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Subjektivierung von Polyphonie

Im Dokument Musik – Identität – Raum (Seite 172-200)

Die Devotionsmotette im Kontext der Gattungstransformation 1420–1450*

1. Vorbemerkungen

Zwischen 1420 und 1450 macht die Gattung Motette eine so radikale Transformation durch, dass sie am Ende des besagten Zeitraums kaum noch dieselbe zu sein scheint wie zu Beginn. Die isorhythmische Motette, die von ca. 1320 bis 1400 die Motette schlechthin repräsentierte und noch im frühen 15. Jahrhundert in den Werken Cico-nias, Dunstaples, Dufays und ihrer Zeitgenossen mit beachtlichem kompositorischen Anspruch auftritt, verschwindet um 1440 auf fast dramatische Art und Weise von der Bildfläche.1 Zwar wirkten fast alle ihre gattungskonstitutiven Eigenschaften – Mehr-textigkeit, Choralbezogenheit, Manipulation von color und talea, proportionale oder mensurale Großordnungen u. a. – in der Motette oder der Ordinariumsvertonung bis ins 16. Jahrhundert nach2, die (Sub-)Gattung als solche – eben als Bündel konstituti-ver Merkmale – wurde aber nicht mehr fortgeführt.

Zugleich etabliert sich im selben Zeitraum ein neuer Typus von nicht-isorhyth-mischen Werken, die kompositionstechnisch kaum Kontinuitäten mit der Motette vor 1400 aufweisen, aber irgendwann den Gattungsbegriff für sich beanspruchen.

Es ist dieses Werkcorpus, dem unsere Aufmerksamkeit gelten muss. Im Unterschied zur ziemlich ausgeprägten Gattungssystematik der isorhythmischen Motetten weisen diese ‚neuen‘ Motetten, wie wir sie vorläufig nennen wollen, keineswegs ein in sich geschlossenes musikalisches Profil auf, sie sind im Gegenteil von heterogener Vielfalt der Verfahren, die durch die Arbeiten von Wolfgang Stephan, Robert Nosow und

ins-* Für ihre überaus hilfreichen Anmerkungen, aber auch für ihre große Geduld bin ich den beiden He-rausgebern dieses Bandes, Alexander Rausch und Björn R. Tammen (beide Wien), sehr verpflichtet ; Reinhard Strohm (Oxford-Wien) hat sich der Mühe der Lektüre dankenswerterweise unterzogen, Margaret Bent (Oxford) danke ich für ihre Kommentare zur Vortragsfassung.

1 Ich verwende hier vorläufig den etablierten Begriff ‚isorhythmische Motette‘ ; zu notwendigen Diffe-renzierungen vgl. Abschnitt 3.

2 Rolf Dammann, „Spätformen der isorhythmischen Motette im 16. Jahrhundert“, in : Archiv für Mu­

sikwissenschaft 10 (1953), 16–40 ; Thomas Brothers, „Vestiges of the Isorhythmic Tradition in Mass and Motet, ca. 1450–1475“, in : Journal of the American Musicological Society 44 (1991), 1–56.

besondere Julie E. Cumming einigermaßen kartographiert wurden.3 Von einer „ex-plosionsartigen Differenzierung des Motettenbegriffs“ zu sprechen, erscheint keines-wegs übertrieben.4 Heute dürfte unbestritten sein, dass eine befriedigende Definition dieser ‚neuen‘ Motette – oder gar eine Erklärung ihrer Entwicklung – aufgrund rein innermusikalischer, kompositionstechnischer Kriterien nicht möglich ist. Ebenso un-möglich scheint es, die Gattung aufgrund bestimmter Texte und spezifischer sozialer Funktionen zu definieren ; zu vielfältig waren auch diese.5

