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Anlage und Herkunft des Trienter Codex 93

Im Dokument Musik – Identität – Raum (Seite 40-66)

Nach seiner bekanntlich verspäteten Entdeckung galt der mit der Hilfssignatur ‚Tr93‘

versehene Codex im Archivio vescovile der Biblioteca capitolare zu Trient als nicht sonderlich interessant – bis zu der Entdeckung, dass sein Verhältnis zu Johannes Wi-sers Handschrift Tr90 umzukehren, also jener als dessen teils gekürzte und teils erwei-terte Vorlage anzusehen ist.1 Zwar darf weiterhin zu Recht als akzeptiert gelten, „daß der Inhalt von Tr 93 und Tr 90 großenteils auf den habsburgischen Königshof und die Hofkapelle zurückgeht und durch Wiser und andere der Domschule [von Trient]

zugänglich gemacht wurde“. Der Ansicht jedoch, Wiser habe nicht nur Tr90 bereits

„vor 1455 in München begonnen“, sondern „auch die Vorlage, Tr 93 in Besitz gehabt und mit nach Trient gebracht“2, wurde dahingehend widersprochen, dass Tr93 ver-mutlich durch Johannes Prenner in Wien begonnen, von ihm nach 1455 im Trentino fortgesetzt und erst dort von Wiser kopiert worden, jedenfalls zwischen den ‚älteren‘

Trienter Handschriften des Johannes Lupi (Tr87, 92) und den ‚jüngeren‘ von Wiser (Tr88–91) zu positionieren, dabei die habsburgische Rolle auf Vorlagen zu reduzieren und deutlicher als bisher zwischen der Hofburgkapelle bzw. Universität Wien zu un-terscheiden sei.3 Seither stehen einander nicht bloß zwei Sichtweisen gegenüber, die an lückenhaften Biographien hängen sowie die Lokalisierung und Bestimmung der Handschrift nicht in gleicher Weise im Visier haben, sondern methodische Ansätze : Die These von einer Münchner Herkunft von Tr93 basiert auf einer einfachen Paral-lelsetzung mit Tr90 und der Reduktion auf Wasserzeichenforschung aufgrund eines offensichtlichen Misstrauens gegenüber traditionellen historischen Methoden. Der hier unternommene Versuch, die Argumentation für die Gegenposition weiterzubrin-gen, muss also möglichst von bloß unterschiedlich interpretierten Fakten ausgehen,

1 Margaret Bent, „Trent 93 and Trent 90 : Johannes Wiser at work“, in : Nino Pirrotta/Danilo Curti (Hgg.), I Codici musicali trentini a cento anni dalla loro riscoperta. Atti del Convegno Trento, Castello del Buonconsiglio, 6–7 settembre 1985, Trient 1986, 84–111.

2 Vgl. Reinhard Strohm, „Trienter Codices“, in : MGG2, Sachteil 9 (1998), 801–812, 805.

3 Rudolf Flotzinger, „Auf der Suche nach einheimischen Komponisten in den Trienter Codices.

Fakten, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen”, in : Marco Gozzi (Hg.), Manoscritti di polifonia nel quattrocento Europeo. Atti del convegno internationale di studi Trento, Castello del Buonconsiglio 18–19 ottobre 2002, Trient 2004, 193–203, bes. 197 f.; Ders., „Die Trienter Codices : Rezeptions- und Bedarfsfragen“, in : Birgit Lodes (Hg.), Wiener Quellen der älteren Musikgeschichte zum Sprechen gebracht (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 1), Tutzing 2007, 205–228, bes. 209 f., 215.

sich auf eine eingehende Beschäftigung mit der Handschrift selbst konzentrieren und kann erst zuletzt Annäherungen an einzelne Personen wagen.

