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2.1 Katholiken und Wahlbeteiligung

2.1.2 Theoretische Überlegung zur Wahlbeteiligung von Katholiken 7

Die US-amerikanische Forschung sprach zum Zusammenhang zwischen Religion und Partizipation lange Zeit eine eindeutige Sprache: Protestanten haben grundsätzlich eine höhere Partizipationswahrscheinlichkeit als Katholiken (z. B. Lam 2002; Verba et al. 1995). Dieser Befund geht zurück auf Verba et al. (1995: 245, 320ff.), welche dies mit den flacheren Hierarchien, den kleineren Gemeinden und der stärkeren Einbin-dung von Laien innerhalb der protestantischen Kirchen begründen. Diese Strukturen tragen demzufolge zur Entwicklung sogenannter Civic Skills bei, welche beispiels-weise durch die Mitarbeit in Gremien oder die Übernahme von Ämtern erworben werden. In zweierlei Hinsicht ist jedoch zweifelhaft, ob ein solcher partizipatorische

Vorteil des Protestantismus derart uneingeschränkt gilt.

Erstens legen verschiedene Studien eine Einschränkung des Arguments von Verba et al. (1995) nahe. So zeigen beispielsweise neuere Forschungsergebnisse für die USA, dass der Protestantismus nicht auf alle Gruppen der Gesellschaft und auf alle Arten der gesellschaftlichen Teilhabe eine partizipationsfördernde Wirkung ausübt (vgl.

DeSipio 2007; Jones-Correa und Leal 2001; Leal 2010; Lee et al. 2002). Entgegen der These von Verba et al. (1995) finden einige Autoren sogar Hinweise darauf, dass der Katholizismus für die lateinamerikanischen Einwanderer in den USA zu einer Steige-rung der Partizipation führt: DeSipio (2007: 173) kommt in seinem Beitrag zu dem Schluss, dass katholische Lateinamerikaner eine um 30 Prozent erhöhte Wahrschein-lichkeit haben, zur Wahl zu gehen, verglichen mit Lateinamerikanern einer anderen Konfession. Jones-Correa und Leal (2001) finden eine höhere Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an Kongresswahlen für katholische Lateinamerikaner im Vergleich zu La-teinamerikanern ohne oder mit anderer Konfession. Außerdem können Wald et al.

(1993: 129ff.) zwar unter evangelikalen Protestanten eine erhöhte Wahlbeteiligung feststellen, nicht jedoch unter den Mainline Protestants. Dieser Befund deutet dar-auf hin, dass es angesichts der pluralistischen Struktur des religiösen ‘Marktplatzes’

in den USA zwischen verschiedenen Ausrichtungen des Protestantismus zu differen-zieren gilt (vgl. Cortiel et al. 2011; Joffe 2009; Kohut et al. 2000; Leege 1993; Wolfe 2010). Den genannten Arbeiten zufolge scheint der Protestantismus nicht auf alle gesellschaftlichen Gruppen partizipationsfördernd zu wirken und es scheinen auch nicht alle Strömungen des Protestantismus diese Wirkung zu entfalten.

Zweitens ist unklar, wie groß die Bedeutung der laut Verba et al. (1995) durch den Protestantismus geförderten Civic Skills für die Beteiligung an Wahlen überhaupt ist. Schließlich gilt die Teilnahme an Wahlen im Vergleich zum Engagement in Par-teien oder Organisationen gemeinhin als eine niederschwellige, mit geringen Kosten und geringem Aufwand verbundene Partizipationsform (Whiteley und Seyd 2002:

41). Verba und Kollegen (1995: 358f.) zeigen durch ihre empirische Analyse selbst, dassCivic Skills auf die Teilnahme an Wahlen keinen Effekt haben. Hingegen sollten für eine niederschwellige Partizipationsform die persönliche Ansprache und politi-sche Stimuli von größerer Bedeutung sein. Hinsichtlich der Rekrutierung politisch

Aktiver und dem politischen Stimulus, der von der Kirchengemeinde ausgeht, be-merken Verba et al. (1995: 377ff.), dass kein Unterschied zwischen den Konfessionen zu erwarten und empirisch festzustellen ist. Dies sind wichtige Befunde, die häufig von der These der partizipationsfördernden Wirkung des Protestantismus überdeckt werden.

Aus den bisherigen Einschränkungen zum partizipatorischen Vorteil von Protestan-ten lassen sich kaum Argumente für eine höhere Wahlbeteiligung von Katholiken ableiten. Hierfür ist eine genauere Betrachtung der Strukturen des Katholizismus notwendig. Im Vergleich zur evangelischen zeichnet sich die katholische Kirche durch eine eher kollektivistische und weniger individuelle Prägung aus. Dies führt zu einer stärkeren Integration und Gemeinschaftsorientierung und könnte durch mehr Gele-genheiten zur direkten Ansprache eine höhere Partizipationsbereitschaft zur Folge haben (vgl. Offe und Fuchs 2001: 445; Freitag 2010).

