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Hermann Pötzlinger und seine Musiksammlung

Im Dokument Musik – Identität – Raum (Seite 66-84)

Der Mensuralcodex St. Emmeram als Zeugnis der zentraleuropäischen Musikpraxis um 1440*

Der ‚Codex St. Emmeram‘ (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274) ist potenziell eine der nützlichsten Informationsquellen für die musikalische Praxis im deutschsprachigen Zentraleuropa in den Jahren um 1440. Schwierigkeiten bei der Aus-wertung dieser Informationen entstehen freilich gerade durch jene Tatsachen, die diese Handschrift so wertvoll machen, nämlich ihre Seltenheit als große Sammlung mehr-stimmiger Musik und die Knappheit von ähnlichem Material aus dieser Gegend, mit dem sie sich vergleichen ließe.1 Noch dazu ist diese Quelle nicht so sehr institutionell geprägt denn vielmehr das Resultat der Sammelleidenschaft eines bestimmten Indivi-duums, nämlich des Wiener Studenten und Regensburger Schulrektors Hermann Pötz-linger.2 Auch wenn sich eigentlich von jeder Handschrift sagen lässt, dass sie einzigartig ist, ist dieser Gemeinplatz doch für den Codex St. Emmeram besonders zutreffend.

Jeder Versuch, diese Handschrift zu untersuchen, muss ihren Urheber Hermann Pötzlinger mit berücksichtigen. Pötzlingers Lebenslauf sei hier nur sehr kurz zusammen-gefasst.3 Um 1420 in oder in der Nähe von Bayreuth geboren, schrieb sich Pötzlinger

* Ich bin Frau Dr. Margaret Hiley (Rutland, GB, http://www.margarethiley.com) für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen verpflichtet.

1 Die wichtigsten vergleichbaren Handschriften stammen alle aus Norditalien : Aosta, Seminario Mag-giore, Ms. 15 (olim A1D19) ; Bologna, Biblioteca Universitaria, Ms. 2216 ; Bologna, Civico Museo Bibliografico, Ms. Q15 (olim 37) ; Oxford, Bodleian Library, Ms. Canonici misc. 213 ; Trient, Castello del Buonconsiglio, Monumenti e Collezioni Provinciali, Cod. 1374, 1377 und 1379 (olim 87, 90 und 92) ; und Trient, Biblioteca dell’Archivio Capitolare, Cod. 93 (olim B.L.).

2 Pötzlinger wurde als Hauptschreiber und Erstbesitzer der Handschrift zum ersten Mal im Jahre 1982 identifiziert. Vgl. Ian Rumbold, „The Compilation and Ownership of the ‚St Emmeram‘ Codex (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274)“, in : Early Music History 2 (1982), 161–235 ; Dagmar Braunschweig-Pauli, „Studien zum sogenannten Codex St. Emmeram : Entstehung, Da-tierung und Besitzer der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274 (olim Mus.

ms. 3232a)“, in : Kirchenmusikalisches Jahrbuch 66 (1982), 1–48.

3 Eine ausführlichere Untersuchung zu Pötzlinger, seiner Musikhandschrift und seiner Bibliothek mit vollständiger Dokumentation ist zu finden in Ian Rumbold unter Mitarbeit von Peter Wright, Hermann Pötzlinger’s Music Book : The St Emmeram Codex and its Contexts (Studies in Medieval and Renaissance Music 8), Woodbridge 2009.

