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52 Erste Phase der Lehrerbildung

Zeitdruck, d. h. durch den Zwang, situationsunmittelbar, also ohne Aufschub, und häufig ohne bereits erprobtes Handlungswissen Ent-scheidungen treffen und diese umsetzen zu müssen.

Kurz: Es geht um klientenbezogenes fall- und situationsspezifisches Han-deln. Professionelle sind in ihren typischen Handlungssituationen wider-sprüchlichen Anforderungen ausgesetzt. Diese müssen sie einerseits mit-einander vermitteln. Andererseits stehen hierfür keine ausreichenden

„Technologien“ zur Verfügung, d. h. Methoden, die eindeutige Kausalbe-ziehungen zwischen Anwendung und Wirkung erzeugen. Deshalb ist rou-tinisiertes Handlungswissen meist unzureichend für die Bewältigung der jeweils einzelfallbezogenen Situation. Stattdessen werden zunächst wis-senschaftliche Expertise und sodann Fertigkeiten benötigt, die Expertise in konkrete Handlungssituationen zu transferieren. Beide gehen sowohl mit breiter Methodenkenntnis und -beherrschung einher als auch mit der Ver-fügung über ein Wissen und Handlungsrepertoire, die auch jenseits von Checklisten- oder handwerklichem Regelwissen Unsicherheitsbewältigung ermöglichen. Dies lässt sich als professioneller Habitus kennzeichnen.

Zu vermeiden ist das, was als Gegenmodelle eines solchen Habi-tus beschrieben wurde: der bürokratische und der ingenieuriale HabiHabi-tus oder, mit Max Weber (1972: 578), das sog. Fachmenschentum. Der Idealty-pus des Fachmenschen ist der Beamte: Bürokratische Herrschaft bedeutet Herrschaft kraft Wissen; Voraussetzung ist die Fachschulung; der Beamte funktioniert mit Hingabe und ohne eigenes Urteil; er hat sein Gegenüber als unpersönlichen Fall zu behandeln; personale Abhängigkeitsverhältnisse werden zu sachlichen. All das steigert die Berechenbarkeit. So modern die-ses Modell ist, so vordemokratisch ist es auch. In der Kultur des Fachmen-schentums ist ein bürokratisch-obrigkeitsstaatliches Wertmuster geronnen.

Idealtypisch gelten Wissenschaft und Praxis gleichermaßen als die zwei Kraftfelder von Profession. Beide bilden füreinander Umwelten, die sich nicht hierarchisch ordnen lassen. So gilt gerade die Verknüpfung sys-tematischen, universellen Wissens mit je einmaligen Praxisproblemen als zentrales Merkmal professioneller Tätigkeiten. Da die Komplexität der Ein-zelfälle nicht durch das wissenschaftliche Wissen abgebildet werden kann, bedarf es seiner fallspezifischen Adaption und Differenzierung. Im Idealfall wirken diese in professionellen Kontexten vorgenommenen Anpassungen auf die wissenschaftlichen Wissensformen zurück. Auf diese Weise bleiben Wissenschaft und Praxis nicht nur in der Anwendung, sondern auch bezüg-lich der Weiterentwicklung der Profession miteinander verwoben.

Themen der Qualitätsentwicklung 3.

Pädagogische Professionalisierung

Die individuelle Fallspezifik, die in standardisierten Handlungsanleitungen nicht erfasst sein kann, macht die Ungewissheit der typischen Handlungs-situationen aus, wie sie etwa in Erziehungs- und Bildungsprozessen auf-treten. Um diese Ungewissheit professionell bearbeiten zu können, muss der Akteur/die Akteurin zweierlei beherrschen: die Fallanalyse und die Re-flexion des eigenen Handelns. Eine erfolgreiche Fallanalyse erfordert, zur Falldokumentation und -rekonstruktion befähigt zu sein. Die Selbstreflexion muss das eigene Handeln, die eigenen Erfahrungen und die eigene Haltung einbeziehen.