Weiterhin sollte gerade der traditionalistische Charakter der katholischen Kirche zu einer stärkeren Verankerung des Wählens als Partizipationsform bei Katholiken füh-ren. Die Teilnahme an Wahlen ist im Vergleich zu neueren und unkonventionellen Formen der politischen Partizipation, wie beispielsweise dem Boykott von Waren oder der Unterzeichnung einer Petition, als traditionell und konventionell einzustu-fen (vgl. Freitag 2010: 436). Bühlmann (2006: 92ff.) kommt für die Schweiz zu dem Ergebnis, dass Katholiken eine geringere Wahrscheinlichkeit haben, Leserbriefe zu schreiben. Das Schreiben von Leserbriefen wird zu den unkonventionellen Formen der politischen Partizipation gezählt. Er kann jedoch für Katholiken keine erhöhte Wahlwahrscheinlichkeit feststellen. Auf Aggregatebene ist hingegen ein positiver Ef-fekt des Katholizismus auf die Wahlbeteiligung in der Schweiz zu verzeichnen (vgl.

Bühlmann und Freitag 2006; Freitag 2005, 2010).

Neben Traditionalismus und Kollektivismus gilt letztlich Hierarchie als ein zentra-les Element des Katholizismus. Hierarchische Strukturen sollten die Verankerung sozialer Normen fördern. Als derartige Norm könnte die aus der engen Verbindung zwischen CDU und CSU und den Katholiken in Deutschland entstandene Wahlnorm für die Unionsparteien gewertet werden. Worauf diese Wahlnorm basiert und

inwie-fern sie eine Partizipationsnorm impliziert, wird im nächsten Abschnitt ausführlich diskutiert.

Um die enge Bindung von Katholiken an konservative Parteien zu ergründen, ist ein Rückgriff auf das Werk Party Systems and Voter Alignments. Cross National Perspectives von Lipset und Rokkan (1967) notwendig. Sie beschreiben darin die Bedeutung gesellschaftlicher Konfliktlinien - sogenannterCleavages- für die Heraus-bildung der westeuropäischen Parteiensysteme. Das deutsche Parteiensystem war in seiner Entstehung besonders durch die religiös-konfessionelle und die sozioökonomi-sche Konfliktlinie geprägt (vgl. Arzheimer und Schoen 2007; Rattinger 2009; Schoen 2009; Weßels 2000). Über die Formierung der Parteienlandschaft hinaus führten die-se Konfliktlinien zu einer stabilen Bindung bestimmter gedie-sellschaftlicher Gruppen an einzelne Parteien. Dieser Umstand wird in der Wahlforschung unter dem Stichwort

‘Makrosoziologisches Modells des Wählens’ diskutiert. Für die vorliegende Arbeit ist die religiös-konfessionelle Konfliktlinie von besonderer Bedeutung.

Die Wurzeln dieser Konfliktlinie liegen in Deutschland im sogenanntenKulturkampf zwischen der katholischen Kirche und dem Staat Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Auseinandersetzung um Macht und Vormachtstellung, vor allem im Bildungsbereich, führte zu einem stärkeren Zusammenhalt innerhalb des katholischen Milieus und zu einer engen Bindung an die Zentrumspartei. Nach Ende des Zweiten Weltkrie-ges konnten die Unionsparteien als christlich-konservative Parteien die Katholiken in Deutschland an sich binden (Rattinger 2009: 77ff.; Weßels 2000: 132). Religion und Konfession spielen in der Union nach wie vor eine entscheidende Rolle, wie der Gottesbezug im ersten Satz des aktuellen Grundsatzprogramms der CDU, der Rück-bezug politischer Entscheidungen auf christliche Wertvorstellungen oder die derzei-tige innerparteiliche Debatte um den konfessionellen Proporz im CDU-Präsidium verdeutlichen.4 Hinsichtlich der Bedeutung der religiös-konfessionellen

Konfliktli-4Das aktuelle Grundsatzprogramm der CDU ist unter folgendem Link abrufbar: http://www.

grundsatzprogramm.cdu.de/doc/071203-beschluss-grundsatzprogramm-6-navigierbar.

pdf (26.08.2012). Zur Rolle christlicher Werte für die

Poli-tik der Union siehe beispielweise ein Interview mit dem

CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe: http://www.sueddeutsche.de/politik/

cdu-generalsekretaer-groehe-homo-ehe-gleichstellen-ist-eine-symboldebatte-1.