1436 an der Universität Wien ein, wo er 1439 das Baccalaureat abschloss. In den späten 1440er Jahren war er Rektor der Klosterschule von St. Emmeram in Regensburg. Quel-len belegen, dass er zu dieser Zeit Chorherr der Stiftskirche in Essing im Altmühltal, sowie Pfarrer der Gemeinde Neuhausen bei Landshut war. (Nur als Nebeninformation : Mit ziemlicher Sicherheit fand die berühmte ‚Landshuter Hochzeit‘ des Wittelsbacher Herzogs Ludwigs des Reichen im Februar 1452, bei der angeblich 22.000 Gäste anwe-send waren, während Pötzlingers Amtszeit in Neuhausen statt.) Auch wenn er inner-halb von wenigen Jahren die Stelle des Schulmeisters wieder aufgab (wahrscheinlich als Reaktion auf die Einmischung der Melker Reformatoren), scheint Pötzlinger sich für den Rest seines Lebens nicht weit weg von Regensburg oder dem Kloster entfernt zu haben. Die einzige Ausnahme bildete der Aufenthalt von ein paar Jahren an der Uni-versität Leipzig, der im Winter 1456/57 begann. Kurz darauf tauschte er seine Pfarrei in Neuhausen gegen eine in Gebenbach. Pötzlinger starb 1469, und zum Zeitpunkt seines Todes wohnte er immer noch in einem Haus, das zur Klosterschule in Regensburg ge-hörte. Zu seinen Lebzeiten baute er eine über 100 Handschriften zählende persönliche Bibliothek auf, die er in den späten 1450er Jahren gegen eine Art Rente (precaria) des Klosters tauschte ; diese Handschriften bilden heute noch einen Teil der St. Emmera-mer Sammlung, die in der Bayerischen Staatsbibliothek zu finden ist.

Ein Problem liegt in der Tatsache, dass Pötzlingers Musikbuch ungefähr aus den Jahren zwischen 1439 (dem Jahr seines Universitätsabschlusses) und 1443 stammt.

Wir haben nur wenige Informationen über seine Aktivitäten in diesen Jahren. Es gibt indirekte Hinweise darauf, dass er vielleicht vorhatte, nach einer Zeit der Abwesen-heit nach Wien zurückzukehren – immerhin wurde er von der Universität beurlaubt,4 und wozu hätte er sonst diese Beurlaubung benötigt ? Wir wissen – oder zumindest legen verloren gegangene Dokumente diese Annahme nahe –, dass er im Jahre 1439 Pfarrer in Auerbach in der Diözese Bamberg war.5 Dokumente des Generalvikars von Regensburg, die sogenannten Vikariatsrechnungen, weisen ihn wahrscheinlich bereits 1446 als Priester in Erbendorf in der Diözese Regensburg aus, zwei Jahre bevor er 1448 urkundlich als Schulmeister in St. Emmeram belegt ist (siehe Abb. 1).6

4 „Acta in 2° decanatu Magistri Iohannis Widmann de Dinckelspühel electi in die sanctorum martirum Tiburcy et Valeriani anno domini etc. 39 […] in die sanctorum Philippi et Iacobi congregate fuit facultas […] Item data fuit licencia [absencie] secundum communem formam […] Hermanno de Bairreutt.“ Wien, Universitätsarchiv, Acta facultatis artium II, fol. 135v.

5 Friedrich Wachter, General­Personal­Schematismus der Erzdiözese Bamberg, 1007–1907, Bamberg 1908, 370 (Nr. 7601).

6 Zu weiteren Hinweisen auf Pötzlinger in den Vikariatsrechnungen siehe Ian Rumbold, „Lehren und Lernen in der St. Emmeramer Klosterschule im Spätmittelalter : Hermann Pötzlinger als Rector Sco-larium zur Zeit der Melker Reform“, in : Peter Schmid/Rainer Scharf (Hgg.), Gelehrtes Leben im Kloster : St. Emmeram als Bildungszentrum im Spätmittelalter, München 2012, 243–259. Zu diesen

Abb. 1 : Franken und die Oberpfalz

Allerdings folgt daraus nicht, dass Pötzlinger notwendigerweise viel Zeit an die-sen beiden Orten verbrachte. Es war weithin gebräuchlich, einen stellvertretenden Vikar für das Ausführen der gottesdienstlichen und seelsorgerischen Pflichten in der Gemeinde zu entlohnen, und es ist aus den Vikariatsrechnungen ersichtlich,

Quellen im Allgemeinen siehe Johann Gruber, „Vikariats rech nungen und Steuerregister als Quellen zur spätmittelalterlichen Geschichte des Bistums Regensburg“, in : Walter Koch u. a. (Hgg.), Auxilia historica : Festschrift für Peter Acht zum 90. Geburtstag (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 132), München 2001, 73–84.

