4. GRUNDZÜGE UND ÖKONOMISCHE PROBLEME DES MAROKKANISCHEN AGRARSEKTORS MAROKKANISCHEN AGRARSEKTORS MAROKKANISCHEN AGRARSEKTORS
4.9 Strukturelle Heterogenität im Agrarsektor
Wir haben bisher aus analytischen und praktischen Gründen den
Landwirtschaftssektor als Ganzes behandelt. Es wurde gezeigt, welche Stellung der ganze Sektor in der Volkswirtschaft einnimmt und welche Probleme sich daraus ergeben. Auch bei der Darstellung der natürliche Gegebenheiten, der
Produktionsfaktoren, der Agrarstrukturen und der Agrarproduktion wurde der ganze Sektor als Einheit betrachtet. Diese Betrachtungsweise hat zweifelsohne bestimmte
Vorteile. Sie ermöglichte uns, gewisse Grundzüge und Grundprobleme auf der globalen makroökonomischen Ebene des gesamten Sektors in den Griff zu bekommen.
Nun geht es darum, diesen Ansatz etwas. zu modifizieren, um weitere
Grundprobleme der Landwirtschaft in der 3. Welt (namentlich in Marokko) zu erfassen.
In der Entwicklungsökonomie ist schon früh die Auffassung vertreten worden, die EL wiesen keineswegs homogene und einheitliche, sondern eher gespaltene
Wirtschafts- und Sozialstrukturen auf. Zu dieser Ansicht gelangten Boeke und Singer bereits in der ersten Hälfte der 50-er Jahre durch die Entwicklung der Theorie des ökonomischen und sozialen Dualismus.1 Diese Ansätze wurden weiterentwickelt und verfeinert. So haben Eckaus die Theorie des technologischen Dualismus2 und
Gannage die Theorie des regionalen Dualismus3 entworfen. In den letzten Jahren wurden all diese Komponenten integriert und man spricht seither vom Dualismus-Modell schlechthin. Zu diesem Dualismus-Modell schreibt D. Nohlen: "Das Dualismusmodell beschreibt periphere Gesellschaften als in zwei Sektoren gespaltene. Der eine dieser Sektoren ist modern, dynamisch, in den Weltmarkt integriert und verkörpert damit die Entwicklungschancen des jeweiligen Landes, der andere ist traditionell stagnierend und nicht mit den höher entwickelten Wachstumspolen verbunden. Beide Sektoren entwickeln sich unabhängig voneinander und nach ihren eigenen
Gesetzmässigkeiten.''4 Die Annahmen des Dualismusmodells werden allerdings heulte durch die neueren Forschungsergebnisse, u.a. von der Dependenz-Schule, teilweise in Frage gestellt.5 "Dabei erwies sich die These von einem blossen Nebeneinander zweier oder mehrerer Sektoren als Grundstruktur der
EL-Gesellschaften als falsch."6 Die Dependenciatheoretiker neigen eher der Auffassung zu, "dass in der binnengesellschaftlichen Struktur der EL auf der Ebene der
1 Boeke, J.H.: Economics and Economic Policy of Dual Societies, Haarlem (Niederlande) 1953. – Singer, H.: The Distribution of Gains between Investing and Borrowing Countries, in: American Economic Review No. 40, 1950
2 Eckaus, R.S.: The Factor Proportions Problem in Underdevelopped Areas, in: American Economic Review, September 1955
3 Gannagé, E..: Economie du Développement, Paris 1962
4 Nohlen, D. (Hrsg.).: Lexikon Dritte Welt. Baden-Baden 1980, S. 100
5 Die Literatur dazu ist sehr umfangreich. S. u.a. Martinelli, A.: Dualismus und Abhängigkeit in:
Senghaas, D. (Hrsg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt 1972, S. 356 ff
6 Nohlen, D. (Hrsg.): Lexikon a.a.O., S. 322
Ökonomie mehrere 'ökonomische Systeme' (Cordova/Michelena) in Abhängigkeit voneinander koexistieren. Bestimmend für deren Verhältnis, Entwicklungsgrad und Organisation ist der höchstentwickelte und damit dominierende, auf den Weltmarkt bezogene Sektor."1 Dies ist auch der Inhalt des alternativen Konzepts der
strukturellen Heterogenität.
Dazu ist allerdings anzumerken, dass trotz zahlreichen Versuchen (z.B. D.
Senghaas2, Hamburger Autorenkollektiv3) das analytische Problem, wie die Merkmale der "ökonomischen Systeme" theoretisch zu' bestimmen sind, noch ungenügend gelöst ist.4
Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen und gestützt auf empirisches Material5 wird hier die These vertreten, dass die strukturelle Heterogenität, wie sie oben definiert ist, eines der wichtigsten Merkmale des marokkanischen Agrarsektors ist und für die Agrarpolitik eines der grössten Probleme darstellt. Die Subsysteme der marokkanischen Landwirtschaft werden im Folgenden mit "traditionell" und "modern"
bezeichnet. Dabei ist uns jedoch bewusst, dass dieses Begriffspaar mangelhaft und damit anfechtbar ist.6 Dies muss aber in Kauf genommen werden, da bis heute eine treffendere Charakterisierung der Subsektoren der Landwirtschaft noch nicht
gefunden wurde. Ein zusätzlicher Grund, mit diesem Begriffspaar zu arbeiten, ist forschungspraktischer Art: Sämtlichen statistischen Daten, die uns in diesem Zusammenhang zur Verfügung stehen, liegt dieses Begriffspaar zugrunde.