Zwischen 1420 und 1450 tritt also eine regelrechte Spaltung, ein Bruch im Gat-tungsbegriff der Motette auf, wie er seinesgleichen sucht. Die Musikgeschichte kennt zwar manche dramatisch wirkenden Gattungstransformationen, doch verlaufen sie im Allgemeinen im gleichzeitigen Prozedieren von Kontinuitäten und Diskontinuitä-ten (sprich : ‚Tradition‘ und ‚Innovation‘), und in langsamen, evolutiven Prozessen.6 Im vorliegenden Fall vollzieht sich der Wandel im Laufe nur einer Generation, d. h.

innerhalb der Lebenserfahrung eines Einzelnen : Die Tradition der isorhythmischen Motette, deren letzte überragende Werke der junge Dufay schuf, endete (wenn wir dem Quellenbefund Glauben schenken), noch bevor Dufay sein fünfzigstes Lebens-jahr vollendet hatte, und ein ganz anderes Konzept war an ihre Stelle getreten.

Dieser Prozess ist oft beschrieben worden ; dagegen fehlen, wie es scheint, noch im-mer Versuche, ihn zu erklären. Im Folgenden soll diese Situation aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet werden. Der Bruch in der Geschichte der Motette, so lautet die hier formulierte These, wird stimuliert nicht durch die innere Logik einer

3 Wolfgang Stephan, Die burgundisch­niederländische Motette zur Zeit Ockeghems, Würzburg 1937 (Reprint Kassel 1973) ; Robert M. Nosow, Equal­Discantus and Florid Motet Styles of Fifteenth­

Century Italy, Ph. D. diss., University of North Carolina at Chapel Hill 1992 ; Julie E. Cumming, The Motet in the Age of Du Fay, Cambridge 1999.

4 Laurenz Lütteken, „Einleitung : Probleme der Gattungsgeschichte des 15. Jahrhunderts“, in : Ders., unter Mitarbeit von Inga Mai Groote (Hgg.), Normierung und Pluralisierung. Struktur und Funktion der Motette im 15. Jahrhundert, Kassel etc. 2011 = Troja – Jahrbuch für Renaissancemusik 9 (2010), 7–13, 13.

5 Vgl. für einen Überblick mit reichen Literaturangaben Melanie Wald-Fuhrmann, „Die Motette im 15. Jahrhundert, ihre Kontexte und das geistliche Hören : Forschungsüberblick und Perspektiven“, in : Normierung und Pluralisierung (wie Anm. 4), 57–86. – Einen allgemeinen Rahmen zum Verständnis der Motette hat Robert Nosow, Ritual Meanings in the Fifteenth­Century Motet, Cambridge 2012, 47 jüngst im Begriff des ‚Rituals‘ gefunden, der gleichermaßen politisch-zeremonielle, oft okkasionelle Zelebrationen (wie z. B. eine joyeuse entrée) als auch kirchliche Feiern umfassen kann : „Motets […]

are special works that set apart ceremonial occasions from ordinary life.“ Das ist sicherlich zutreffend – wenn auch zunächst viel zu allgemein ; vor allem könnte es genauso gut vom polyphonen Messzyk-lus gesagt werden. (Nosow differenziert denn auch zwischen unterschiedlichen, nämlich politischen, diplomatischen, religiösen und gemeinschaftsstiftenden Funktionen der Motette.)

6 Zum Konzept musikalischer bzw. soziokultureller Evolution siehe weiter unten, Abschnitt 7.

kompositorischen Problemgeschichte, sondern durch soziokulturelle Anforderungen – insbesondere durch die Neukontextualisierung der Gattung in den devotionalen Praktiken von Klerikern und Laien im Spätmittelalter. Dies zeitigt sowohl in der Text-wahl als auch in den kompositorischen Mitteln bedeutende Konsequenzen.