1436 an der Universität Wien ein, wo er 1439 das Baccalaureat abschloss. In den späten 1440er Jahren war er Rektor der Klosterschule von St. Emmeram in Regensburg. Quel-len belegen, dass er zu dieser Zeit Chorherr der Stiftskirche in Essing im Altmühltal, sowie Pfarrer der Gemeinde Neuhausen bei Landshut war. (Nur als Nebeninformation : Mit ziemlicher Sicherheit fand die berühmte ‚Landshuter Hochzeit‘ des Wittelsbacher Herzogs Ludwigs des Reichen im Februar 1452, bei der angeblich 22.000 Gäste anwe-send waren, während Pötzlingers Amtszeit in Neuhausen statt.) Auch wenn er inner-halb von wenigen Jahren die Stelle des Schulmeisters wieder aufgab (wahrscheinlich als Reaktion auf die Einmischung der Melker Reformatoren), scheint Pötzlinger sich für den Rest seines Lebens nicht weit weg von Regensburg oder dem Kloster entfernt zu haben. Die einzige Ausnahme bildete der Aufenthalt von ein paar Jahren an der Uni-versität Leipzig, der im Winter 1456/57 begann. Kurz darauf tauschte er seine Pfarrei in Neuhausen gegen eine in Gebenbach. Pötzlinger starb 1469, und zum Zeitpunkt seines Todes wohnte er immer noch in einem Haus, das zur Klosterschule in Regensburg ge-hörte. Zu seinen Lebzeiten baute er eine über 100 Handschriften zählende persönliche Bibliothek auf, die er in den späten 1450er Jahren gegen eine Art Rente (precaria) des Klosters tauschte ; diese Handschriften bilden heute noch einen Teil der St. Emmera-mer Sammlung, die in der Bayerischen Staatsbibliothek zu finden ist.

Ein Problem liegt in der Tatsache, dass Pötzlingers Musikbuch ungefähr aus den Jahren zwischen 1439 (dem Jahr seines Universitätsabschlusses) und 1443 stammt.

Wir haben nur wenige Informationen über seine Aktivitäten in diesen Jahren. Es gibt indirekte Hinweise darauf, dass er vielleicht vorhatte, nach einer Zeit der Abwesen-heit nach Wien zurückzukehren – immerhin wurde er von der Universität beurlaubt,4 und wozu hätte er sonst diese Beurlaubung benötigt ? Wir wissen – oder zumindest legen verloren gegangene Dokumente diese Annahme nahe –, dass er im Jahre 1439 Pfarrer in Auerbach in der Diözese Bamberg war.5 Dokumente des Generalvikars von Regensburg, die sogenannten Vikariatsrechnungen, weisen ihn wahrscheinlich bereits 1446 als Priester in Erbendorf in der Diözese Regensburg aus, zwei Jahre bevor er 1448 urkundlich als Schulmeister in St. Emmeram belegt ist (siehe Abb. 1).6

4 „Acta in 2° decanatu Magistri Iohannis Widmann de Dinckelspühel electi in die sanctorum martirum Tiburcy et Valeriani anno domini etc. 39 […] in die sanctorum Philippi et Iacobi congregate fuit facultas […] Item data fuit licencia [absencie] secundum communem formam […] Hermanno de Bairreutt.“ Wien, Universitätsarchiv, Acta facultatis artium II, fol. 135v.

5 Friedrich Wachter, General­Personal­Schematismus der Erzdiözese Bamberg, 1007–1907, Bamberg 1908, 370 (Nr. 7601).

6 Zu weiteren Hinweisen auf Pötzlinger in den Vikariatsrechnungen siehe Ian Rumbold, „Lehren und Lernen in der St. Emmeramer Klosterschule im Spätmittelalter : Hermann Pötzlinger als Rector Sco-larium zur Zeit der Melker Reform“, in : Peter Schmid/Rainer Scharf (Hgg.), Gelehrtes Leben im Kloster : St. Emmeram als Bildungszentrum im Spätmittelalter, München 2012, 243–259. Zu diesen

dass Pötzlinger dies in Erbendorf mindestens einmal im Jahre 1448 gemacht hat.

Er tat dies später wieder, sowohl in Neuhausen als auch in Gebenbach. Auf jeden Fall ist es zumindest möglich (wenn man die bequeme Reisemöglichkeit entlang der Donau mit in Betracht zieht), dass Pötzlinger sein Leben als Landpfarrer in der Oberpfalz, die zu diesem Zeitpunkt immer wieder auch zu einem Hussiten-schlachtfeld wurde, zum Beispiel durch Aufenthalte in einem Kulturzentrum wie Wien auflockerte.