Die Handschrift Tr93 wurde durch den Hauptschreiber A in Hinblick auf künftige eigene Benutzung und mit Unterstützung durch einen Schreiber B angelegt.4 Dass sie nicht abgeschlossen vorliegt, zeigen meist bzw. oft fehlende Initialen und Textie-rungen. In den 33 Lagen (römische Ziffern) wurden drei verschiedene Papiertypen verwendet : für die Lagen II, IV, V, XVI, Teile von XXX sowie XXXI–XXXIII mehrere aus der verbreiteten ‚Ochsenkopf-Familie‘ (Nr. 18, 20, 21, 22), für die Lagen I, III, VI und die anderen Teile von XXX (Nr. 17, Wasserzeichen : ‚Standkreuz‘) sowie für den größten Teil der Handschrift überhaupt (Nr. 19 für VII–XXIX, Wasserzeichen :

‚Dreiberg mit Kreuz‘) solche, die nach wie vor unbekannter Herkunft und in den Trienter Codices sonst nicht zu finden sind.5 Die zu widerlegende These geht davon aus, dass diese Papiere aus dem süddeutschen Raum stammen könnten, weil sie hier zwischen 1450/55 nachzuweisen sind. Allein eine kleine Ergänzung dieser wichtigen Daten und vor allem deren Differenzierung liefern gewichtige Anhaltspunkte : In ei-ner durchaus zufälligen Wieei-ner Stichprobe aus der Zeit zwischen 1440/576 findet sich zwar kein der Nr. 17 vergleichbares Papier, doch sind solche durch Briquet, Piccard und Wright zwischen 1450/53 von Bayern (München) über Tirol (Innsbruck) bis nach Oberitalien (Vicenza) nachgewiesen.7 Und es ist bekannt, dass Papiere im heu-tigen Österreich bis zum Aufkommen erster Papiermühlen gegen Ende des Jahrhun-derts vor allem aus Italien bezogen wurden.8 Sodann kommt in der Stichprobe ein mit den Papieren Nr. 18 und 20–22 korrespondierendes Wasserzeichen (Ochsenkopf mit 7- bzw. 6-blättriger Blume) zwar nur vereinzelt vor, doch zusammen mit meh-reren, die mit dem des größten Teils der Handschrift (Nr. 19) das Grundmotiv des Wasserzeichens ‚Dreiberg‘ gemeinsam haben und aus der gleichen Papiermühle

stam-4 Vgl. die Liste bei Bent, „Trent 93 and Trent 90“ (wie Anm. 1), 100 f.

5 Wasserzeichen-Nummern nach Suparmi Elizabeth Saunders, „The Dating of Trent 93 and Trent 90“, in : Pirrotta/Curti (Hgg.), I Codici musicali trentini (wie Anm. 1), 60–83 ; Peter Wright,

„Watermarks and Musicology : The Genesis of Johannes Wiser’s Collection“, in : Early Music History 22 (2003), 247–332.

6 Nach Karl Uhlirz, Quellen zur Geschichte der Stadt Wien, II/2 : Regesten aus dem Archive der Stadt Wien 1412–1457, Wien 1900. Angaben zu den Wasserzeichen finden sich hier nicht immer, doch in ausreichender Zahl. Auf eine genauere Auswertung wird verzichtet.

7 Charles Moïse Briquet, Les Filigranes II, Paris 31923, Nr. 5547–5550 ; Gerhard Piccard, Find­

buch XI : Wasserzeichen Kreuz, Stuttgart 1981, Nr. 462 etc.; Wright, „Watermarks and Musicology“

(wie Anm. 5), 263, 311.

8 Z. B. Othmar Pickl, Geschichte der Papiererzeugung in der Steiermark, Graz 1963, 22.

men könnten.9 Derartige Papiere finden sich in der Stichprobe sehr oft10, und zwar mit unübersehbarem Schwerpunkt der Nutzung durch herzogliche (Albrechts VI.) und königliche Kanzleien (Albrechts II., dessen Witwe Elisabeth und seines Nachfol-gers Friedrich) in Wien, Pressburg, Wiener Neustadt sowie durch deren Verwaltun-gen, Militärs und Städte in Österreich und Ungarn. Auch das von Lupi11 zwischen ca. 1439 und 1442 für sein Zwettler Fragment verwendete mit dem Wasserzeichen

