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Netzwerke lokaler Komponisten in Wien um 1430

Im Dokument Musik – Identität – Raum (Seite 114-136)

Die „Suche nach einheimischen Komponisten in den Trienter Codices“, wie sie Rudolf Flotzinger unternommen hat1, förderte immerhin 11 Prozent „Inländer“ zutage. Diese lokalen Autoren stellen zwar eine „eindeutige Minderheit“ dar2, sind aber in ihrer Ge-samtheit durchaus repräsentativ für jene Orte und Institutionen, die man paradoxerweise als ‚periphere Zentren‘ bezeichnen könnte. Für weitere Quellenforschungen bietet die Liste entscheidende Anregungen, auch wenn der eine oder andere Name in Zukunft voraussichtlich biographisch geklärt oder aber gestrichen werden wird. So ist „Ludo, Io.

de“3 niemand anderer als Johannes Brassart, wobei „de Ludo“ seinen wahrscheinlichen Geburtsort Lauw bei Tongeren (frz. Lowaige) bezeichnet.4 In Ox, fol. 131v steht über der vierstimmigen Motette Fortis cum quevis actio die Angabe „Iohannes de Ludo compossuit [!]. Ad honorem sancti Io. evangelisti“ ;5 es handelt sich um eine Motette für Saint-Jean l’Évangéliste in Lüttich, wo Brassart 1422–1431 als Succentor diente.

In den letzten Jahren verdichtet sich der (nicht nur) auf Wien zentrierte Personen-kreis um den Büchersammler und Hauptschreiber des Mensuralcodex St. Emmeram (StEm), Hermann Pötzlinger, über dessen Biographie wir dank der rezenten Forschun-gen von Ian Rumbold6 Forschun-genauestens Bescheid wissen. Die folForschun-genden BeobachtunForschun-gen stellen den Versuch dar, eine 1981 formulierte These Tom R. Wards zu überprüfen :

1 Rudolf Flotzinger, „Auf der Suche nach einheimischen Komponisten in den Trienter Codices.

Fakten, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen“, in : Marco Gozzi (Hg.), Manoscritti di polifonia nel Quattrocento europeo. Atti del Convegno internazionale di studi Trento – Castello del Buonconsiglio 18­19 ottobre 2002, [Trient] 2004, 193–204.

2 Ders., „Musikalische Interkulturalität ? Zur Rezeption westlichen Komponierens in den Ländern der Habsburger bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts“, in : Jean-Marie Cauchies (Hg.), Pays bourguignons et autrichiens (XIVe­XVIe siècles) : une confrontation institutionelle et culturelle. Rencontres d’Innsbruck (29 septembre au 2 octobre 2005), Neuchâtel 2006, 221–234, 224–227.

3 Ebda., 226.

4 Vgl. Keith E. Mixter, „Johannes Brassart : A Biographical and Bibliographical Study“, in : Musica Disciplina 18 (1964), 37–62, 38 (nach Suzanne Clercx). Eine andere Möglichkeit ist eine Verwechs-lung mit „de Leodio“, wie in Ox, fol. 7v (O flos flagrans).

5 David Fallows (Hg.), Oxford, Bodleian Library, MS Canon Misc. 213, Chicago etc. 1995, fol. 131v–

132. In Tr87, fol. 79v wird diese Motette „Io. brassart“ zugeschrieben.

6 Ian Rumbold/Peter Wright, Hermann Pötzlinger’s Music Book. The St Emmeram Codex and its Con­

texts (Studies in Medieval and Renaissance Music 8), Woodbridge 2009, 40–54. Siehe auch den Bei-trag von Ian Rumbold im vorliegenden Band.