Die Regensburger Vikariatsrechnungen enthalten einige weitere interessante In-formationen. Die erste betrifft Wolfgang Chranekker, Organist an der Kirche in St. Wolfgang am Abersee, der eine dritte Schicht zu Pötzlingers Musiksammlung hinzufügte, wie Peter Wright festgestellt hat.7 Es scheint, dass Chranekker, wie auch Pötzlinger, im Jahre 1448 in Regensburg wohnhaft war, da er zu diesem Zeitpunkt zum altarista am Fronleichnamsaltar in St. Ulrich, der Dompfarrkirche, ernannt wurde.8

Der zweite wichtige Punkt, der aus den Vikariatsrechnungen ersichtlich wird, führt uns zurück zum Hof des bereits erwähnten Ludwig des Reichen. Bei Übernahme ei-ner Gemeinde musste ein neuer Amtsinhaber normalerweise dem Geei-neralvikar eine Steuer de mediis fructibus zahlen – ein gemeinsam ausgehandelter Anteil der Zehnten seines ersten Amtsjahres. Als Pötzlinger die Gemeinde in Gebenbach übernahm, ist Ludwigs Kanzler Christoph Dorner persönlich eingeschritten, um für ihn eine Frei-stellung auszuhandeln.9 Wir wissen natürlich nicht, was seine genauen Beweggründe waren, aber es scheint irgendeine Beziehung zwischen Pötzlinger und dem Hof in der Burg Trausnitz gegeben zu haben.

Weiterhin geht aus den Vikariatsrechnungen hervor, dass Pötzlinger offenbar ein Testament hinterließ. Nachdem er den Großteil seines Hab und Guts mit St. Em-meram eingetauscht hatte, blieb ihm wahrscheinlich nicht viel zu vermachen, aber das Generalvikariat erhielt sechs Gulden.10

7 Peter Wright, „The Contribution and Identity of Scribe D of the ‚St Emmeram Codex‘“, in : Rainer Kleinertz/Christoph Flamm/Wolf Frobenius (Hgg.), Musik des Mittelalters und der Renaissance : Festschrift Klaus­Jürgen Sachs zum 80. Geburtstag (Studien zur Geschichte der Musiktheorie 8), Hildes-heim 2010, 283–316.

8 „In Officio vicariatus 1448/Die Sancti Emmerammi Inceptum est […] I fl. Ad altare corporis X. In-vestitus Wolfgangus Cranekker.“ Regensburg, Bischöfliches Zentralarchiv, Bischöfliches Domkapitel, Vikariatsrechnungen, 1448, pag. 1.

9 „Secuntur percepta de mediis fructibus beneficiorum […] Magister Hermanus Potzlinger plebanus in Gebenpach concordavit ad arbitrium Christoferi Dorner cancellarii domini ducis Ludwici.“ Dass., 1460 I, pag. 48 ; 1460 II (nicht paginiert ; Randnotiz : „non [de dit]“) .

10 „Secuntur percepta de litteris confirmacionis [beneficiorum] et diversis in genere […] Item a testa-mentariis quondam Hermanni Poczlinger ex testamento suo VI flor.“ Dass., 1469, pag. 39.

Nun zum Inhalt des Codex St. Emmeram. In den 1980er Jahren ermöglichte es eine allgemeine Übersicht des Repertoires (neben anderen Methoden) Reinhard Strohm, eine hypothetische Reihenfolge aufzustellen, in der die Lagen kopiert wurden.11 Der Begleitkommentar zur Faksimile-Ausgabe von Clm 14274 versuchte zwar, eine ge-nauere Analyse des Handschrifteninhalts als Ganzes zu machen12, aber es wurde auch klar, wie viele Fragen noch unbeantwortet bleiben müssen, solange nicht die vollstän-dige kritische Ausgabe der Handschrift (derzeit in Vorbereitung) fertiggestellt ist. Bis dahin stützen sich Beobachtungen notgedrungen auf vorläufige Übertragungen der Musik. Einige generelle Anmerkungen mögen im Folgenden wenigstens als Anregung zu weiteren Diskussionen dienen.