‚Dreiberg im Kreis‘12 dürfte dieser Familie angehören. Nicht zuletzt sind mit Nr. 19 vollends übereinstimmende Papiere (Wasserzeichen : ‚Dreiberg frei mit Schaft und Kreuz zweikonturig‘) im Wiener Raum zwischen 1441/80 nachgewiesen.13 Aus der Nutzung und Verbreitung auf die Herkunft der Papiere zu schließen, wäre hier wie dort unangebracht. Erst recht ist nach dem Gesagten jedoch ein Schluss darauf un-zulässig, Wien als Herkunft von Tr93 nicht in Erwägung zu ziehen. Hingegen ist die Tatsache, dass dessen Papiere weder in die Nähe der älteren noch der jüngeren Trien-ter Handschriftengruppe weisen, ja in diesen sonst nicht vorkommen, ein ziemlich untrügliches Indiz für unterschiedliche Herkunft von Tr90 und Tr93. Aufgrund der Verfügbarkeit der Papiere erschiene ein Beginn der Arbeit an Tr93 in Wien durchaus plausibel und dieser außerdem schon vor 1450 möglich : mit einem von wo auch immer bezogenen oder mitgebrachten Papier (Nr. 17 für die Lagen I und III) neben einem hier verbreiteten (Nr. 18 für Lagen II und IV) und schließlich die schrittweise Fortsetzung mit Papieren, für die in habsburgischen Landen schon eine lange Be-schaffungstradition bestand. Wenn allerdings sogar alle Papiere aus Oberitalien stam-men könnten, sind daraus allein tragfähige Schlussfolgerungen zur Herkunft beider Handschriften nicht möglich.

9 Ob das Wasserzeichen nicht mit drei ‚Heiligen Bergen‘ zu tun haben könnte ? Die Herkunft ist nach wie vor „unklar“, vgl. Peter Rückert u. a. (Hgg.), Ochsenkopf und Meerjungfrau. Papiergeschichte und Wasserzeichen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Stuttgart-Wien 32009, 17.

10 Mindestens geschätzte 10 %. Wasserzeichen : vor allem in den 1440er Jahren, am häufigsten ‚Dreiberg im Kreis‘, gefolgt von freistehendem ‚Dreiberg‘ und erst zuletzt (vor allem in den frühen 1450er Jah-ren) ‚Dreiberg mit Kreuzelstange‘ bzw. ‚Kreuzstab‘.

11 Geboren um 1410 in Bozen, 1428 in Wien immatrikuliert, wohl bis 1439 bei Herzog Friedrich IV. von Tirol (gen. „mit der leeren Tasche“) und anschließend bei dessen ehemaligem Mündel, dem gleichnamigen Neffen (als Kaiser Friedrich III.), ab 1443 als Domorganist in Trient nachweisbar, gestorben 1467 in Trient. Siehe Rudolf Flotzinger, „Lupi, Johannes“, in : oeml 3 (2004), 1321.

12 Kurt von Fischer, „Neue Quellen zur Musik des 13., 14. und 15. Jahrhunderts“, in : Acta Musicolo­

gica 36 (1964), 79–97, 95. Es entspricht Briquets Nrn. 11849/11850, die 1442 bzw. 1451 in Genua nachgewiesen sind.

13 Siehe Alois Haidinger u. a., Wasserzeichen des Mittelalters, <http://www.ksbm.oeaw.ac.at/wz/wzma.

php>, 30.1.2011. Für die Präzisierung der Daten auf 1441/80 danke ich Herrn Dr. Alois Haidinger (Wien) sehr herzlich (E-mail vom 19.2.2011). Vgl. Gerhard Piccard, Findbuch XVI : Wasserzeichen Dreiberg, Stuttgart 1996. Die meisten dieser Papiere sind in Oberitalien oder Basel zu beheimaten.

Für den Versuch, Tr93 in Wien zu verorten, bleibt nur übrig, wie üblich so viel wie möglich der Handschrift selbst zu entnehmen. Dabei ist von einzelnen Lagen aus-zugehen und der heutige stattliche Band nur als ein unter Umständen recht spätes Endprodukt anzusehen. Die meisten Lagen bestehen aus je (5–)6 Doppelblättern.

Die Lagensignaturen beginnen korrekt mit „2“ für Lage II, sind jedoch nicht ganz konsistent : Siebenmal fehlen sie (I, XIV, XV, XXX–XXXIII), auch fehlen die Zahlen 5 und 15, dafür kommen 18–20 zweimal vor. Außerdem ist zu bedenken, dass an unterschiedlichen Stellen in I, III, V, XX, XXXII, XXXIII zusätzliche Einzelblätter eingefügt sind.14 Das Doppelblatt fol. 2/8 stammt offenbar von einer anderen Nut-zung her : fol. 2r ist mit einem singulären Contratenor zur dreistimmigen Chanson O rosa bella15 und fol. 8 mit zwei für die Vesper bestimmten, vorerst also ebenfalls inkommensurabel erscheinenden Magnificat beschrieben.

