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2.1 Katholiken und Wahlbeteiligung

2.2.3 Die funktionale Form des Kontexteffektes

Wie in Hypothese 2 wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung häufig die Annah-me getroffen, dass soziale Prozesse, wie beispielsweise auch politische Partizipation, linear verlaufen. Dies ist jedoch meist nur eine Vereinfachung der Realität, welche sich als weitaus komplexer darstellt. Taagepera (2008: 74f., 82) weist ausdrücklich darauf hin, dass sich die Sozialwissenschaften viel stärker der funktionalen Form von Effekten zuwenden sollten, anstatt lediglich die Richtung zu erforschen. Studien, welche nicht-lineare Effekte berücksichtigen, zeigen diese Notwendigkeit eindrück-lich. So berichten zum Beispiel Gimpel und Schuknecht (2003) in ihrem Artikel zu geographischen Effekten auf die Wahlbeteiligung einen nicht-linearen Zusammen-hang zwischen der Entfernung zum Wahlort und der Wahlbeteiligung. Hinsichtlich expliziter Kontexteffekte auf politisches Verhalten zeigen beispielsweise Prezworski

und Soares (1971) nicht-lineare Kontexteffekte bei der Präsidentschaftswahl in Chile 1952. Außerdem weisen Rink et al. (2009) in ihrer Arbeit einen umgekehrt u-förmigen Einfluss des Migrantenanteils in der Gemeinde auf die Wahlwahrscheinlichkeit der rechten Partei in Flandern nach.

Auch der hier betrachtete Kontexteffekt, der sich aus der konfessionellen Komposi-tion des Landkreises bzw. der kreisfreien Stadt auf die Beziehung zwischen katholi-scher Religion und Wahlbeteiligung ergeben sollte, ist möglicherweise nicht-linearer Natur. Hinsichtlich der Frage, welche Form Kontexteffekte annehmen können, un-terscheidet Huckfeldt (1980) in seinem Artikel Variable Responses to Neighborhood Social Contexts: Assimilation, Conflict, and Tipping Points zwei Mechanismen: As-similation und Konflikt. AsAs-similation bedeutet, dass sich ein Individuum in seinem politischen Verhalten an die Verhaltensweisen der dominierenden sozialen Gruppe im Kontext anpasst. Dies entspricht der im vorherigen Abschnitt formulierten, linea-ren Hypothese 2. Der Argumentation von Huckfeldt (1980) zufolge reagielinea-ren aber nicht nur die Angehörigen der Mehrheit, sondern auch Mitglieder anderer sozialer Gruppen mit Anpassung. Im Vergleich dazu bezeichnet Konflikt ein politisches Ver-halten, welches dem der dominierenden sozialen Gruppe entgegensteht. Die Domi-nanz einer bestimmten sozialen Gruppe kann bei der Minderheit zu einem stärkeren politischen Bewusstsein und in der Folge zu einer bewussten Abgrenzung von der anderen Gruppe (out-group) führen. Zunächst scheinen diese beiden Mechanismen - Assimilation und Konflikt - nicht miteinander vereinbar. Huckfeldt (1980) liefert jedoch eine theoretische Argumentation, welche Assimilation und Konflikt verbin-det, indem er den Tipping-Point als Konzept zur Modellierung von nicht-linearen Beziehungen einführt.

Ganz allgemein kann ein Tipping-Point als eine Diskontinuität in den Werten ei-ner Variablen in Abhängigkeit der Werte eiei-ner zweiten Variable verstanden werden (Huckfeldt 1980: 243). In anderen Worten: „small changes in yt near the threshold point τ cause the future paths of xt to rip apart in a discontinous way“ (Lamber-son und Page 2012: 179). Der Punkt τ stellt in dieser Definition den Tipping-Point dar. Nach Lamberson und Page (2012: 189ff.) sind direkte und kontextuelle Tipping-Pointszu unterscheiden. Entspricht die Variableytder Variablext, so handelt es sich

um einen direkten Tipping-Point. Unterscheiden sich die beiden Variablen, spricht man von einem kontextuellen Tipping-Point. Mit letzterem Konzept wird in der vorliegenden Studie gearbeitet.