Dieser Wandel lässt sich nicht nur negativ – als ein (weitgehender) Verzicht auf eine klar definierte Gattungspoetik – beschreiben, sondern auch durch einen posi-tiven Begriff. Die Texte der ‚neuen‘ Motette sind zum Großteil rein geistlich, ohne politische Implikationen, wobei die Komponisten meist auf gebräuchliche liturgi-sche, paraliturgische oder private Gebetstexte zurückgreifen. Dieser zunächst äußer-lich erscheinende Sachverhalt ist auch musikalisch von Bedeutung, und daher möchte ich für solche gesungenen Gebete (nicht die einzige, aber die erfolgreichste und am Ende des 15. Jahrhunderts dominierende Form) den Terminus ‚Devotionsmotette‘

einführen. Die Subgattung der Devotionsmotette bildet gleichsam den Fluchtpunkt, das neue Ordnungszentrum der zunächst unübersichtlich wirkenden Gattungsdiffe-renzierung. Spätestens um 1500 hat sie ihre Hegemonie innerhalb der Gattung end-gültig durchgesetzt, auch wenn sogleich zugestanden werden soll, dass die politische Motette, die Trauermotette, die Scherzmotette und viele andere Subgenres daneben weiter bestanden – freilich in vergleichsweise bescheidenem Umfang und selten von mehr als nur lokaler Bedeutung.

Der zentraleuropäische Raum hat bei dem Prozess der Aneignung dieses Genres zwar eine eher passive Rolle inne, ist – wie sich etwa am Codex St. Emmeram zeigen ließe – eher Nehmer denn Geber, bildet freilich auch eigene Verfahren der Rezeption und in gewissem Maße auch der Produktion aus. Um die mentalitäts- wie musikge-schichtlichen Voraussetzungen und Konsequenzen des in Frage stehenden Prozesses zu klären, müssen hier jedoch primär die gewissermaßen hegemonialen Bereiche der Musikgeschichte des früheren 15. Jahrhunderts ins Auge gefasst werden, also Frank-reich und Italien und die dort wirksamen Einflüsse Englands, während eine detaillier-tere Untersuchung der Rezeption der Entwicklungen in zentraleuropäischen Quellen späteren Studien vorbehalten bleiben muss.

2. Die Motette – ein cantus ecclesiasticus ?

Noch einmal gilt es mithin, die Frage zu stellen : Was ist eine Motette ? Dem Verfasser eines kleinen Traktats im frühen 15. Jahrhundert erschien diese Frage ganz unprob-lematisch :7

7 Traktat Differentia est inter motetos, im Folgenden nach seinem Entdecker und Editor ‚Anonymus

omnes sunt moteti, quorum tenores sunt nullius prolationis, quia tenores motetorum sunt de mo<do> vel de tempore, sicut <I>da capillorum vel Impudenter, et ultra, quorum tenores a se omnes sunt moteti etc. Et illi debent cantari in ecclesiis, et est cantus ecclesiasticus.

Zweierlei erscheint an dieser Bestimmung interessant. Zum einen spricht die Bemer-kung, dem Tenor fehle die prolatio, ein traditionelles Grundverfahren der Motette an, nämlich die Führung des Tenors in Dauernwerten nicht unter der Brevis. Zum an-deren scheint die nachdrückliche Bestimmung als cantus ecclesiasticus auf eine Funk-tionsveränderung der Motette hinzudeuten, die hundert Jahre zuvor, bei Johannes de Grocheio, ja ausdrücklich als elitäre Kunst zur festlichen Unterhaltung gelehrter Kleriker und Laien definiert worden war.8 Allerdings kann es sich hier auch einfach