Da der Inhalt der Handschrift schon auf den ersten Blick als im Wesentlichen für Hochämter bestimmt zu erkennen ist16, sind bei ihrer Anlage gewisse Entspre-chungen zu einem Graduale oder Missale nachgerade zu erwarten : vor allem eine Verschränkung der liturgischen Ordnung einerseits und der Prägung durch Gattun-gen andererseits. Bei den ersten 17 LaGattun-gen ist das eindeutig der Fall : I Gesänge zur Besprengung des Altars (Asperges und Vidi aquam), II–V Introitus nach dem Proprium de Tempore und V–VIII de Sanctis, IX–XVII Ordinarium missae. Die Introitus bilden also augenscheinlich eine zentrale Gruppe. Damit bestätigt sich zunächst ihre Sonder-stellung in der damaligen „Überlieferung mehrstimmiger Sätze des Propriums“, in-dem sie „fast gleichzeitig mit in-dem Auftreten zyklischer Ordinariumskompositionen“

den „neuerliche[n] Eintritt von Teilen des Propriums in den mehrstimmigen Bereich“

(siehe Anm. 19) anführen. In dieser Entwicklung wird den 64 Sätzen der Handschrift Tr93 sowohl in quantitativer (Höhepunkt innerhalb der Überlieferung von Aosta17 – St. Emmeram18 – Trient) als auch in kompositorischer Hinsicht (Angelpunkt

zwi-14 Saunders, „The Dating of Trent 93 and Trent 90“ (wie Anm. 5), 62 (Anm. zwi-14) und 81 f.

15 Nr. 1586. Wiser trug den ganzen Satz in Tr90 nach (Nr. 1075). Der Text stammt von Lionardo Giu-stiniani (ca. 1383–1446) und ist in den Trienter Codices in vier verschiedenen Vertonungen zu finden.

David Fallows, „Leonardo Giustinian and Quattrocento Polyphonic Song“, in : Renato Borghi/

Pietro Zappalà (Hgg.), L’edizione critica tra testo musicale e testo letterario. Atti del convegno inter-nazionale (Cremona 4–8 ottobre 1992), Lucca 1995, 247–260 (Wiederabdruck in : John Nádas/

Michael Scott Cuthbert [Hgg.], Ars nova : French and Italian Music in the Fourteenth Century, Aldershot etc. 2008, 275–290).

16 Vgl. Thematischer Katalog in : Rudolf von Ficker (Hg.), Sieben Trienter Codices. Geistliche und welt­

liche Kompositionen des XV. Jhs. V. Auswahl (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 61), Wien 1924, vii–x, danach allfällige Nummerierungen.

17 I-AO 15, bekanntlich mit gewissen habsburgischen Bezügen.

18 D-Mbs Clm 14274. Vgl. Ian Rumbold/Peter Wright, Hermann Pötzlingers’s Music Book : The

schen der älteren Schicht um Dufay und der jüngeren um Brassart) eine besondere Bedeutung attestiert.19 Gemäß ihrer Funktion als Einleitung der Tagesmesse, die tra-ditionellerweise auch für Datumsangaben genutzt wurde, repräsentieren die Introitus hier jedoch offensichtlich nicht allein die Propriumsgesänge, sondern das betreffende Fest als Ganzes. Der Übergang vom Proprium de Tempore zum Proprium de Sanctis er-folgt nach den Leerseiten 52v/53r inmitten von Lage V kaum merkbar. Sonst aber war offensichtlich für jedes inhaltliche Segment der Beginn einer neuen Lage und außer-dem durch vorerst leer gelassene Doppelseiten die Möglichkeit für spätere Ergänzun-gen vorgesehen. Es sollte also nicht eine bestimmte Vorlage kopiert, sondern ein Ras-ter für eine erst herzustellende Sammlung geschaffen werden. Dabei bildeten offenbar die Sätze am Anfang gewisser Lagen (je nach Bedarf recto oder verso beginnend) ein Grundgerüst, innerhalb dessen sich Planung und Zufall verbinden konnten, indem es mit der Zeit gefüllt wurde. Anhand der Anzahl gleichartiger Gesänge in den Lagen II–VIII sind zwei Festränge unterscheidbar : Im Normalfall waren offenbar drei Sätze für Hochfeste erster und zweiter Klasse und für andere Feste durchwegs nur ein Satz (allenfalls mit einer Alternative) vorgesehen. Der auffällige Wechsel vom Temporale zum Sanctorale in Lage V könnte also damit zu erklären sein, dass für das Ende des einen (Kirchweih : Terribilis) bzw. den Beginn des anderen (hl. Andreas : Mihi autem) sogar je drei Kompositionen vorliegen, also der zunächst frei gelassene Platz bereits ausgeschöpft worden war. Das ist nach der ersten Weihnachtsmesse (wohl für eine Alternative zur missa publica) nicht der Fall. Hingegen scheint eine sich bietende Ge-legenheit, für Ostern über die den Beginn der Lage III darstellenden drei Sätze hinaus noch weitere einzutragen, sogar auf das Ende der vorangehenden Lage II ausgedehnt worden zu sein. Gattungsmäßig abweichend, jedoch als Eintragungen des Haupt-schreibers A erkennbar, sind je zwei Magnificat für die Vesper vor Ende der Lage I (Nr.