Huckfeldt (1980) argumentiert also, dass sich assimilierendes und konfliktives Ver-halten nicht gegenseitig ausschließen, sondern durch einen Tipping-Point verbinden lassen. Der Logik zufolge passen Mitglieder einer sozialen Gruppe ihr Verhalten so lange an die Gegengruppe an, bis deren Anteil im Kontext einen kritischen Punkt erreicht hat. Ab diesem Punkt setzt konfliktives Verhalten ein, um die eigene Iden-tität zu schützen. In seiner Studie untersucht Huckfeldt (1980: 238ff.) diese These im US-amerikanischen Kontext. Konkret widmet er sich der Identifikation mit den Demokraten in Abhängigkeit der Berufsgruppe und des Anteils der Arbeiterklasse im Kontext. Alle Berufsgruppen zeigen eine nicht-lineare Reaktion auf den Kontext.

Zunächst passen alle Gruppen ihr Verhalten an das Verhalten der Gruppe, deren Anteil im Kontext steigt, an. Die Identifikation der Angehörigen der Arbeiterklas-se mit den Demokraten ist bei niedrigem Arbeiteranteil im Kontext beispielsweiArbeiterklas-se geringer. Am deutlichsten zeigt sich derTipping-Point jedoch für die Klasse der Ex-perten und Manager. Überschreitet der Anteil der Arbeiterklasse im Kontext einen bestimmten Wert, zeigt sich ein starker Rückgang der Identifikation mit den Demo-kraten innerhalb dieser Berufsgruppe, was für konfliktives Verhalten steht. Huckfeldt (1980: 239f.) berücksichtigt nicht die komplette Bandbreite des Arbeiteranteils im Kontext, sondern nur Werte zwischen 20 und 70 Prozent. Er merkt an, dass sich möglicherweise deshalb nicht für alle Gruppen solch ein deutlicher Tipping-Point zeigen lässt.

Überträgt man die Argumentation und die Befunde von Huckfeldt (1980) auf den hier betrachteten Fall, sollte auch der Effekt des Katholikenanteils im Kontext auf den Zusammenhang zwischen katholischer Religion und Wahlbeteiligung nicht line-ar sein. Ausgehend von der Hypothese auf Individualebene, welche einen positiven Effekt der katholischen Konfession bzw. des katholischen Kirchgangs auf die Wahl-beteiligung vorhersagt, wäre ein u-förmiger Zusammenhang zu erwarten. Der Effekt der katholischen Konfession bzw. des katholischen Kirchgangs auf die

Wahlbeteili-gung sollte bei mittlerem Katholikenanteil im Kontext schwächer ausgeprägt sein als bei Dominanz durch die Katholiken. Katholiken würden sich also an ihren Kontext anpassen. Ab einem bestimmten Anteil der Gegengruppe, also der Angehörigen an-derer Religionsgruppen und der Konfessionslosen, sollte der Effekt der katholischen Konfession bzw. des katholischen Kirchgangs auf die Wahlbeteiligung jedoch wieder an Stärke gewinnen. Theoretischen Überlegungen zufolge sollte dieserTipping-Point bei einem relativ geringen Katholikenanteil liegen. Allerdings ist ein genauer Wert a priori nicht festzulegen, sondern kann nur empirisch ermittelt werden.6 Aus den angeführten Argumenten lässt sich folgende Hypothese als Gegenthese zu Hypothese 2 ableiten:

Hypothese 3: Bei niedrigem bzw. hohem Katholikenanteil im Kontext (Landkreis/

kreisfreie Stadt) ist der Effekt der katholischen Konfession bzw. des katholischen Kirchgangs auf die individuelle Wahlbeteiligung stärker als bei einem mittlerem Ka-tholikenanteil (u-förmiger Kontexteffekt).

Ein u-förmiger Einfluss ist nicht die einzige, theoretisch denkbare nicht-lineare Form eines Kontexteffektes. Auch für einen entgegengesetzten Verlauf, also einen umge-kehrt u-förmigen Effekt, gibt es theoretische Argumente, welche vor allem auf Ratio-nal Choice Überlegungen basieren. Entsprechend der ursprünglichen RatioRatio-nal Choice Modelle, sollte ein rationaler Bürger bei einer normalen Wahl nicht teilnehmen, da der erwartete Nutzen die Kosten nicht übersteigt (vgl. Blais 2000; Downs 1957).