„Vienna may prove to have been the place in which other composers known only through the appearance of pieces in the manuscript [D-Mbs clm 14274] worked.“7 Hermann Edlerawer

Eine für das Wiener städtische Musikleben im Zeitraum 1420–1450 zentrale Figur, Her-mann Edlerawer, der um 1440 als Kantor von St. Stephan bzw. der Bürgerschule (Kan-torei) belegt ist, hat bisher die meiste Aufmerksamkeit der Forschung erlangt.8 Hans Jo-achim Mosers plakative Apostrophierung des Kantors als „Wiens frühester Polyphonist“9 kann heute – sechzig Jahre später – nur noch eingeschränkt akzeptiert werden. Die von ihm überlieferten liturgischen Stücke gaben Anlass zu der These, dass Edlerawer ein semi-professioneller Komponist war10, sich also nicht sein Leben lang mit dem Komponieren beschäftigte, sondern nur während seiner Amtszeit für den jährlichen Bedarf produzierte.

Dass er die Technik des Fauxbourdon in seinen Werken ausgiebig einsetzte, ist ein zwie-spältiger Befund. Zunächst fasziniert es, wenn ein lokaler Komponist ein zu dieser Zeit avanciertes Verfahren aufgreift, sich an einem Vorbild wie Guillaume Dufay orientiert und so ein Paradigma für Praktiken der Aneignung musikalischer Repertoires in Zentral-europa schafft. Dieses Paradigma wird nur unwesentlich beeinträchtigt durch die histo-rische Tatsache, dass Dufay selbst die Verwendung des Fauxbourdon exakt zu dem Zeit-punkt zurücknahm11 als Edlerawer sie forcierte. Auch der ästhetische Eindruck, dass für Dufay der Fauxbourdon eine mögliche symbolische Dimension erhielt („Vos qui secuti estis“ in der Postcommunio der Missa Sancti Jacobi)12, während er bei Edlerawer auf eine

7 Tom R. Ward, „A Central European Repertory in Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274“, in : Early Music History 1 (1981), 325–343, 339.

8 Die relevanten Dokumente wurden von Ian Rumbold gesammelt und erläutert : „The Compilation and Ownership of the ‘St Emmeram’ Codex (Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274)“, in : Early Music History 2 (1982), 161–235, 210–214. Reinhard Strohm, Art. „Edlerawer“, in : MGG2, Personenteil 6 (2001), 84 f. präzisiert : „Seine Anstellung – zu unterscheiden vom Cantorenamt der Kollegiatkirche selbst – endete vermutlich Mitte 1449“ (85).

9 Hans Joachim Moser, „Hermann Edlerauer 1440/43/44. Wiens frühester Polyphonist“, in : Musik­

erziehung 8 (1954/55), 35–37.

10 Rumbold/Wright, Pötzlinger’s Music Book (wie Anm. 6), 45.

11 Die wahrscheinlich 1437 oder 1438 komponierte Motette Juvenis qui puellam „is Dufay’s last work using fauxbourdon : it depicts, in a comical fashion, the falsettos of three lawyers“ (Reinhard Strohm, The Rise of European Music, 1380–1500, Cambridge 1993, 251). Teile dieses unvollständig erhaltenen Werks finden sich in den heute in München (und Wien) aufbewahrten Chorbuchfragmenten : Mar-garet Bent/Robert Klugseder, Ein Liber cantus aus dem Veneto (um 1440). Fragmente in der Bay­

erischen Staatsbibliothek München und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Wiesbaden 2012, 120–122 (Faksimile von München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus. ms. 3224, fol. 105v–106v).

12 Willem Elders, „Guillaume Dufay’s Concept of Faux-bourdon“, in : Ders., Symbolic Scores. Studies

bloße Technik reduziert wurde, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Die durchgehende Transposition der Oberstimme in die Unterquarte, modern gesprochen das stereotype Komponieren in Sextakkordprogressionen, und die Beschränkung auf einen zweistimmi-gen Gerüstsatz ohne Mittelstimme gehen Hand in Hand.