1449129 (26.08.2012). Folgender Kommentar befasst sich mit der Debatte um

kon-nie für das Wahlverhalten wird häufig argumentiert, dass gegenwärtig weniger die Konfession, sondern religiöses Verhalten relevant sei. Dies bedeutet, dass die ’neue’

Konfliktlinie nicht zwischen Katholiken und Protestanten, sondern zwischen Gläu-bigen und Nicht-GläuGläu-bigen verläuft (vgl. Dülmer und Ohr 2008; Elff 2007; Pappi und Shikano 2002; Weßels 2000; Wolf 1996). Wie jedoch zahlreiche Studien zeigen, hat auch die ’alte’ konfessionelle Konfliktlinie Bestand (vgl. Arzheimer und Schoen 2007; Brooks et al. 2004; Debus 2010; Elff und Rossteutscher 2011; Jagodzinski und Quandt 2000; Jung et al. 2010; Klein und Pötschke 2000; Lachat 2007; Minkenberg 2010; Raymond 2011; Schoen 2009; van der Brug et al. 2009; Weßels 2011): Katholi-ken wählen demnach immer noch häufiger die Unionsparteien als Angehörige anderer Religionsgemeinschaften oder Konfessionslose. Für Katholiken stellt die Wahl von CDU und CSU nach wie vor die Repräsentation christlicher Werte im politischen Raum sicher. Diese enge Bindung von Katholiken an konservative Parteien lässt sich als Wahlnorm interpretieren. Für die hier untersuchte politische Partizipation von Katholiken ist diese Wahlnorm wiederum von besonderer Relevanz, da sie automa-tisch eine Partizipationsnorm beinhaltet (vgl. Bühlmann 2006: 119; Bühlmann und Freitag 2006; Freitag 2010: 435; Rattinger 2009: 235). Nur wer zur Wahl geht, kann der Wahlnorm folgen, indem er seine Stimme an eine konservative Partei vergibt. So-mit kann die Erfüllung der Wahlnorm als Anreiz oder Motivation zur Partizipation interpretiert werden.

Zusammenfassend sprechen zum einen strukturelle Elemente des Katholizismus, wie Traditionalismus, Kollektivismus und Hierarchie für eine höhere Wahlbeteiligung unter Katholiken verglichen mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften und Konfessionslosen. Zum anderen besteht in Deutschland in Folge der Prägung des Parteienwettbewerbs durch die religiös-konfessionelle Konfliktlinie eine enge Bin-dung von Katholiken an die Unionsparteien. Die sich daraus ergebende Wahlnorm impliziert eine Partizipationsnorm. Somit lässt sich aus den dargelegten Argumen-ten folgende Hypothese ableiArgumen-ten:

Hypothese 1a: Angehörige der römisch-katholischen Kirche haben bei

Bundestags-fessionellen Proporz im CDU-Präsidium nach dem Ausscheiden von Annette Schavan:

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kommentar/1844781/(26.08.2012)

wahlen in Deutschland eine höhere Wahrscheinlichkeit, zu wählen, als Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und Konfessionslose.

Bezug nehmend auf die anfangs getroffene Unterscheidung der drei Dimensionen von Religion wurde bisher nur die erste Dimension, die Zugehörigkeit zu einer Reli-gionsgemeinschaft, betrachtet. Die zweite Dimension, die Ausübung religiöser Prak-tiken, spielt aber gerade im Katholizismus eine bedeutende Rolle. Vor allem ein regelmäßiger Kirchgang gehört zu den zentralen Verhaltensnormen innerhalb der kollektivistisch geprägten katholischen Kirche (Freitag 2010: 436; Wald und Smidt 1993: 30ff.). Regelmäßiger Kirchgang führt zu einer stärkeren Einbindung in sozia-le Netzwerke. Traunmülsozia-ler (2009) zeigt für Deutschland, dass sich der regelmäßige Gottesdienstbesuch positiv auf die Anzahl der Freunde auswirkt. Durch die Einbin-dung in Netzwerke wird wiederum die gegenseitige Beeinflussung und eine stärkere Internalisierung von Gruppennormen, wie beispielsweise der Wahlnorm gegenüber konservativen Parteien, begünstigt (vgl. Kohut et al. 2000: 13; Leege 1993: 4; Wald et al. 1993: 128; Whiteley und Seyd 2002: 45). Daher ist es wahrscheinlich, dass Kirch-gänger im Vergleich zu bloßen Mitgliedern der katholischen Kirche bereits durch ihren engen sozialen Kontext beeinflusst werden. Außerdem gelten die katholischen Kirchgänger nach wie vor als die Kerngruppe der religiös-konfessionellen Konfliktli-nie und damit als die Stammklientel der Union (vgl. Pappi und Brandenburg 2010).

Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Wahlentscheidung für die Uni-onsparteien unter Kirchgängern in Deutschland tatsächlich noch höher liegt als bei einer bloßen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche (Arzheimer und Schoen 2007:

103; Jagodzinski und Quandt 2000:169ff.; Jung et al. 2010: 45; Lachat 2007: 83f.).

Folglich kann für den regelmäßigen Kirchgang bei Katholiken mit Blick auf die Teilnahme an Wahlen folgende Hypothese formuliert werden:

Hypothese 1b: Regelmäßiger Kirchgang hat bei Katholiken einen positiven Effekt auf die individuelle Wahlbeteiligung. Der Effekt ist größer als der Einfluss der bloßen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche.

2.2 Der Effekt der konfessionellen Zusammensetzung des Kontextes auf die Wahlbeteiligung bei

Katholiken