Insbesondere die so verstandene Selbstreflexion macht auch deut-lich, dass ein Studium zwar Grundlagen legen kann (und muss). Doch die Ausprägung eines professionellen Habitus ist ein über das Studium hinaus andauernder, grundsätzlich unabschließbarer Prozess. Denn Handlungs-kompetenz pädagogischer Akteure beruht auf Erfahrungen, die im Studium noch nicht hinreichend gemacht werden konnten. „Am Ende der Ausbil-dung muss eine erweiterbare praktische Kompetenz stehen, nicht einfach ein Reflexionsvermögen“ (Kuhn 2009: 49). Damit das Studium dafür Grund-lagen legen kann, muss es zwei Dinge leisten: zum einen die Erarbeitung theoretischen Wissens, über das die Absolvent_innen souverän verfügen können; zum anderen die Schaffung von exemplarischen Anlässen, um die-ses Wissen in praktischen Situationen anwenden zu können.

Für die schulpädagogische Tätigkeit heißt all das: Ausgerichtet am eigensinnigen Bildungshandeln der Schüler_innen muss das Fachpersonal die Bildungsprozesse der Kinder wahrnehmen, dokumentieren, an andere – und zwar an Fachleute wie Laien – kommunizieren, (theoretisch) erklären, mit Materialien und Ideen ausstatten sowie unterstützen und fördern kön-nen. Das legt ein Selbstverständnis der pädagogischen Fachkräfte nahe, das die Anwendung inhaltlichen Wissens durchaus zu den vorrangigen Erfor-dernissen zählt – allerdings eingebettet in die professionelle Haltung eines durch Wissen begründeten Selbstvertrauens und einer aufgabenadäquaten Handlungskompetenz.

Professionelles Handeln in diesem Sinne bildet eine „widersprüchli-che Einheit von standardisiertem Wissen und nicht standardisierbarer fall-spezifischer Intervention im Arbeitsbündnis“ mit dem jeweiligen Klienten (Oevermann 2005: 26). Pädagogisches Handeln nun ist Krisenbewältigung in Permanenz. Daher können pädagogisch Handelnde nicht wie technische Experten herangebildet werden, sondern müssen sich auf die Bewältigung nicht standardisierbarer Situationen vorbereiten. Die Gründe:

54 Erste Phase der Lehrerbildung

Sie betreiben nicht finalisierbare Prozesse: „Erziehen ist eine Ar-beit, die kein Produkt vorzuweisen hat“ (Rabe-Kleberg 1999: 21).

Ihr berufliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein brei-tes, abstraktes Wissen auf den Umgang mit einzelnen Menschen an-wenden müssen. Dabei sind die Schüler_innen (und Eltern) auf eine angemessene Anwendung dieses Wissens existenziell angewiesen.

Pädagog_innen müssen handeln. Stichweh (1992: 40) definiert Pro-fession im pädagogischen Kontext als Anwendung von Wissen unter Handlungszwang. Das heißt: Sie müssen auch dann handeln, wenn es für ein auftretendes Problem noch kein verfügbares und erprob-tes Problemlösungswissen gibt.

Konkret kann dann von drei professionellen Herausforderungen gespro-chen werden: (1) professionelles Wissen, (2) professionelle Wahrnehmung und (3) professioneller Habitus. Das heißt im Einzelnen:

Professionelles Wissen: Hier geht es sowohl um fachspezifisches Wissen als auch um das allgemeine Bildungsniveau der Pädagog_

innen.

Professionelle Wahrnehmung: Hier geht es um die Fähigkeit des Lehrpersonals, Bildungsprozesse – also Fragestellungen und Inte-ressen, Themen und Motive, Erkenntnisse und Erklärungen – der Schüler_innen wahrzunehmen, (theoretisch) zu erklären und zu do-kumentieren. Ebenso gehört dazu, Nöte, Probleme und Behinderun-gen der Schüler_innen, also krisenhafte EntwicklunBehinderun-gen zu erkennen und auch diese erklären und dokumentieren zu können.

Professioneller Habitus: Damit sind die Grundhaltung gegenüber den Schüler_innen und das, was daraus für die eigene Rollenbe-stimmung folgt, gemeint. Pädagogik zielt nicht (mehr) auf die Erzeu-gung generalisierter Folgebereitschaft, sondern auf die Entfaltung individueller Autonomie im sozialen Zusammenhang. Moderne Pä-dagogik hat sich von einer Vorstellung vom Schüler als defizitärem Wesen verabschiedet. Zwei zentrale Momente kennzeichnen einen professionellen Habitus: die Orientierung daran, die Autonomie der Schüler_innen zu stärken, und dabei auf Vertrauen zu setzen.