Sicherlich bieten die Mariensequenz Verbum bonum13 und die vergleichbare Pfingst sequenz Que corda nostra14 einen guten Einblick in Edlerawers stilistische Eigenart und in seine kompositorischen Möglichkeiten. Für eine angemessene Ein-schätzung kommt aber in erster Linie ein Stück in Frage, dessen Faktur die beiden Einwände – Verzicht auf eine selbständige dritte Stimme mittels Fauxbourdon oder Außenstimmensatz – relativiert : die in StEm und Tr93 überlieferte Sequenz für Fron-leichnam Lauda Syon salvatorem, die allgemein als sein ambitioniertestes Werk gilt.15 Nur eine Passage in dem 265 Mensuren umfassenden Stück, der Vers „In figuris“, rechnet mit improvisiertem Fauxbourdon. Die Stegreifausführung des Contratenors zeigt sich in den typischen Konflikten, die bei einem komponierten Satz ausgeglichen worden wären : In M. 199 etwa sollte das e’ liegenbleiben :

Notenbeispiel 1 : H. Edlerawer, Lauda Syon, M. 196–203 (Übertragung nach StEm, fol. 157v)

in the Music of the Renaissance (Symbola et Emblemata 5), Leiden 1994, 17–44.

13 CD-Aufnahme : The St Emmeram Codex, Ensemble Stimmwerck 2009 (Aeolus AE-10023), Track 13.

14 Vgl. die Ersteinspielung dieses Stücks und das Booklet von Alexander Rausch in : Romanorum rex : Musik in Zentraleuropa um die Mitte des 15. Jahrhunderts (Klingende Forschung 3, OEAW PHA CD 32), Wien 2012, Track 9.

15 StEm, fol. 155v–158r (als letztes Stück des Codex !) und Tr93, fol. 226v–230r.

Obwohl Lauda Syon im Gegensatz zu Edlerawers anderen Werken nicht durchgängig im Fauxbourdon angelegt ist, fallen doch immer wieder Anklänge an diese von ihm bevorzugte Satzweise auf. So etwa gleich in der Fortführung des Verses „In figuris“, wo sich der Anfang von „Bone pastor“ fauxbourdon-artig aus einem statischen C-Klang herauslöst, um in einen beweglichen F-C-Klang zu münden :

Notenbeispiel 2 : H. Edlerawer, Lauda Syon, M. 215–220 (Übertragung nach StEm, fol. 157v–

158r)

Die produktionsästhetische Deutung, dass hier der unmittelbar vorausgehende Ab-schnitt nachwirke, greift wohl zu kurz ; will man sich nicht auf die simple Erklärung zurückziehen, dass mangelnde Inspiration des Komponisten vorliege, könnte man die Rezeptionsästhetik bemühen, der zufolge der Beginn von „Bone pastor“ ein Spiel mit der auf den Fauxbourdon eingestimmten Erwartungshaltung der Hörer (und der Sän-ger !) wäre, wobei das Spiel wie so oft darin besteht, die Hörerwartung zu täuschen.

Der Contratenor wird jedenfalls in das Stimmengefüge einbezogen, wie schon der Anfang der Sequenz beweist :

Notenbeispiel 3 : H. Edlerawer, Lauda Syon, M. 1–15 (Übertragung nach StEm, fol. 155v–156r)

Im Discantus werden die ersten zwei Strophen wiederholt, während der Tenor beim ersten Erklingen den Cantus firmus vorwegnimmt und bei der Wiederholung auch die Mittelstimme, indem sie das Tenormotiv zitiert, an der Imitation teilhat (M. 16).

Diese Beobachtung soll nicht dazu verleiten, eine „motivicity“ à la Josquin auch bei Hermann Edlerawer zu postulieren, sie legt jedoch nahe, dass das Fehlen des Contra-tenors bei den Versen „Caro cibus“, „Sumit unus“, „Mors est malis“ und „Nulla rei sit cissura“ (M. 108–171) nicht zu Lasten des Komponisten geht – in StEm steht ex-pressis verbis : „Contratenor vacat“ –, sondern dass die Wirren der Überlieferung die Ursache für die Lakune sind. Stimmt man Flotzingers These zu, dass die Vorlage die-Obwohl Lauda Syon im Gegensatz zu Edlerawers anderen Werken nicht durchgängig

im Fauxbourdon angelegt ist, fallen doch immer wieder Anklänge an diese von ihm bevorzugte Satzweise auf. So etwa gleich in der Fortführung des Verses „In figuris“, wo sich der Anfang von „Bone pastor“ fauxbourdon-artig aus einem statischen C-Klang herauslöst, um in einen beweglichen F-C-Klang zu münden :

