», das für manche gleichbedeutend ist mit «Treue zur Arbeiterklasse». Dieser Fetischismus wird um so kräftiger betrieben, je unbestimmter und wirkungsloser der Gehalt des Wortes wird. Nur eine entschiedene, gründliche Erneuerung kann dem sozialisti-schen Denken wieder genügend Selbstsicherheit verschaffen und ihm seine echte Treue zurückgewinnen, so dass es sich auf neue Wege einlassen kann.

Sodann: Das historische bewusstwerden vertieft sich unaufhörlich, nicht allein bei Sozialisten und Kommunisten, sondern bei allen unseren Zeitgenossen. Es han-delt sich da um eine grundlegende Veränderung, die sich sogar in der Art und Weise vollzieht, in der die Menschen ihre Stellung im All auffassen, und noch niemand kann voraussehen, wohin das führen wird. Einige Bemerkungen dazu können aber schon gemacht werden. Zuerst und vor allem: Das Volk als Ganzes hat in der