Ein Hochschulstudium zielt auf wissenschaftlich basierte Urteilsfähigkeit.

Die Lehramtsausbildung aller drei Phasen zielt auf eine explizit darauf gründende Handlungsfähigkeit. Das heißt: Zu erlangen und fortlaufend zu entwickeln ist die auf wissenschaftlichen Kenntnissen gründende – d. h.

me-Themen der Qualitätsentwicklung 3.

thodisch geleitete, kritisch reflektierende und hinter jegliche Vordergrün-digkeiten blickende – Fähigkeit, selbstständig Sachverhalte zu erkennen, einzuordnen und zu bewerten, um sie sodann handelnd beeinflussen zu können. Was dies für konkretes Lehrerhandeln bedeutet, lässt sich anhand der unaufhebbaren Konfliktstruktur der Lehrerrolle verdeutlichen. Sibylle Reinhardt (2009) hat diese Struktur dreidimensional modelliert:

O Wer ist der Klient des Lehrers (Gesellschaft/Selektionsfunktion versus Schüler/Funktion der Förderung)? Im Unterschied zu anderen Professionen lasse sich für Lehrer_innen nicht klar angeben, wer der Klient ist. Der Leh-rer sei in eine gesellschaftliche Funktion eingeschaltet, die in Widerspruch zur Förderung seines Schülers geraten könne: Denn der Lehrer fungiert als Begutachter von Schülern.

O Was will der Klient Schüler (Schülerzukunft versus Schülergegenwart)?

„Der Lehrer soll den Schüler auf ein Leben vorbereiten, das dieser nicht kennen kann. … Aktuell gefördert wird aber ein Jugendlicher, der im Mo-ment ganz andere Bedürfnisse und Fähigkeiten haben mag ... Das, was er im Moment will, muss überhaupt nicht das sein, was er später für heute gewollt haben würde. Der Lehrer muss deshalb die Schüler-Rolle für den Schüler mit interpretieren. Es geht also um die Überbrückung der Distanz zwischen dem Heute und dem Morgen.“

O Lehrer_innen unterrichten nicht einzelne Schüler_innen, sondern Grup-pen. Die Legitimität der Bedürfnisse eines Schülers entscheide sich nicht nur daran, ob sie seinen eigenen Entwicklungsprozess fördern, sondern ebenfalls an den Lernbedingungen und Voraussetzungen der anderen Schü-ler_innen. Da die konfligierenden Ansprüche ständig zugleich bestünden, müsse die Lehrerin situativ entscheiden, welche Norm sie gerade wie zum Ausdruck bringe – und wie sie die Gegennorm dabei bewahre. Es seien mithin Konflikte zu balancieren. Damit dies je nach Situation und Fall ge-linge, bedürfe es der reflexiven Kompetenz, damit in Krisen des Lehrer- oder Schülerhandelns über mehr als Routinehandeln verfügt werden kann (ebd.: 24 f.).

Zusammenfassend kann dann Professionalität „als die subjektive Fähigkeit und Bereitschaft begriffen werden, die Ungewißheit des Handelns zu ertra-gen, immer wieder neu die Implikationen für das Handeln in Ungewißheit zu reflektieren und Verantwortung für das Handeln zu übernehmen“ (Rabe-Kleberg 1999: 22). Daher geht es in der Ausbildung für ein solches beruf-liches Handeln nicht um richtig oder falsch, sondern um Interpretationen, um ein Denken auf eigene Rechnung.

56 Erste Phase der Lehrerbildung

3.1.2 Kompetenzorientierung

Als eine spezifische Form, Professionalisierung zu operationalisieren, lässt sich das Kompetenzkonzept begreifen – nämlich dann, wenn es als Versuch verstanden wird, Bildungsprozesse von ihren Wirkungen und Ergebnissen her zu denken: „weg von der Stoffzentrierung der Lehre hin zur Kompe-tenzorientierung des Studiums“ (Webler 2003: 68). Hinter der Kompetenz-orientierung steckt eine sowohl bildungspolitische als auch -theoretische Neuausrichtung: Nicht mehr Kenntniszuwachs soll zentrales Erfolgskrite-rium eines Studienganges sein, sondern das, was die oder der Lernende am Ende an Handlungsfertigkeiten ausgebildet hat.