Neben anderen Erkenntnissen, die sich aus Pötzlingers Musikbuch gewinnen las-sen, wird klar, dass Musik aus nahezu allen Teilen Europas in dieses Gebiet kam : von England im Norden bis nach Italien im Süden, von Frankreich im Westen bis nach Böhmen im Osten. Das Vorhandensein des englischen Repertoires im Besonde-ren deutet darauf hin, dass Musiker hier mit vielen der neuesten Entwicklungen um 1440 vertraut waren, während der Einbezug böhmischer Musik, die in vergleichbaren norditalienischen Handschriften fehlt, vermutlich den nordöstlicheren Entstehungs-ort dieser Handschrift reflektiert und womöglich auf die engen Verbindungen zwi-schen der Prager und der Wiener Universität hinweist.

Neben dem offensichtlichsten Unterschied hinsichtlich der Notation – die erste Schicht der Handschrift (fol. 13r–81r) verwendet schwarze Notation, die zweiten und dritten Schichten (fol. 81v–128v bzw. fol. 1r–12v und 129r–158v) weiße No-tation – weichen die drei Schichten in folgenden Punkten voneinander ab : Was den Umfang angeht, ist die erste Schicht mit 68,5 Folien die größte ; die zweite zählt 47,5 und die dritte nur 42 Folien (siehe Abb. 2).

Weitere Unterschiede betreffen Fragen des Layouts (der Mise-en-page) und, damit in Zusammenhang stehend, der Anzahl der Musikstücke. Die erste Schicht enthält nicht weniger als 132 Stücke, die zweite 82, und die dritte nur 41 (siehe Abb. 3).

In der ersten Schicht nimmt jedes Stück durchschnittlich 52 Prozent eines Folios in Anspruch, in der zweiten 58 und in der dritten Schicht dann riesige 102 Prozent.

Also wird, je weiter die Zusammenstellung der Handschrift fortschreitet, entweder die Schrift größer, oder es werden die Kompositionen länger, bzw. es tritt eine

Kom-11 Reinhard Strohm, „Zur Datierung des Codex St. Emmeram (Clm 14274) : Ein Zwischenbericht“, in : Ludwig Finscher (Hg.), Quellenstudien zur Musik der Renaissance, II : Datierung und Filiation von Musikhandschriften der Josquin­Zeit (Wolfenbütteler Forschungen 26), Wiesbaden 1983, 229–238.

12 Der Mensuralcodex St. Emmeram : Faksimile der Handschrift Clm 14274 der Bayerischen Staatsbibliothek München, hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek und Lorenz Welker, Kommentar und Inventar von Ian Rumbold unter Mitarbeit von Peter Wright (Elementa musicae 2), Wiesbaden 2006.

bination dieser zwei Faktoren ein ; die Schrift wird jedenfalls sprunghaft größer (fast doppelt so groß), als Chranekker den Prozess übernimmt und die dritte Schicht hin-zufügt.

Abb. 2 : Clm 14274, Folienzahl (Schichten 1–3)

Abb. 3 : Clm 14274, Musikalische Stücke (Schichten 1–3)

Was das Repertoire betrifft, so ist die früheste der drei Schichten der Handschrift eher retrospektiv, zudem stärker böhmisch beeinflusst als die zwei späteren Schichten.

Erkennbar italienische Musik, zum Beispiel, scheint auf die erste Schicht beschränkt zu sein (siehe Tabelle 1), und bis zu einem gewissen Grad spiegelt dies sicherlich die allgemeine Verlagerung der Kompositionstätigkeit im frühen 15. Jahrhundert von Italien in den transalpinen Raum.

 

1. Schicht (68.5/158)

43.4%

2. Schicht (47.5/158)

30.1%

3. Schicht (42.0/158)

26.6%

 

1. Schicht (132/255)

51.8%

2. Schicht (82/255)

32.2%

3. Schicht (41/255)

16.1%

Nr. Fol. Incipit Komponist Konkordanzen 59 35v–36r Et in terra (‚Bosquet‘) Antonio Zacara da

Teramo

65 39v Et in terra Antonio da Cividale BQ15, Bud297, M3224, Stras 82 49v–50r Patrem omnipotentem Antonio da Cividale BQ15 97 56v–57r O Maria davidica/

O Maria maris stella

BQ15, Pad1106 100 58v, 59r Kyrie leyson (Questa

fanciull’ amor)

Tabelle 1 : Italienisches Repertoire in Clm 14274 (1. Schicht)

Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass wahrscheinlich Einiges aus diesem italie-nischen Repertoire in Clm 14274 – zumindest die Nummern 62, 65 und 97 – über Böhmen vermittelt wurde. Soweit identifizierbar, bleibt böhmische Musik ebenfalls auf die erste Schicht beschränkt (siehe Tabelle 2) :

Nr. Fol. Incipit Konkordanzen

119 66r Veni dulcis consolator Chr, Fra, Pr K Vš. 376 Tabelle 2 : Anonymes böhmisches Repertoire (1. Schicht)

Charakteristisch sind hierbei die markanten Mensurzeichen, die Tom Ward als Erster als spezifisch zentraleuropäisch bezeichnet hat13, die aber tatsächlich Böhmen ur-sprünglich aus Italien erreicht haben dürften (siehe Abb. 4).

= prolatio minor = prolatio maior Abb. 4 : Zentraleuropäische Mensurzeichen

Dem älteren Repertoire der ersten Schicht können mindestens vier Stücke französi-schen Ursprungs hinzugefügt werden (siehe Tabelle 3), von welchen wenigstens zwei – die Nummern 41 and 76 – auch in Böhmen gut bekannt waren.

Nr. Fol. Incipit Komponist Konkordanzen

26 22v O regina clementissima

Richard Loqueville 41 27v–28r Par montes foys/

Ad honorem

Jehan Vaillant

BasM.1, Brus, Ch, Grot, Man, Stras, WolkA, WolkB

53 32v Kyrie Summe clementissime

Johannes Graneti

Apt, Barc2, Barc853b, Mad, P1257, RU1419

76 46v–47r Cristus rex pacificus/

Jour a jour la vie

F26, Fa (x2), LoTit, Pit, Rei, Stras, Trém, WolkA, WolkB Tabelle 3 : Älteres französisches Repertoire (1. Schicht)

Die ‚zentraleuropäischen‘ Mensurzeichen wurden auch von dem deutschsprachigen Geistlichen und Komponisten Rudolf Volkhardt von Häringen verwendet, wenn wir in der Annahme recht gehen, dass Levat autentica und das tropierte Sanctus Pater ingenitus seine Werke sind (siehe Tabelle 4).

13 Tom R. Ward, „A Central European Repertory in Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274“, in : Early Music History 1 (1981), 325–343, 326 f.

Nr. Fol. Incipit

78 47v–48r Deo dicamus/Benedicamus regi unico 85 51v–52r Levat autentica zelorum agmina 90 53v–54r Sanctus Pater ingenitus

Tabelle 4 : Musik wahrscheinlich von Rudolfus Volkhardt von Häringen (1. Schicht)

Auch wenn er für den Großteil seines Lebens engere Verbindungen zu Regensburg und München hatte, war Rudolf zumindest in den 1430er Jahren auch in Wien aktiv – an der Universität, am Kollegiatsstift St. Stephan und am kaiserlichen Hof –, und aus dieser Zeit müssen diese Kompositionen stammen. Vielleicht sind also die drei anonymen Kyrie-Vertonungen in der ersten Schicht, die auch diese Zeichen verwen-den (siehe Tabelle 5) eher deutsch bzw. österreichisch als böhmisch.

Nr. Fol. Incipit

47 30v–31r Kyrie Fons bonitatis/Sacerdos summe 55 33v Kyrie paschale

57 34v Kyrie

Tabelle 5 : Anonyme Kyries mit ‚zentraleuropäischen‘ Mensurzeichen (1. Schicht)

Zu dem Zeitpunkt, als die zweite Schicht der Handschrift begonnen wurde, erhielt Pötzlinger möglicherweise Zugriff auf eine andere Repertoirequelle, die sowohl mo-derner als auch weniger stark böhmisch beeinflusst war als jene, aus der er bisher sein Material bezogen hatte. Vielleicht war dies eine Folge seiner Begegnung mit dem noch unidentifizierten Schreiber, der ihm bei der Erstellung der zweiten Schicht des Musikbuches Hilfe leistete und der Pötzlinger möglicherweise auch lehrte, die neuere weiße Notation zu verwenden. Die Handschrift des gleichen Schreibers ist auch in Pötzlingers Abschrift der Bibel sowie in einigen anderen Handschriften, die zur glei-chen Zeit wie Clm 14274 kopiert wurden, erkennbar.14