Staehelin‘ genannt. Vgl. Martin Staehelin, „Beschreibungen und Beispiele musikalischer Formen in einem unbeachteten Traktat des frühen 15. Jahrhunderts“, in : Archiv für Musikwissenschaft 31 (1974), 237–242, 239. Übersetzung : „Alle Stücke sind Motetten, deren Tenores sich nicht auf der Ebene der prolatio bewegen, denn die Tenores von Motetten bewegen sich auf der Ebene von modus und tempus, so wie Ida capillorum oder Impudenter, und so weiter […]. Und sie sollen in den Kirchen gesungen werden, und sind ein Kirchengesang.“ (Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir.) – Der unverständliche Zusatz „quorum tenores a se omnes sunt moteti“ geht offenbar auf eine Textverderbnis zurück, so auch die Ansicht von Alexander Rausch, dem ich für seine Expertise zur Herkunft dieses Traktats sehr verpflichtet bin. Reinhard Strohm (persönliche Mitteilung) weist al-lerdings darauf hin, dass mit der dunklen Formulierung der Sachverhalt gemeint sein könnte, dass iso-rhythmische Tenores in zentraleuropäischen Quellen zuweilen isoliert überliefert wurden, sozusagen einstimmige Motetten (oder eine Improvisationsgrundlage ?) bildeten. – Von den übrigen bei Staehe-lin, 241 angeführten Form- bzw. Gattungsbeschreibungen derselben Zeit trägt keine zur Erhellung der Frage bei. Vgl. zum Kontext des Traktats auch Tom R. Ward, „A Central European Repertory in Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274“, in : Early Music History 1 (1981), 325–343.

8 „Cantus autem iste [sc. musica composita vel regularis vel canonica quam appellant musicam mensu­

ratam] non debet coram vulgaribus propinari, eo quod eius subtilitatem non advertunt nec in eius auditu delectantur sed coram litteratis et illis, qui subtilitates artium sunt quaerentes. Et solet in eorum festis decantari ad eorum decorationem, quemadmodum cantilena, quae dicitur rotundellus, in festis vulgarium laicorum.“ (Zitiert nach Christopher Page, Discarding Images : Reflections on Music and Culture in Medieval France, Oxford 1993, 81, der den Text von Ernst Rohloff, Die Quellenhand­

schriften zum Musiktraktat des Johannes de Grocheio, Leipzig [1972], 144, emendiert.) Eine eingehende und provokante Interpretation von Grocheios berühmter Passage bei Page, Chapter 2 : „The Rise of the Vernacular Motet“ und Chapter 3 : „Johannes de Grocheio, the Litterati, and Verbal Subtilitas in the Ars Antiqua Motet“. Pages Argumentation zufolge ist „litterati“ ein Synonym für ‚Klerus‘, wäh-rend „illi, qui subtilitates artium sunt quaerentes“, für „those who look for the refinement of skills“

steht (81). An der Sache ändert sich dadurch wenig, denn Johannes de Grocheio wird gewiss nicht je-den Dorfpfarrer oder Minderbruder als Motetten-Connaisseur klassifiziert haben, mag er auch formal unter die Kategorie der „litterati“ fallen. Beschrieben werden die Feste der litterati und der Gesang der Motetten gelegentlich in den Texten der Motetten selbst ; vgl. dazu Sylvia Jean Huot, Allegorical Play in the Old French Motet : The Sacred and the Profane in Thirteenth­Century Polyphony, Stanford 1997, 5–8 und passim.

um eine lokale Differenz handeln : Wenn der Traktat tatsächlich in Zentraleuropa entstanden sein sollte9, nämlich – nach den Vermutungen Martin Staehelins – im öst-lichen Deutschland oder in Böhmen, könnte die ungleich geringere Präsenz einer ent-sprechenden städtisch-säkularen Intelligenzia auch zu einer sekundären, rein kirch-lichen Funktionalisierung der Gattung geführt haben, die so nicht intendiert war.10 Durch die Lokalisierung abseits der musikhistorischen Hauptströmungen würde sich auch erklären, warum der Anonymus Staehelin auf alte, anderswo wohl sogar schon veraltete Werke verweist : Die erwähnte Motette Impudenter circu[m]ivi solum/Virtu­

tibus laudabilis, morbus/(Alma redemptoris mater) wird in der Forschung als ein Werk Philippe de Vitrys gehandelt, dürfte jedenfalls in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zu veranschlagen sein ; zum Zeitpunkt der Abfassung des Traktats war dieses Werk also wenigstens ein halbes Jahrhundert alt.11 Auch die Motette Ida capillorum/Portio naturae/Ante tronum trinitatis entstammt dem – vielleicht etwas späteren – 14. Jahr-hundert.12 Beide Werke sind, und das mag sie für unseren Theoretiker attraktiv ge-macht haben, geistlich orientiert : Impudenter/Virtutibus/(Alma) ist Maria gewidmet, Ida/Portio/Ante, als deren Autoren in F-Sm 222 ein Magister Heinricus (als Verfasser des Texts) und Egidius de Pusieux (mutmaßlich der Komponist) angeführt werden, huldigt der hl. Ida, Gräfin von Boulogne, und basiert ebenfalls auf einer Antiphon.13