Nicht unumstritten

Einen gewissen Abschluss der Debatte über die Kategorisierung von Kom-petenzen stellte der Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) dar (vgl. Bund-Länder-Koordinierungsstelle 2013). Sortiert sind dort die Kompetenzen nach „Fachkompetenz“ und „personaler Kompetenz“. Die Fachkompeten-zen wiederum werden nach Wissen und Fertigkeiten unterschieden, die personalen Kompetenzen nach Sozialkompetenz und Selbstständigkeit. All dies ist dann erneut untergliedert. So umfasst etwa die Sozialkompetenz dreierlei: Team-/Führungsfähigkeit, Mitgestaltung und Kommunikation.

Damit sind zugleich Bildungsziele definiert.

Sodann werden im DQR acht Kompetenzniveaus definiert, denen sich einzelne Ausbildungen bzw. Studiengänge zuordnen lassen, angefangen bei „Über Kompetenzen zur Erfüllung einfacher Anforderungen in einem überschaubar und stabil strukturierten Lern- oder Arbeitsbereich verfügen.

Die Erfüllung der Aufgaben erfolgt unter Anleitung“ (Niveau 1) und endend bei „Über Kompetenzen zur Gewinnung von Forschungserkenntnissen in einem wissenschaftlichen Fach oder zur Entwicklung innovativer Lösungen und Verfahren in einem beruflichen Tätigkeitsfeld verfügen. Die Anforde-rungsstruktur ist durch neuartige und unklare Problemlagen gekennzeich-net“ (Niveau 8) (ebd.: 17, 22).

Damit weiß nun jeder Beschäftiger, dass z. B. Bachelorabsolvent_

innen über „Kompetenzen zur Planung, Bearbeitung und Auswertung von umfassenden fachlichen Aufgaben- und Problemstellungen sowie zur eigenverantwortlichen Steuerung von Prozessen in Teilbereichen eines wissenschaftlichen Faches oder in einem beruflichen Tätigkeitsfeld ver-fügen“. Und die Anforderungsstruktur, auf die sie durch Ausbildung oder Studium vorbereitet sind, sei „durch Komplexität und häufige

Verände-Themen der Qualitätsentwicklung 3.

rungen gekennzeichnet“. So wird im DQR beschrieben, was Niveaustufe 6 bedeute (ebd.: 7).

Parallel ist die Kompetenzorientierung nicht unwidersprochen geblieben und nach wie vor umstritten. Fragt man nach den Gründen ihres dennoch absolvierten Siegeszugs, so kommen zwei Aspekte in den Blick:

Bildung braucht, um sich politische Unterstützung organisieren zu können, immer kommunizierbare Begriffe. Außerhalb der wissen-schaftlichen Diskussion, also z. B. in der Politik, übersetzt man sich Kompetenz in „kompetent sein“. Dass dies ein gutes Bildungsziel sei, erscheint spontan einleuchtend.

Die Kompetenzorientierung – durch OECD, EU und KMK politisch nobilitiert – ist seitens des Bildungswesens und der Bildungsfor-schung gut instrumentalisierbar. Mit ihr lassen sich, so die implizite Erwartung, die professionalisierenden und persönlichkeitsentwi-ckelnden Prozesse begründen und vorantreiben, die man auch ohne Kompetenzdebatte für unabdingbar erachtet hätte.

Wie bei vielen Begriffen, so unterscheidet sich auch beim Kompetenzbe-griff dessen Bedeutung im wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Gebrauch. Alltagssprachlich finden sich Kompetenzen oft mit Fähigkei-ten und FertigkeiFähigkei-ten gleichgesetzt. Die Wissenschaft dagegen steht unter dem Einfluss der internationalen Diskussion. Die in der deutschsprachigen Forschung überwiegend herangezogene Definition des Kompetenzbegriffs stammt von Franz Weinert (2001: 27 f.). Danach sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähig-keiten und FertigFähig-keiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“.