Dass bei nationalen Wahlen in etablierten Demokratien dennoch die Mehrheit der Bürger zur Wahlurne geht, wird als Paradox of Voting bezeichnet (Blais 2000: 2).

Um diesem Paradoxon zu begegnen, haben Rational Choice Theoretiker selbst ei-ne Reihe von Ergänzungen für ihre Modelle vorgeschlagen. Dem zufolge kann die Teilnahme an Wahlen zum Beispiel dann rational sein, wenn Parteien die Stimmab-gabe erleichtern oder wenn der Bürger den Einfluss der eigenen Stimme überschätzt und den Eindruck hat, sie könnte entscheidend sein (Blais 2000: 3ff.). Dies ist unter

6Möglicherweise spielt die Anzahl der im Kontext vertretenen Religionsgruppen und die damit

verbundene religiöse Heterogenität eine Rolle für den Verlauf des Kontexteffektes. Da das In-teresse der vorliegenden Arbeit jedoch auf der Beeinflussung von Katholiken durch den Anteil der eigenen Gruppe im Kontext liegt, bleibt die Heterogenität unberücksichtigt. Außerdem ist die konfessionelle Struktur in Deutschland durch den Dualismus zwischen Katholizismus und Protestantismus geprägt, sodass andere Religionsgruppen nur von geringer Bedeutung sind.

anderem gegeben, wenn ein sehr knappes Ergebnis erwartet wird (vgl. 2.3.1 Der elektorale Wettbewerb als alternative Erklärung). Für die hier im speziellen betrach-tete Religionsgruppe der Katholiken ist außerdem eine weitere Situation denkbar, in der ihre Stimme von besonderer Relevanz ist. Zur Erläuterung gilt es, erneut die Argumentation auf Individualebene in Erinnerung zu rufen, welche unter an-derem aus der Cleavage-Theorie und der Bindung von Katholiken an konservative Parteien eine erhöhte Partizipationswahrscheinlichkeit ableitet. Demnach gehen Ka-tholiken vor allem deshalb eher zur Wahl, weil sie der konservativen Partei zum Sieg verhelfen möchten. Dieser Argumentation zufolge spielt die Konfession sowohl für die Wahlentscheidung als auch für die Wahlbeteiligung eine wichtige Rolle. Daher könnte - neben dem elektoralen Wettbewerb - auch der konfessionelle Wettbewerb im Kontext die Wahlbeteiligung von Katholiken beeinflussen. Katholiken sollten ihre Stimme für konservative Parteien vor allem dann als relevant betrachten, wenn der Kontext durch keine Konfession dominiert wird. Während bei einem sehr geringen Katholikenanteil durch die geringen Wahlchancen der Konservativen kein rationa-ler Anreiz zur Wahlbeteiligung besteht, spricht ein sehr hoher Katholikenanteil für einen sicheren Sieg der Konservativen und bietet somit aus Rational Choice Sicht ebenfalls einen geringen Partizipationsanreiz. Der stärkste Anreiz zur Wahlbeteili-gung sollte für Katholiken dann gegeben sein, wenn ihr Anteil im Kontext ungefähr 50 Prozent ausmacht.

Diese These schließt an die Befunde von van der Brug et al. (2009) an. Sie konnten für die Wahlen zum Europäischen Parlament zeigen, dass Religion für die Wahlentschei-dung zu Gunsten konservativer Parteien vor allem in religiös stark fraktionalisierten Gesellschaften eine Rolle spielt. Die Überlegung deckt sich außerdem mit dem Ar-gument von Bühlmann (2006: 114), wonach von einem sehr heterogenen Kontext eine partizipationsfördernde Wirkung ausgehen sollte. Daraus ergibt sich folgende Hypothese:

Hypothese 4: Bei einem mittlerem Katholikenanteil im Kontext (Landkreis/ kreisfreie Stadt) ist der Effekt der katholischen Konfession bzw. des katholischen Kirchgangs auf die individuelle Wahlbeteiligung stärker als bei niedrigem bzw. hohem Katholi-kenanteil (umgekehrt u-förmiger Kontexteffekt).