Gewiss waren polyphone Gesänge seit langem im Gottesdienst der katholischen Kirche gebraucht worden : im frühmittelalterlichen Organum bis hin zur

9 Staehelin, „Beschreibungen“ (wie Anm. 7), 242, Anm. 25 : „eine Entstehung in böhmischem Gebiet oder auch im östlicheren Deutschland [wäre], mit Blick auf die genannten Vergleichstraktate, durch-aus nicht unglaubwürdig.“

10 Aufgrund der Herkunft der beiden Quellen des Traktats vermutet Staehelin eine Entstehung „im Bereich des Benediktinerordens“ (ebda., 238). Alexander Rausch (persönliche Mitteilung) nimmt an, dass der Traktat im universitären Umfeld entstanden ist, das auch für den Transfer vor allem französi-scher Mensuralmusik in den mitteleuropäischen Raum wichtig gewesen ist – was eine Verbindung mit dem Benediktinerorden freilich nicht ausschließt, aber auch nicht belegt.

11 Im Folgenden wird das Triplum mit der Lesart „circumivi“ zitiert. Weiteres zu diesem Werk in Ab-schnitt 3.

12 Edition : Polyphonic Music of the Fourteenth Century V : Motets of French Provenance, hg. von Frank Ll.

Harrison, Monaco 1974, 24–29, Nr. 5 (nach dem Codex Ivrea) und 30–35, Nr. 5a (nach dem Codex Chantilly).

13 Dass der Theoretiker ausgerechnet diese Werke als Musterbeispiele für Motetten anführt, könnte da-mit zusammenhängen, dass sie bereits einen theoriefähigen Status erreicht hatten : Impudenter/Virtuti­

bus/(Alma) wird in Johannes Boens Traktat als „excellentissim[um] motet[um]“ für die Regel „similis ante similem perfecta“ herangezogen, vgl. Johannis Boen, Ars (musicae), hg. von F. Alberto Gallo (Corpus Scriptorum de Musica 19), [Dallas] 1972, 26, vgl. auch 28 ; Anonymus V nennt Ida/Portio als Beispiel für den color, vgl. Ars cantus mensurabilis mensurata per modos iuris, hg. von C. Matthew Balensuela (Greek and Latin Music Theory 10), Lincoln 1994, 258, vgl. 212.

Dame-Schule um 1200, in Paris um 1300, wie eben Johannes de Grocheio ebenso bezeugt14 wie auch, ex negativo, die Bulle Docta sanctorum patrum von Papst Johannes XXII. (1324/25).15 Doch im 15. Jahrhundert ist ein Aufschwung spezifisch geistlicher Polyphonie zu verzeichnen wie in keinem der Jahrhunderte davor. Die Nachfrage da-nach ist so stark, dass sich in mittel- und osteuropäischen Quellen sogar eine massive Funktionalisierung auch weltlicher Polyphonie durch das Mittel der – im weitesten Sinne – geistlichen Parodie immer wieder nachweisen lässt. (Gewiss war dies auch durch Sprachgrenzen begründet, diese allein machten eine geistliche Ausrichtung der Werke jedoch nicht zwingend erforderlich.) Die späteren Trienter Codices (I-TRmp 90, I-TRcap 93, I-TRmp 88, I-TRmp 91) bieten für solche Kontrafakturen zahlrei-che Beispiele16, ebenso andere zentraleuropäiszahlrei-che (deutszahlrei-che, tszahlrei-chechiszahlrei-che, polniszahlrei-che) Quellen. Damit aber erweist sich dieser in der Musikhistoriographie immer wieder als

‚rückständig‘ bezeichnete Raum – und die Kontrafakturen kamen wohl auch durch die Distanz zu den großen frankoflämischen und italienischen Produktionszentren geistli-cher Musik zustande – tatsächlich und paradoxerweise als Vorreiter einer Entwicklung.