Daneben jedoch gibt es in Deutschland eine grundsätzlichere kriti-sche Diskussion des Kompetenzbegriffs. Diese fragt nach seinen spezifikriti-schen Funktionen, die er im Unterschied zu Begriffen wie „Bildung“ oder „Persön-lichkeitsentwicklung“ habe. So würden die Kompetenzen landläufig „nicht aus einem fundierten und begründeten Verständnis der ‚Person‘ entwickelt, sondern … ‚vom System her‘ als notwendig normativ den Personen zuge-schrieben“. Ausgeblendet würden dabei vor allem die Widersprüche und Dysfunktionalitäten, die biografisch in jedem Subjekt selbst schon immer angelegt seien (Grigat 2010). „Funktionalität für gesellschaftliche Zwecke und Subjektivität werden nicht mehr in gut pädagogischer Manier

entgegen-58 Erste Phase der Lehrerbildung

gesetzt, sondern verschmelzen vielmehr zu einem neuen Typ (multi-)funkti-onaler bzw. polykontexturaler Subjektivität“ (Höhne 2007: 37).

Der vielgenannten Flexibilität z. B. werde die Fähigkeit zugeschrie-ben, auf unterschiedliche Kontexte adäquat reagieren zu können, ohne indes die Kontexte selbst zu problematisieren. Es fehle der Überschuss, den „Bildung“ an Gehalt, Erklärungs- und Kritikreichweite habe. Die Inten-tionalität des Subjekts, seine Freiheit, werde ausgeblendet, während der Bildungsbegriff stets Rezeptivität und Spontanität zusammendenke. Kern-elemente des Bildungsbegriffs wie seine anthropologische Fundierung in einem Konzept der Freiheit, sein kritisches Potenzial sowie die Betonung der Bedeutung von Sprache und Tradition könnten aber nur zum Schaden des Individuums, der Gesellschaft und der Bildungsinstitutionen aufgege-ben werden (Grigat 2010).

Kritisiert wird ebenso, dass eine Hauptfunktion des Kompetenz-konzepts in der Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Kompetenzen liege, indem diese auf einer Skala abgebildet und in Stufen der Entwicklung unter-teilt werden sollen, um Entwicklungen im Zeitverlauf zu messen (Höhne 2007: 33). Die „Kompetenzsubjekte“ hätten dann eine Bringschuld, die bei Nichterfüllung die Zuschreibung von „Verantwortungslosigkeit“ zur Folge habe (ebd.: 40). Letztlich ginge es bei der Kompetenzorientierung nicht „um Persönlichkeitsentwicklung. Es geht um Personalentwicklung.“ Die subjekti-ven Potenziale würden als Kompetenzen „entfaltet und gleichzeitig entstellt.

Sie werden auf ihre verwertbaren Anteile hin reduziert“ (Grigat 2010).

Entschärfung

Eine gewisse Chance auf Einigungsfähigkeit zwischen den konkurrierenden Positionen mag es aber geben, wenn Kompetenzen begriffen werden als per-sonale Qualitäten, in denen Wissen, Fähigkeiten/Fertigkeiten und professio-nelle Haltung zusammenfließen. „Kompetenzen sind kein bloßes bzw. ‚leeres‘

Wissen, sondern praktizierbares und praktiziertes Wissen.“ Zum einen kön-ne auf dieses Wissen dauerhaft zurückgegriffen werden. Zum anderen passe sich dieses Wissen flexibel an wechselnde Kontexte an (Sander 2010: 5).

Ähnlich formuliert auch Pfadenhauer (2010: 155) ein soziologi-sches Kompetenzverständnis: Kompetenzen seien das Vermögen, iterativ Problemlösungen zu begreifen. Dabei umfasse kompetentes Handeln drei Dimensionen: Können, Wollen und Dürfen. Für die Dimension des Könnens bzw. der Befähigung wählt Pfadenhauer eine breite Definition, denn Befä-higung umfasse sowohl die kognitive Dimension als auch Erfahrungen und

Themen der Qualitätsentwicklung 3.

erlernte Routinen zur Lösung von Problemen (ebd.: 153). Allerdings gelte die Befähigung nur als Voraussetzung, da ohne die Bereitschaft, ein Pro-blem zu bewältigen, die Befähigung nicht auf das ProPro-blem gerichtet werden könne. Problemlösungen wiederum basierten auf „einem Konglomerat von Wissenselementen, Relevanzen, Motiven, Techniken, Strategien, Reflexio-nen, das in mannigfaltige Einzelaspekte zerlegbar ist, von denen ein Gutteil bewusst (gemacht) werden kann“ (ebd.: 165).