1594/1595, s. o.) und nach Weihnachten (Nr. 1600/1601) in II, außerdem ein zwei-stimmiges Martinslied (Nr. 1599, offenbar zum Fest der Unschuldigen Kinder20),

St Em meram Codex and its Contexts, Woodbridge 2009, und den Beitrag von Ian Rumbold in diesem Band.

19 Frohmut Dangel-Hofmann, Der mehrstimmige Introitus in Quellen des 15. Jahrhunderts (Würzbur-ger musikhistorische Beiträge 3), Tutzing 1975, 10 f. (Zitate) sowie 17 und 35 f. Im übrigen wäre, da die Autorin notgedrungen noch vom umgekehrten Verhältnis zwischen Vorlage und Abschrift ausgeht (bes. 29), bei der heutigen Lektüre durchwegs ‚93‘ und ‚(90)‘ zu vertauschen und nicht mehr von Wiser auszugehen.

20 Sowohl wegen des Verses Ex ore infantium vom Beginn des Introitus und seiner Rolle in der Heiligen-vita (Ps. 8,3 ; siehe die Legenda aurea) als auch der beliebten Schulfeste an diesem Tag (z. B. ‚verkehrte Welt‘ mit ‚Kinderbischof‘). Es ist ein Heischelied für einen Brauch, der bekanntlich vor allem um die Weihnachtszeit beliebt war. Der Text dürfte korrumpiert sein und zu lauten haben : „Martinus nam pusillus Zabarie panonye [e]ducatus in ytalia. Alleluia enegans dans gans dans gans dem[um] fuit

ähnlich die Antiphon der Freitags-Vesper Domine probasti (Nr. 1610) und schließlich drei Ordinariums-Sätze Nr. 1613–1615 (vermutlich Teil einer Plenarmesse, der ge-samte Zyklus später Nr. 225–229 in Wisers Tr88). Zwei weitere Eintragungen für Pfingsten (Spiritus) und ein Nos autem (Nr. 1624, für Gründonnerstag reichlich ver-spätet, doch für Inventio crucis am 3. Mai einigermaßen realistisch) erfolgten durch Schreiber B. Mit Ausnahme der marianischen sind alle Hochfeste des Kirchenjahres bedacht, und zwar durchwegs recht gut. Ein erstes Ergebnis lautet also : Bei der Pla-nung dieses Abschnitts, vielleicht der ganzen Handschrift, sind klare Vorstellungen vorauszusetzen. Nahe liegt, dass deren Ausgangspunkt nicht nur gewisse Erfahrun-gen, sondern konkrete Gegebenheiten bildeten, die allenfalls erweitert werden, d. h., dass sich nicht nur Planung und Freiheit, sondern gleichzeitig Fixierung von an Ort und Stelle bereits Vorliegendem (Tradiertem) und künftige, nicht näher abzusehende Möglichkeiten verschränken sollten.

Eine Annäherung an den Ort und möglichst die Kirche, an dem der Planer von Tr93 gewirkt haben dürfte, wäre erfahrungsgemäß aus dem Proprium de tempore gar nicht möglich gewesen. Der Versuch, Anhaltspunkte aus Eigenheiten des Sanctorale zu gewinnen, kann daran anknüpfen, dass die Introitus hier, wie gesagt, jeweils Feste repräsentieren, d. h. deren Abfolge wenigstens idealiter der gewohnten Ordnung folgt.