Notenbeispiel 2 : H. Edlerawer, Lauda Syon, M. 215–220 (Übertragung nach StEm, fol. 157v–

158r)

Die produktionsästhetische Deutung, dass hier der unmittelbar vorausgehende Ab-schnitt nachwirke, greift wohl zu kurz ; will man sich nicht auf die simple Erklärung zurückziehen, dass mangelnde Inspiration des Komponisten vorliege, könnte man die Rezeptionsästhetik bemühen, der zufolge der Beginn von „Bone pastor“ ein Spiel mit der auf den Fauxbourdon eingestimmten Erwartungshaltung der Hörer (und der Sän-ger !) wäre, wobei das Spiel wie so oft darin besteht, die Hörerwartung zu täuschen.

Der Contratenor wird jedenfalls in das Stimmengefüge einbezogen, wie schon der Anfang der Sequenz beweist :

ser Sequenz für Tr93 aus Wien stammt16, stellt sich die Frage, aus welcher Quelle die in Tr93 fast vollständig erhaltene Contratenorstimme kommt. Falls diese nicht neu erfunden wurde, kann es sich nur um eine weitere, heute verlorene Abschrift handeln.

Neben zahlreichen Varianten und Fehlern, die beim Kollationieren auffallen, weicht Tr93 in einem anderen, entscheidenden Punkt von StEm ab : der Text zu „Quantum potes“ fehlt im Superius von Tr93, während die Oberstimme in StEm wiederholt und der Text unterlegt wird (wobei die Unterstimmen von Versikel 1a und 1b sich unterscheiden). Dadurch verschieben sich die mehrstimmig zu singenden Strophen (-hälften) jeweils, d. h. der Abschnitt „Laudis thema“ ist in Tr93 mehrstimmig, in StEm hingegen choraliter usw. Der Vergleich geht von der Aufführungspraxis aus, un-gerade Strophen mehrstimmig und un-gerade Strophen im cantus planus zu singen oder umgekehrt (was auch für Edlerawers andere Sequenzvertonungen zutrifft).17

StEm Tr93

1a. Lauda Syon salvatorem, [L]auda Syon salvatorem, Lauda ducem et pastorem Lauda ducem et pastorem In ymnis et canticis. In ympnis et canticis.

1b. Quantum potes, tantum gaude [!], Quantum potes etc. [Textmarke T, Ct]

Quia maior omni laude, Nec laudare sufficis.

2a. [L]audis thema spiritalis [!]

Panis vivus et vitalis Hodie proponitur.

2b. Quem in sacra [!] mensa cene Quem in sacra [Textmarke Ct]

Turbe fratrum duodene Datum non ambigitur.

16 Vgl. den Beitrag von Rudolf Flotzinger in diesem Band.

17 Auch Rumbold/Wright, Pötzlinger’s Music Book (wie Anm. 6), 46 erwähnen die „(unwritten) alter-natim chant verses“ in diesem Stück. Anhand der Textmarken in Tr93 wäre auch eine durchgängige mehrstimmige Version denkbar. – Meine Strophenzählung von Lauda Sion folgt dem Versbau in Dop-pelversikeln, wie er in den Analecta Hymnica, hg. von Guido Maria Dreves, Bd. 50, Leipzig 1907, 584 f. (Nr. 385) in Übereinstimmung mit der Melodie dargestellt wird. Die Orthographie richtet sich nach den Handschriften.

3a. [S]it laus plena, sit sonora ; Sit iucunda, sit decora Mentis iubilatio,

Dies enim solempnis agitur In qua mense prima recolitur Huius institucio.

3b. In hac mensa novi regis In hac mensa [Textmarke T, Ct]

Novum Pascha nove legis Phase vetus terminat.

Vetustatem novitas, Umbram fugat veritas, Noctem lux eliminat.

4a. Quod in cena Christus gessit, Faciendum hoc expressit In sui memoriam :

4b. Doctis [!] sacris institutis Docti sacris [Textmarke Tenor]

Panem, vinum in salutis Consecravit [!] hostiam.

5a. Dogma datur Christianis, Quod in carnem transit panis Et vinum in sangwinem.