Zusammengefasst: Kompetenzen stellen die Einheit der Differenz von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie professioneller Haltung dar. Wis-sen und Fähigkeiten/Fertigkeiten sind notwendige Voraussetzungen, und wo es gelingt, beide zusammenzuführen und mit einer professionellen Haltung zu verbinden, dort entstehen Kompetenzen. In so verstandenen Kompeten-zen verschmilzt also das individuelle Können und Wollen (Sander 2010: 5).

Kompetenzen sind personale Qualitäten. Unter Qualitäten lassen sich allgemein kombinatorische Effekte verstehen – umgangssprachlich:

„Die Summe ist mehr als ihre Teile.“ Dabei treten jegliche Qualitäten in zwei Grundmustern auf, nämlich als kombinatorische Effekte minderer und höherer Komplexität.1 Effekte minderer Komplexität sind isolierbare Einzeleigenschaften, die quantifizierbar oder verbal standardisierbar und punktgenauen Interventionen zugänglich sind (etwa: Fremdsprachenkom-petenz). Effekte höherer Komplexität sind kombinatorische Effekte aus anderen kombinatorischen Effekten, die sich Standardisierungen weitge-hend entziehen (etwa: Problemlösefähigkeit).

Personale Qualitäten sind meist Qualitäten höherer Komplexität.

Versuche, diese messend zu erfassen, führen zu Untersuchungsanordnun-gen, die regelmäßig bei Leistungsstanderfassungen wie PISA oder TIMMS enden. Es handelt sich um pragmatische Auswege, Symptome der Quali-tät zu identifizieren. Diese spenden zwar keine endgültige Sicherheit, dass sie auf tatsächlich vorhandene Qualitäten verweisen. Doch werden so, auf der Grundlage konsolidierter Erfahrungen, Aussagen möglich, dass bei Vorliegen bestimmter Qualitätssymptome mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmte Qualitäten – hier individuelle Kompetenzen – gegeben sind.

Es ist also nach indizierenden Symptomen zu fahnden, die es nahe-legen, dass die jeweilige Studiengangsgestaltung es eher fördert oder behindert, sich bestimmte Kenntnisse anzueignen, bestimmte Fähigkeiten zu stärken, bestimmte Fertigkeiten auszubilden, bestimmte Haltungen ein-zunehmen und am Ende über bestimmte Kompetenzen zu verfügen. Dafür

1 vgl. oben 1. Problemstellung: Qualität der Lehrerbildung Y Qualitätsbegriff

60 Erste Phase der Lehrerbildung

wiederum sind entsprechende Kriterien vonnöten. Diese müssen vermei-den, dass Indizien, die allein Wissenserarbeitung oder allein Fähigkeits-/

Fertigkeitsentwicklung abbilden, schon für Symptome erfolgreicher Kom-petenzausbildung gehalten werden.

Professionelle Handlungskompetenz von Lehrer_innen

Für die Lehrerbildung werden meist Kompetenzbereiche unterschieden, die dann insgesamt die professionelle Handlungskompetenz bestimmten. Solche Kompetenzbereiche sind dann etwa „Unterrichten“, „Erziehen und Integrie-ren“, „Beraten und Beurteilen“, „Verwalten und Organisieren“ sowie „Gestal-ten und Innovieren“. Innerhalb dieser sollen Kompe„Gestal-tenzen ausgebildet wer-den, die konkreter sind als die o. a. des Deutschen Qualifikationsrahmens:

fachwissenschaftliche, fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Grund-lagen, berufsfeldspezifische Kompetenzen, überfachliche Kompetenzen, Fä-higkeit zur Erschließung und Nutzung der Ergebnisse fachdidaktischer und lernpsychologischer Forschung, inklusionsbezogene Kompetenzen.