Der Anteil englischer Musik (siehe Tabelle 6) ist in der zweiten Schicht der Hand-schrift nicht größer als in der ersten :

14 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14301 (Boethius, De consolatione philosophie, V), Clm 14304 (Altes Testament, 1. Teil), Clm 14305 (Neues Testament), Clm 14309 (Peter von Rosenheim, Roseum memoriale), Clm 14318–14319 (Nikolaus von Dinkelsbühl, Lectura Mellicensis ; Heinrich Tot-ting von Oyta, De contractibus) und Clm 14955 (Altes Testament, 2. Teil).

Nr. Fol. Incipit Komponist Konkordanzen 8 7v–8v Beata dei genitrix Dunstable/

(Binchois)

84 50v–51r Ibo michi ad montem mirre ––

101 58v–59r Regina [celi] letare ––

112 63v–64r Quam pulchra es (Dunstaple) Ao, BQ15, BU, Camb314, ModB, Tr92

138 76v–77r Salve Sancta parens ––

143 78v–79r Et in terra pax (Dunstaple) Tr90, Tr92, Tr93 174 93v–94r,

Et in terra pax (Leonel Power) Ao, Tr92 220 121v–

Et in terra pax Benet Ox87, Tr90, Tr93

249 147v–

Tabelle 6 : Englische Kompositionen in Clm 14274. Komponistennamen nach StEm : kursiv, an-sonsten anhand der Konkordanzen erschlossen ; Schattierungen vgl. Abb. 2/3.

Das englische Repertoire steigt aber in der dritten Schicht dramatisch an ; dies sugge-riert, dass Chranekker noch besseren Zugang zum modernen Repertoire hatte als Pötzlinger (siehe Abb. 5).

Abb. 5 : Englische Stücke in Clm 14274 (Schichten 1–3)

Französische Chansons und auch einige deutsche Lieder, von Landinis Questa fanciull’

amor ganz zu schweigen, haben bekannterweise als Kon tra fakta in Zentraleuropa ei-nen neuen Aufschwung erlebt. Dieses Vorgehen scheint bei Pötzlinger und seiei-nen Assistenten bei Anlage der ersten beiden Schichten größeren Anklang gefunden zu haben als beim Schreiber der dritten Schicht (siehe Abb. 6).

 

Abb. 6 : Kontrafakturen in Clm 14274 (Schichten 1–3)

Es gäbe noch viel zu sagen über die Wege, auf denen die Originalmusik dieser Lieder umgeschrieben wurde – oder auch nicht –, um sie neuen Texten anzupassen, sowie über die neuen Texte, die hinzugefügt wurden. Zweifelsohne konnte Kontrafazierung zu eigenem dichterischen Ausdruck anregen. Motetten boten natürlich ebenfalls die Möglichkeit für sekundäre textliche wie auch musikalische Kreativität, aber feierliche Motetten sind hier nur durch Dufays Supremum est mortalibus und Brassarts Christi nutu sublimato vertreten, beide in der zweiten Schicht der Handschrift (siehe Ta-belle 7).

Nr. Fol. Incipit Komponist Konkordanzen

8 7v–8v Beata dei genitrix Dunstable/

(Binchois)

84 50v–51r Ibo michi ad montem mirre ––

101 58v–59r Regina [celi] letare ––

112 63v–64r Quam pulchra es (Dunstaple) Ao, BQ15, BU, Camb314, ModB, Tr92

138 76v–77r Salve Sancta parens ––

143 78v–79r Et in terra pax (Dunstaple) Tr90, Tr92, Tr93 174 93v–94r,

Et in terra pax (Leonel Power) Ao, Tr92 220 121v–

Et in terra pax Benet Ox87, Tr90, Tr93

249 147v–

Tabelle 6 : Englische Kompositionen in Clm 14274. Komponistennamen nach StEm : kursiv, an-sonsten anhand der Konkordanzen erschlossen ; Schattierungen vgl. Abb. 2/3.

Das englische Repertoire steigt aber in der dritten Schicht dramatisch an ; dies

Das englische Repertoire steigt aber in der dritten Schicht dramatisch an ; dies

Im Dokument Musik – Identität – Raum (Seite 66-84)