5b. Quod non sapis [!], quod non vides, Quod non capis [Textmarke T, Ct]

Animosa firmat fides Preter rerum ordinem.

6a. Sub diversis speciebus, Signis tantum et non rebus, Latent res eximie :

6b. Caro cibus, sanguis potus, Caro cibus [Textmarke T, Ct]

Manet tamen Christus totus Sub utraque specie.

7a. A summente non concisus, Non confractus, non divisus Integer accipitur.

7b. Summit unus, summunt mille, Summit unus [Textmarke T, Ct]

Quantum isti, tantum ille, Nec sumptus consummitur.

8a. Sumunt boni, sumunt mali, Sorte tamen inequali,

Vite vel interitus.

8b. Mors est malis, vita bonis, Mors est malis [Textmarke T, Ct]

Vide paris sumpcionis Quam sit dispar exitus.

9a. Fracto demum sacramento, Ne facilles [!], sed memento Tantum esse sub fragmento, Quantum toto tegitur.

9b. Nulla rei fit scissura, Nulla rei fit [Textmarke Tenor]

Signi tantum fit fractura, Qua nec status nec statura Signati minuitur.

10a. Ecce panis angelorum, Ecce panis angelorum, Factus cibus viatorum, Factus cibus viatorum, Vere panis filiorum, Vere panis filiorum, Non mittendus canibus. Non mittendus canibus.

10b. In figuris presignatur, In figuris presignatur,

Cum Ysaac ymmolatur, Cum Ysaac ymolatur,

Agnus Pasce deputatur, Agnus Pasce deputatur, Datur manna patribus. Datur manna patribus.

11a. Bone pastor, panis vere, Bone pastor, panis vere, Ihesu, nostri miserere, Ihesu, nostri miserere, Tu nos pascis [!], nos tuere, Tu nos pasce, nos tue<re>, Tu nos bona fac videre Tu nos bona fac videre

In terra vivencium. In terra vivencium.

11b. Tu qui cuncta scis et vales, Tu qui cuncta scis et vales, Qui nos pascis hic mortales, Qui nos pascis hic mortales, Tu nos [!] ibi commensales, Tu nos [!] ibi commensales, Coheredes et sodales Coheredes et sodales Fac sanctorum omnium [!]. Fac sanctorum omnium [!].

Abb. 1 : H. Edlerawer, Lauda Syon. Vergleich der Textierungen im Superius von StEm und Tr93 Auch in der Schlüsselung weichen die beiden Handschriften voneinander ab : Im Superius steht dem üblichen c1-Schlüssel in Tr93 die Verwendung des gg-Schlüssels in mehreren Abschnitten in StEm gegenüber : Dies betrifft die Strophen „Sumit unus,

sumunt mille“ bis „Tu qui cuncta“, also fast die gesamte zweite Hälfte der Kompo-sition. Die Doppelschreibung gg statt g ist übrigens eine süddeutsch-österreichische Eigenart, die Tonbuchstaben des Tetrachords ee­aa zu notieren.18 Die Tenorstimme von „Doctis sacris“/„Quod in cena“ ist in Tr93 irrtümlich im c4-Schlüssel notiert, während StEm den korrekten c3-Schlüssel hat.

Daneben fallen Unterschiede in der Kolorschreibung auf : Im Contratenor wird der Kolor M. 9/10 (siehe Notenbeispiel 3) in Tr93 auf zwei Breviseinheiten ausgedehnt (insgesamt fünf Noten), während in StEm nur die Ligatur (zwei Breven) geschwärzt ist, die folgende Semibrevis und Minimen hohl bleiben. Dies entspricht dem Men-suralverständnis des Schreibers Wolfgang Chranekker19, der als Organist eine klare Tendenz zu ‚absoluter‘ Notierung zeigt. Dagegen wird die ganze Kadenzphrase vom Schreiber des Codex Tr93 als Einheit aufgefasst, was die musikalische Struktur – auch in Berücksichtigung des Tenors, der an dieser Stelle ebenfalls koloriert ist – adäquat darstellt.