Die KMK unterscheidet in ihren „Standards für die Lehrerbildung:

Bildungswissenschaften“ von 2004/2014 vier Kompetenzbereiche, die das Handeln von Lehrkräften bestimmten und aus denen sich Anforderungen für die gesamte Ausbildung und die Berufspraxis ergäben: Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren (KMK 2014: 7 f.). In ihren „Länder-gemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ werden Kompetenzen als „Kennt-nisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, über die eine Lehrkraft zur Bewältigung ihrer Aufgaben im Hinblick auf das jeweilige Lehramt ver-fügen muss“, beschrieben (KMK 2016b: 3).

Ein Beispiel einer Modellierung der Kompetenzsystematik für Leh-rer_innen, die von 2004 stammt und auch heute noch herangezogen wird, präsentiert Tafel 5.

Eine andere Fassung hat Andreas Frey (2004) entwickelt, indem er ein hierarchisches Strukturmodell formulierte, das vier Ebenen unterscheidet:

Selbstkonzept eigener Fertigkeiten, die auf der Einschätzung des eigenen Könnens beruhen (Ebene 1);

gebündelte Fertigkeiten, die eine Fähigkeitsdimension repräsentie-ren (Ebene 2);

Kompetenzklassen, zu denen sich die Fähigkeitsdimensionen ver-dichten (z. B. zur Sozialkompetenz, welche die Fähigkeitsdimensio-nen Selbstständigkeit, Kooperationsfähigkeit, soziale Verantwortung,

Themen der Qualitätsentwicklung 3.

Professionelle Handlungskompetenz

Überzeugungen/

Werthaltungen

motivationale Orientierungen

selbstregulative Fähigkeiten Verständnis von

schulnahem Stoff/Aufgaben

diagnostische Kompetenz

Erklärungswissen

Lernprozesse

Bezugsnormorientierung

Kompetenzfacetten

Fachwissen

fachdidaktisches Wissen

pädagogisches Wissen Organisations-, Interaktionswissen

Beratungswissen Kompetenzbereiche

Professions-wissen

Konfliktfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Führungsfähigkeit, si-tuationsgerechtes Auftreten verbindet) (Ebene 3), sowie

eine generalisierte Handlungskompetenz, die auf den vier häufig unterschiedenen Kompetenzklassen Fach-, Sozial-, Methoden- und Personalkompetenz basiert (Ebene 4) (ebd.: 908 f.).

Tafel 5: Professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften

Quelle: Krauss et al. (2004: 35); formal etwas verändert nachgebaut

Auch andere Modelle professioneller Handlungskompetenz differenzieren das Professionswissen. Nach Baumert und Kunter (2006: 483) enthält dieses drei zentrale Wissensbereiche: pädagogisches Wissen, Fachwissen und fachdidak-tisches Wissen. Diese lägen in unterschiedlichen Anteilen als theoretisch-for-males Wissen und als praktisches Wissen und Können vor. Eingeordnet wird dies von den Autor_innen in einen heuristischen Rahmen der Handlungskom-petenz von Lehrpersonen, der sich aus vier Elementen zusammensetzt: Neben dem Professionswissen sind dies Überzeugungen/Werthaltungen, motivatio-nale Orientierungen und selbstregulative Fähigkeiten (ebd.: 481).

62 Erste Phase der Lehrerbildung

Eine gewisse Konsolidierung erreichte die Kompetenzdebatte mit den Rah-menvorgaben der Kultusministerkonferenz: den KMK-„Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ von 2004/2014 (KMK 2014) und dem KMK-Beschluss „Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ (KMK 2016b). Auf diese wird zurückzukommen sein.2

Inzwischen ist die Zusammenführung der komplexen Anforderun-gen, die bei der Gestaltung der Lehramtsstudiengänge zu berücksichtigen sind, wesentlich den Zentren für Lehrerbildung überantwortet worden, die vor allem in den letzten zehn Jahren aufgebaut worden sind. Die Erfolge dabei sind sehr durchwachsen.3

3.1.3 Berufs- und Fachwissenschaften sowie Fachdidaktik

Im Fokus von Lehrerbildungsreform-Diskussion und -Praxis steht seit Jahren das Thema, wie die Abstimmung zwischen Fachwissenschaften, Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken innerhalb der Universität verbessert werden könne. Dies folge aus einem Wandel des Lehrerbildes, der z. B. eine stärkere Betonung der Bildungswissenschaften zulasten der Fachwissenschaften erfordere. Nötig seien aber vor allem, so der Tenor der Debatte, curriculare Abstimmungen zwischen Fachwissenschaften, Berufs-wissenschaften (BildungsBerufs-wissenschaften) und Fachdidaktiken.4 Dabei sei die Gewichtung der drei Bereiche neu zu bestimmen, und dies vor allem im Blick auf die Theorie-Praxis-Kollision innerhalb der ersten bzw. zwischen erster und zweiter Lehrerbildungsphase.