Die Funktionalisierung der Motette als cantus ecclesiasticus – oder allgemei-ner gesprochen, als geistliche Musik – ist nämlich, wie schon einleitend bemerkt, der bemerkenswerteste Zug in der Gattungsgeschichte zwischen 1400 und 1500 : Während Motetten zuvor auch der Liebeslyrik oder der moralischen Scheltrede ge-widmet sind, und während in unserem Zeitraum die sogenannte isorhythmische Motette in erster Linie der religiös-politischen Repräsentation vorbehalten ist, wer-den Textwahl und Funktion der Motette zunehmend und nach 1450 vorwiegend geistlich17, wiewohl sich politische Nebenbedeutungen je nach Aufführungskontext ergeben konnten.

Nicht weniger prophetisch erscheint der Verzicht des Anonymus Staehelin auf eine nähere Definition dessen, was die musikhistorische Forschung seit Friedrich Ludwig als ‚Isorhythmik‘ bezeichnet. Auch wenn der Verzicht auf eine Charakterisierung der

14 Wenn er erklärt, dass die musica simplex und die musica mensurata (also die Kunst der zeitlich regulier-ten Mehrstimmigkeit) beide in der musica ecclesiastica zusammenwirkregulier-ten : „tertium genus est, quod ex istis duobus efficitur“ (Rohloff, Quellenhandschriften [wie Anm. 8], 47).

15 Franz Körndle, „Die Bulle Docta sanctorum patrum. Überlieferung, Textgestalt und Wirkung“, in : Die Musikforschung 63 (2010), 147–165.

16 Siehe beispielsweise David Fallows, „Songs in the Trent Codices : An Optimistic Handlist“, in : Nino Pirrotta/Danilo Curti (Hgg.), I codici musicali trentini a cento anni dalla loro riscoperta, Trient 1986, 170–179 ; Ders., A Catalogue of Polyphonic Songs, Oxford 1999, v. a. 569–603.

17 So die ebenso vielzitierte wie – trotz aller Interpretationen – hoffnungslos vage und unzulängliche Definition des Tinctoris : „Motetum est cantus mediocris : cui uerba cuiusuis materiae sed frequentius divinæ supponuntur.“ Iohannes Tinctoris, Terminorum musicae diffinitorium, Treviso 1495 (Faksimile-Ausgabe : Leipzig 1983), fol. biv.

Manipulationen von color (also einer festgelegten Folge von Tonhöhen) und talea (also einer festgelegten Folge von Tondauern) vielleicht einfach nur pragmatischer Kürze und didaktischer Vorsicht geschuldet sein mag, ist die Offenheit der Formu-lierung doch sehr glücklich, denn eben das allmähliche Zurückweichen isorhyth-mischer Verfahren ist, wie eingangs erwähnt, das charakteristischste Merkmal der kompositionstechnischen Transformation, der die Gattungskonstituenten zwischen 1420 und 1450 unterzogen werden. Dagegen ist eine Unterscheidung des Tenors (oft auch des Bassus) von den übrigen Stimmen durch das Fehlen der prolatio, also durch den Verzicht auf den Dauernwert der Minima (oder kleinerer Werte), für das nicht-isorhythmische Repertoire zwar nicht mehr maßgebend, aber doch erstaunlich oft noch festzustellen.18 Zumindest eine Tendenz zu einer Bewegung des Tenors in langen Notenwerten bleibt bis ins 16. Jahrhundert bestehen, und gerade in der De-votionsmotette.