Anhand des äußeren Erscheinungsbildes von Tr93 ließe sich vermuten, dass die-ser Codex sorgfältiger notiert ist. Dies ist jedoch nur zum Teil richtig, in manchen Details bietet StEm die besseren Lesarten.20 Nimmt man alle philologischen Indizien zusammen, kommt man zu dem Schluss, dass die beiden Textzeugen nicht direkt voneinander abhängen. Es muss ein Prozess der Umarbeitung – oder besser gesagt : der Aneignung, auch der Modernisierung (was z. B. viele Klauselwendungen in Tr93 betrifft) – stattgefunden haben.

Urbanus Kungsperger

Die Beziehungen zwischen Wien und Leipzig werden in den 1440er/50er Jahren durch ein universitäres Netzwerk konstituiert, das über Hermann Pötzlingers Bio-graphie weit hinausreicht.21 So lässt sich eine weitere Figur des

Komponistenkrei-18 Vgl. die Beispiele bei Christian Berktold, „Eine süddeutsch-spätmittelalterliche Form der Verdopp-lung von Tonbuchstaben“, in : Michael Bernhard (Hg.), Quellen und Studien zur Musiktheorie des Mittelalters II (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission 13), München 1997, 118–125.

19 Nach der Identifizierung von Peter Wright, „The Contribution and Identity of Scribe D of the

‚St Emmeram Codex‘“, in : Rainer Kleinertz/Christoph Flamm/Wolf Frobenius (Hgg.), Musik des Mittelalters und der Renaissance. Festschrift Klaus­Jürgen Sachs zum 80. Geburtstag, Hildesheim-Zürich-New York 2010, 283–316.

20 Tr93 hat eindeutige Fehler, wie die irrtümliche Wiederholung von M. 40 im Contratenor (fol. 227r, 6. System a­e’ d).

21 Alexander Rausch, „Urbane Musikkultur in Wien um 1440 : soziale Milieus und Orte des

Musizie-ses um den Büchersammler Urbanus Kungsperger mit der Universität Leipzig in Verbindung bringen. Im Sommersemester 1441 war dort ein Urbanus Konigsburg immatrikuliert.22 Die abgekürzte Namensform ist jedoch nicht eindeutig ; plausi-ble Lesarten sind Kun(i)gsperger, Kungsprunner, Kungsprucker oder Kungspur-ger.

Sein Hymnus Urbs beata Ierusalem für Kirchweih trägt einen alternativen Text, der auf die Wiener Kollegiatskirche bezogen werden kann : Sancte dei preciose protomartir Stephane.23 Natürlich impliziert diese Textvariante nicht unbedingt, dass der Kompo-nist in Wien gewirkt hat, sondern lediglich, dass der Hymnus an diesem Ort aufge-führt wurde. Das Sanctus von Kungsperger (StEm, fol. 130v–131r) stellt in der einzi-gen erhaltenen Abschrift von Schreiber D – dem Organisten Wolfgang Chranekker – die meisten Probleme. Rumbold und Wright24 bemerken „the practical difficulty of arriving at a satisfactory solution to the many problematic readings it contains – in particular the often high levels of dissonance – which suggest either compositional or scribal inadequacy, or a combination of the two“.

Ein Übertragungsversuch vermag zwar nicht alle Schwierigkeiten mittels Emendie-rung zu beseitigen ; es besteht aber kein Zweifel, dass ein korrekter Außenstimmensatz vorliegt und prinzipielle Defekte, für die der Schreiber oder der Komponist oder gar beide verantwortlich seien, dem Contratenor zugewiesen werden müssen. Wahr-scheinlich wurde dieser ad hoc von Chranekker hinzugesetzt, der in StEm „gelegent-lich die Contratenores nachgetragen“ hat.25 Generell ist festzustellen, dass bei den Ab- und Umschriften der Werke Kungspergers durch Chranekker die Schlüsselung verwirrend ist. Im Discantus ist ein c4-Schlüssel notiert, was der Kopist in diesem Fall so belassen hat, d. h. die Oberstimme muss eine Oktave höher gesungen werden als notiert. Auf Besonderheiten der mensuralen Schreibweise mit ihrer „Tendenz […] zu

rens“, in : Katrin Stöck/Gilbert Stöck (Hgg.), Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen. Bericht über den 14. Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Leipzig 2008, Bd. 4 : Musik – Stadt. Freie Beiträge, Leipzig 2012, 3–11, 9 f.