Auf dieser Basis kann dann angenommen werden, dass Commune-Sätze nicht nur für den Festtag gelten, zu dem sie erstmals eingetragen sind, sondern auch für gleichartige Feste im weiteren Verlauf des Kirchenjahrs. (Man darf sich diesbezüglich von einem modernen Graduale mit Commune-Teil nicht täuschen lassen : Die Verschränkung von Eigen- und Commune-Formularen ergäbe sonst keinen Sinn und damalige Be-nutzer konnten damit selbstverständlich umgehen.) So bilden die drei Mihi autem Nr. 1632–1634 zum Fest des hl. Andreas (30. November) den üblichen Beginn des Proprium de Sanctis und stehen außerdem – das zeigen auch die Alternativsätze über den Normalfall von bloß einem hinaus – für die Benutzung an späteren Apostelfesten zur Verfügung. Der Beginn der nächsten Lage (VI) mit den zwei Commune-Sätzen In medio gilt zunächst sicher dem Apostel Johannes (27. Dezember), jedoch wohl nicht nur, wenn es an der ‚Allerheiligen- und St. Stephan-Domkirche‘ zu Wien (wie sie da-mals hieß) begangen wurde, sondern gegebenenfalls auch für das Hochamt der Theo-logiestudenten zu Ehren ihres Patrons (seit 1389) in der Dominikanerkirche. Darüber hinaus wäre es noch für das Fest des hl. Ivo geeignet, das am 19. Mai die Juristen für

[non] arrogans.“ Obwohl zwischen intendiertem „dans“ und „gans“ schwer zu unterscheiden ist, ist die vom letzten Wort hergeleitete Anspielung auf die von den pueri erbetene ‚Gans‘ nicht zu überhö-ren. Vgl. Petrus Wilhelmis Praesulem ephebeatum ; siehe hierzu den Beitrag von Paweł Gancarczyk in diesem Band.

ihren Patron (ab ca. 1429 in ihrer Kapelle der „Juristenschule“21) feierten. Die fol-genden zwei Sätze De ventre sind eindeutig für Johannes Baptist (24. Juni) gedacht, ebenso das einzelne Nunc scio für Petrus & Paulus (29. Juni). Der Introitus Etenim sederunt ist aufgrund der chronologischen Einordnung zweifellos nicht auf den zwei-ten Weihnachtsfeiertag zu beziehen, sondern auf das zweite Patrozinium der Domkir-che (Inventio S. Stephani, 3. August). Damit beginnt sich die Indizienkette für diese Kirche zusehends zu verengen. Der anschließende, vor dem 10. August eingefügte Satz Intret (Nr. 1642) aus dem Commune plurimum martyrum könnte hier irrtümlich eingeordnet, nämlich schlicht mit dem vorhergehenden vertauscht worden sein (Ab-don & Sennen, 30. Juni). Das dem Introitus Confessio für Laurentius (10. August) folgende Sapientiam (Nr. 1644) für Felix & Audax (30. August) ist sowohl gemäß dem sicher für die Domkirche bestimmten Turs-Missale22 als auch dem 1511 in Wien gedruckten Graduale Pataviense23 für Cosmas & Damian (27. September) sehr plausi-bel : für das Fest der Patrone der Medizinischen Fakultät, das seit 1429 hier mit einem Hochamt begangen wurde. Für die communen Introitus Statuit (Nr. 1645–1647), die den Beginn der Lage VII bilden, liegen auch in Wien die Feste Translatio Ruperti (24. September, salzburgisch) und Severin (2. Oktober, passauisch) durchaus nahe. In ähnlicher Weise könnte der commune Introitus Os justi (Nr. 1548–1549) für die Feste Maximilian (12. Oktober), Gallus (16. Oktober) und/oder Othmar (16. November) bestimmt gewesen sein. Im Turs-Missale markiert letzteres sogar den Beginn des Com­

mune de Sanctis-Abschnitts : es dürfte also aus chronologischen Gründen vor allem auf Othmar zu beziehen sein. Das von Schreiber B eingetragene commune Loquebar (pro Virgine et Martyre) wird wohl weniger der hl. Caecilia (22. November, zumal als Patronin der Kirchenmusiker) gelten, sondern der hl. Katharina, der seit 1383 am 25.