Bevor wir uns dieser zuwenden (wobei eine Arbeitsdefinition in Abschnitt 6 nach-geliefert wird), muss jedoch die ‚alte‘ Motette erörtert werden, um die wesentlichen Momente ihrer Gattungspoetik im Gegensatz zur ‚neuen‘ Motette deutlicher hervor-treten zu lassen. Der besseren Vergleichbarkeit halber wird dabei jeweils eine Kompo-sition untersucht, die auf die Marienantiphon Alma redemptoris mater Bezug nimmt.

3. Die ‚alte‘ Motette und die Poetik der Isorhythmie

Bis jetzt haben wir – durchaus im Einverständnis mit der vorherrschenden musikhis-toriographischen Tradition – recht pauschalisierend von „der“ isorhythmischen Mo-tette als Synonym für eine im 14. Jahrhundert vorherrschende, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts immer noch beeindruckend vital erscheinende

Gattungskonfi-18 Siehe beispielsweise, um nur die Trienter Codices als Quellen zentraleuropäischer Provenienz zu nennen (die auch bequem online einsehbar sind : Manoscritti musicali trentini del ’400, <http://

www.trentinocultura.net/portal/server.pt/community/manoscritti_musicali_trentini_del_’400/814/

home_page>, 16.9.2014) : Leonel Powers Ave regina celorum, ave domina in Tr92, fol. 134v–135r und fol. 173v–174r (ediert in Lionel Power Complete Works. I : Motets, hg. von Charles Hamm [Corpus Mensurabilis Musicae 50], o. O. 1969, Nr. 7), Guillaume Dufays Ave regina celorum, ave domina (I) in Tr87, fol. 154v (ediert in Guglielmi Dufay Opera Omnia V : Compositiones liturgicae minores [Corpus Mensurabilis Musicae 1-V], hg. von Heinrich Besseler, Rom 1966, Nr. 49) und Dufays Ave regina celorum, ave domina (II), in Tr88, fol. 327v–329r (ebda., Nr. 50). In allen diesen Werken bewegt sich der Tenor im Durchschnitt in wesentlich längeren Notenwerten als die Oberstimmen, obwohl auch hier Minimae auftreten. In keinem dieser Stücke ist der Tenor Träger des Cantus firmus (Dufays Ave regina [I] hat gar keinen Cantus firmus). – Jede dieser Kompositionen ist darüber hinaus auch in an-deren Handschriften überliefert.

guration gesprochen. Indes hat Margaret Bent jüngst mit guten Argumenten gegen den Terminus Einspruch erhoben und nachgewiesen, dass er, wörtlich genommen, meistens unzutreffend ist und die „variety rather than the sameness of strategies of motet composition in the 14th and 15th centuries“ geradezu verdeckt.19 In der Tat sind nur wenige Stücke im wörtlichen Sinne ‚isorhythmisch‘, was streng genommen ja impliziert, dass sie ihre taleae bei wechselnden colores (oder auch nur einem einzigen, durchgehenden color) exakt wiederholen. Häufiger sind Stücke, die die talea beispiels-weise durch Mensurwechsel oder proportionale Verkürzung variieren. Außerdem un-terschlägt der Begriff der Isorhythmie die strukturell ebenso entscheidende Rolle der colores, und ebenso, dass auch im 14. Jahrhundert andere technische Verfahren mög-lich waren, die als ‚nicht-isorhythmisch‘ über einen Kamm geschoren werden.20

So einleuchtend und scharfsichtig diese Argumente Bents sind, hier wird dennoch zum Zweck leichterer Verständigung am Begriff der isorhythmischen Motette fest-gehalten ; Isorhythmik sei daher als pars pro toto für eine Vielfalt kompositorischer Verfahren verstanden. Ich bestreite nicht die Notwendigkeit zu differenzieren ; hier geht es jedoch darum, die Gemeinsamkeiten der ‚neuen‘ Motetten aufzuzeigen, wel-che diese von den ‚alten‘ unterswel-cheiden.

Die Vielfalt der von Bent aufgezeigten Strategien geht von einer einzigen,

Die Vielfalt der von Bent aufgezeigten Strategien geht von einer einzigen,

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