22 Dagmar Braunschweig-Pauli, „Studien zum sogenannten Codex St. Emmeram : Entstehung, Da-tierung und Besitzer der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14274 (Olim Mus.

ms. 3232a)“, in : Kirchenmusikalisches Jahrbuch 66 (1982), 1–48, 32.

23 Edition bei Rumbold/Wright, Pötzlinger’s Music Book (wie Anm. 6), 286 f.

24 Ebda., 199, Anm. 101.

25 Bernhold Schmid, „Aspekte der Überlieferung von Mensuralmusik in Zentraleuropa während des 15. Jahrhunderts“, in : Ivan Klemenčič (Hg.), Musikalische Identität Mitteleuropas. Bericht über das internationale Symposium vom 23. und 24. Oktober 2003 in Ljubljana = Muzikološki zbornik/Musicolo­

gical Annual 40/1–2, Ljubljana 2004, 85–95, 94. Schmid diskutiert ein Gloria von Hugo de Lantins, in dem die vereinfachten Außenstimmen „keine größeren Probleme“ bieten, lediglich „der unverän-dert übernommene Contratenor dissoniert“ (93).

einer absolut lesbaren Notation“26 hat Bernhold Schmid hingewiesen. Die meisten Fehler lassen sich leicht erklären, wobei an manchen Stellen Rasuren erkennbar sind (z. B. im Superius vor der Kadenz zum 1. „Sanctus“, wo der Contratenor verbessert werden muss). Am Schluss des „Dominus Deus Sabaoth“ (Superius, M. 51,3) könnte der Eindruck entstehen, als würde die Longa von einer Minima imperfiziert ; hier ist wohl von einem Schreibfehler auszugehen – in meiner Übertragung habe ich die einfachste Lösung gewählt, indem ich in Analogie zur vorigen Kadenz (M. 37) eine Minima ergänzt habe.

Notenbeispiel 4 : Urbanus Kungsperger, Sanctus, M. 40–53 (Übertragung nach StEm, fol. 130v–

131r)

Prinzipiell stimmt es aber, dass für dieses Stück die häufige Verwendung synkopierter Rhythmen charakteristisch ist. Wenn eine imperfekte Brevis von einer Minima syn-kopiert wird, geht manchmal eine andere Stimme hemiolenartig mit. Wie erwähnt, bereitet der Contratenor die meisten Probleme, der andererseits an vielen Stellen über-zeugende Lösungen bietet (etwa beim Kolor im „Osanna“, wo offensichtlich auch eine

26 Ders., „Notationseigenheiten im Mensural-Codex St. Emmeram (Clm 14274) und Organistenpra-xis“, in : Musik in Bayern 43 (1991), 47–77, 58.

Korrektur angebracht wurde). Auf eine formale Nuance, dass nämlich in jenen Teilen, die durch tempus imperfectum kontrastieren – das 3. „Sanctus“ und das „Pleni sunt“

bzw. das identische „Benedictus“ – die Choralmelodie im Diskant liegt statt wie sonst im Tenor, haben Ian Rumbold und Peter Wright27 bereits aufmerksam gemacht.

Hinzuzufügen bleibt nur, dass dieser Messensatz zwar nicht vollkommen von dem stilistischen und notationstechnischen Spektrum ausschert, das von einem zentral-europäischen Komponisten der Zeit erwartet werden kann, dennoch experimentelle Züge trägt, die der nicht mühelosen Aneignung des dreistimmigen Kontrapunkts geschuldet sein dürften.

Rudolf Volkhardt

Einer der in Wien tätigen Komponisten, Rudolf Volkhardt von Häringen, sei näher beleuchtet, da sich dessen Wirken überraschenderweise präzisieren lässt. Im Buch

Einer der in Wien tätigen Komponisten, Rudolf Volkhardt von Häringen, sei näher beleuchtet, da sich dessen Wirken überraschenderweise präzisieren lässt. Im Buch

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