November verehrten und an St. Stephan24 gefeierten Patronin der Artisten (das Gra­

duale Pataviense wird dafür allerdings das Formular Gaudeamus vorsehen). Damit ist nicht etwa das Ende des Kirchenjahres erreicht : Der anschließende, vom Schreiber B eingetragene Introitus vom Commune virginum (Dilexisti, Nr. 1652) gilt zweifellos –

21 Ecke Schulerstraße/Grünangergasse ; hier erfolgten 1448 und 1459 weitere Messenstiftungen. Franz Gall, Die Alte Universität (Wiener Geschichtsbücher 1), Wien-Hamburg 1970, 86, 34.

22 Dom- und Diözesanmuseum Wien, ohne Signatur (um 1430). Ich bedanke mich bei der Leitung des Museums für die ausnahmsweise gewährte Erlaubnis zur Einsichtnahme am 20.1.2011. Biographie des Stifters bei Hermann Göhler, Das Wiener Kollegiat­, nachmals Domkapitel zum Hl. Stephan in seiner persoenlichen Zusammensetzung in den ersten zwei Jahrhunderten seines Bestandes 1365–1554, maschr. Diss. Wien 1932, 69 ff.

23 Graduale Pataviense (Wien 1511). Faksimile, hg. von Christian Väterlein (Das Erbe deutscher Mu-sik 87), Kassel etc. 1982.

24 1455 letztmalig mit Ausstellung der Reliquien ; Gall, Alte Universität (wie Anm. 21), 86 f.

noch einmal dem Jahreszyklus sowie einer alten österreichischen Tradition25 folgend – für einzelne hll. Jungfrauen (Barbara 4. Dezember, Lucia 13. Dezember, u. a.). Das die Lage VII beschließende Salve Regina (Nr. 1653) ist selbstverständlich marianisch und für die Komplet bestimmt. Es ist jedoch, was erst im Rückblick klar wird, wie die genannten Magnificat als spezieller Nachtrag für die Stephanskirche anzusehen : im sog. Großen Stiftsbrief anlässlich der Übertragung des Kapitels aus der nur kurz-fristig bestehenden Allerheiligen-Kapelle der habsburgischen Burg an die noch im Bau befindliche spätere Domkirche vom 16. März 1365 hatte Herzog Rudolf IV.

(genannt der Stifter) auch Bestimmungen über feierlich zu singende Tagzeiten („mit lawter und hoher stim ze rechten zeiten“) verfügt und dabei das Salve Regina explizit erwähnt.26 Darüber hinaus scheint Lage VIII nur auf den ersten Blick bloß eine Fort-setzung darzustellen, dürfte jedoch abermals den demonstrativen Beginn eines eige-nen Marien-Faszikels markieren :27 Gaudeamus für alle bisher noch fehlenden großen Marienfeste (Nr. 1654–1657 zu Conceptio, 8. Dezember ; Visitatio, 2. Juli ; Assumptio, 15. August, und Nativitas, 8. September). Der Introitus Rorate (eigentlich vom vier-ten Adventsonntag) hat vermutlich weniger die einschlägige Votivmesse im Auge, als die erste der in Österreich bis in jüngere Zeit populären Frühmessen im Advent. Das

(genannt der Stifter) auch Bestimmungen über feierlich zu singende Tagzeiten („mit lawter und hoher stim ze rechten zeiten“) verfügt und dabei das Salve Regina explizit erwähnt.26 Darüber hinaus scheint Lage VIII nur auf den ersten Blick bloß eine Fort-setzung darzustellen, dürfte jedoch abermals den demonstrativen Beginn eines eige-nen Marien-Faszikels markieren :27 Gaudeamus für alle bisher noch fehlenden großen Marienfeste (Nr. 1654–1657 zu Conceptio, 8. Dezember ; Visitatio, 2. Juli ; Assumptio, 15. August, und Nativitas, 8. September). Der Introitus Rorate (eigentlich vom vier-ten Adventsonntag) hat vermutlich weniger die einschlägige Votivmesse im Auge, als die erste der in Österreich bis in jüngere Zeit populären Frühmessen im Advent. Das

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