Theoretischer Hintergrund sind Modelle professioneller Handlungs-kompetenz,5 wie das oben angeführte von Baumert/Kunter (2006: 483):

Die drei zentralen Wissensbereiche des Professionswissens seien pädago-gisches Wissen, Fachwissen und fachdidaktisches Wissen, in unterschied-lichen Anteilen als theoretisch-formales Wissen und als praktisches Wis-sen und Können vorliegend. Das allgemeine pädagogische WisWis-sen (und Können) umfasse vier Facetten: konzeptuelles bildungswissenschaftliches Grundlagenwissen, allgemeindidaktisches Konzeptions- und

Planungswis-2 s. u. 4.1.2 KMK-Vorgaben auf inhaltlicher Ebene

3 s. u. 4.4 Zentren für Lehrerbildung und vergleichbare Einrichtungen

4 Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften nennt die Erziehungswissenschaft incl. erziehungswissenschaftlich relevanter Bereiche der Psychologie oder Soziologie und die Fachdidaktiken „die berufswissenschaftlichen Bezugsdisziplinen“ (DGfE 2010: 23).

5 vgl. oben 3.1 Professionalisierung und Kompetenzentwicklung

Themen der Qualitätsentwicklung 3.

sen, Unterrichtsführung und Orchestrierung von Lerngelegenheiten, fach-übergreifende Prinzipien des Diagnostizierens, Prüfens und Bewertens (ebd.: 485).

Konkrete Themen der Debatte sind vor allem

die Anteile der drei Säulen des Lehramtsstudiums im Curriculum, wobei für die Fachdidaktik auch immer die Anteile der Praxispha-sen eine Rolle spielen;6

die inhaltliche Ausgestaltung der bildungswissenschaftlichen Anteile;

die Rolle der Fachdidaktik(en);

die Fragen nach einem selbstständigen berufsqualifizierenden Profil des Bachelor sowie

nach einer Trennung der Bachelor- und Masterprogramme in fach-qualifizierende und berufsfach-qualifizierende Studiengänge;

die Angemessenheit gleicher Lehrveranstaltungen für Lehramts- und sonstige Studierende;

die Studierbarkeit angesichts der Beteiligung dreier Studienbereiche.

Drei Säulen des Lehramtsstudiums

Welche Differenzen es in den 16 Ländern hinsichtlich der Präsenz von Be-rufs- und Fachwissenschaften sowie Fachdidaktik in den Curricula gibt, kann zunächst grafisch veranschaulicht werden (Tafel 6). Folgende Auffäl-ligkeiten werden dabei erkennbar:

Die jeweils insgesamt angegebenen Leistungspunkte für die drei Fä-chergruppen bewegen sich zwischen 170 und 272. In vier der hier einbezogenen zwölf Länder liegt ihre Anzahl um die 180. In sechs Ländern, also der Hälfte, liegt sie unter 200, in den anderen sechs über 200.

In elf von zwölf Ländern dominieren die Fachwissenschaften ge-genüber Bildungswissenschaften und Fachdidaktik absolut. Auf-fällig ist Hessen mit der Gleichgewichtung aller drei Bereiche. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist die Fachdidaktik in die Fachwissenschaften integriert; beide Fächergruppen können daher im Folgenden nicht einbezogen werden.

Der Anteil der Fachwissenschaften an den drei Fächergruppen streut zwischen 33 und 72 Prozent, differiert also um mehr als den Faktor zwei. Bei fünf der hier einbezogenen Länder liegt der

An-6 Zu Letzterem vgl. unten 3.1.4 Theorie und Praxis im Studium.