Die Differenzierung der marokkanischen Landwirtschaft, in einen modernen und einen "traditionellen" Sub-Sektor ist, wie dies aus zahlreichen empirischen Studien hervorgeht, auf die Kolonialzeit zurückzuführen.7 Wichtig an dieser Stelle ist es
1 Ebenda, S. 322
2 Senghaas, D.: Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik, Frankfurt 1977
3 Hamburger Autorenkollektiv: Zur Analyse der strukturellen Heterogenität unterentwickelter Gesellschaften, in: Handbuch der 3. Welt, Bd. I, Hamburg 1974, S. 115 ff
4 Nohlen, D. (Hrsg.): Lexikon a.a.O., S. 322 ff
5 vgl. u.a. Bellal, A.: Investissement au Maroc (1912-1964). Casablanca 1976 - Salmi, J.: Planification sans Développement. Evaluation de I'expérience marocaine de planification (1960-1969). Casablanca 1979
6 Amin, S.: z.B. betont im Anschluss ah F. Fanon, dass es in Afrika keine traditionalen, sondern nur noch kolonial deformierte und postkolonial abhängige periphere Gesellschaften gebe. Vgl. Amin, S.:
Underdevelopment and Dependence in Black Africa, in: Journal of modern African Studies, Bd. 10 (1972), S. 524
7 S. u.a. die zitierten Bücher von Bellal, A., Salmi, J., und Amin, S.
jedoch darauf hinzuweisen, dass dieses zentrale Strukturproblem des
marokkanischen Agrarsektors durch die nachkoloniale Agrarpolitik nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil, wie es unter Punkt 5 zu sehen ist, vertieft wurde. Inzwischen sollen aber die beiden Sektoren im Falle Marokkos kurz charakterisiert werden.
Der moderne Landwirtschaftssektor umfasst heute im Wesentlichen ehemaliges Kolonialland bzw. den marokkanischen Grossgrundbesitz in Bewässerungsgebieten auch Kleinbetriebe. Flächenmässig wird er nach den letztverfügbaren Angaben1 auf rund 1,5 Mio ha geschätzt (20 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche), rund 37,3 % davon (558'759 ha) lagen Ende 1980 in den Bewässerungsgebieten. Zudem werden in diesem Sektor, der rund 100'000 Menschen beschäftigt, in erster Linie "cash crops" produziert, wie Agrumen und Wein (ca. 80 % der Gesamternte), Gemüse. (35
%) und Industriekulturen (über 95%). Der flächenmässig wesentlich kleinere moderne Sektor erwirtschaftet ca. 30 % der Agrarproduktion.2
Der traditionelle Agrarsektor umfasst hingegen den grössten Teil der
marokkanischen Landwirtschaft: 80 % der. landwirtschaftlichen Nutzfläche und rund 75 % der in der Landwirtschaft Beschäftigten sind diesem Sektor zuzurechnen (ca.
6,7 Mio ha). Im Gegensatz zum modernen Sektor konzentriert sich dieser Sektor in der Hauptsache auf Erzeugnisse des täglichen Konsumbedarfs der einheimischen Bevölkerung. Er liefert z.B. 60-70 % der gesamten Getreideproduktion (bei weitem das Hauptprodukt der marokkanischen Landwirtschaft, s.o.) und 80-85 % der Hülsenfrüchte.3
Weitere allgemeine Abgrenzungsfaktoren des traditionellen Sektors zum modernen sind:
- Ein besonders hoher Kenntnisrückstand in der Anwendung moderner Produktionstechniken
- Kapitalmangel und geringe staatliche Förderung (darauf wird später detaillierter eingegangen)
- Ein geringer Einsatz ertragssteigernder Produktionsfaktoren
1 Bouderbala, N. u.a.: Question Agraire 2 a.a.O., S. 68
2 Die hier angegebenen Prozentsätze des modernen Agrarsektors beziehen sich exemplarisch auf das Jahr 1976. Vgl. MARA: Projection de la demande des produits alimentaires 1982/2000.
(Division des Affaires Economiques), Rabat 1977 (unveröffentlicht)
3 Ebenda
- Durchschnittliche Bruttoeinnahmen von 400 DH/ha im Gegensatz zu 2'000-2'500 DH/ha.1 Man hat also pro Hektar 5 - 6mal mehr Erträge im modernen als im traditionellen Sektor
- überwiegende Bewirtschaftung für den Eigenbedarf gegenüber der inlandsmarkt- oder exportorientierten Produktion im modernen Bereich.2
Nach dieser allgemeinen Charakterisierung des "modernen" und "traditionellen"
Sektors muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass diese beiden Sektoren nicht getrennt voneinander existieren. Eine wichtige Verbindungslinie zwischen ihnen ist der Arbeitsmarkt. Ohne das überschüssige Arbeitsangebot des traditionellen Agrarsektors, welches das allgemeine Lohnniveau hinunterdrückt und eine "brave"
Arbeitskraft ermöglicht, könnte der moderne Sektor nicht so konkurrenzfähig wie bisher für den Weltmarkt produzieren. Auch im Bereich der staatlichen
Förderungsmassnahmen (Investitionen, Bereitstellung von qualifizierten
Arbeitskräften, usw.) konkurrenzieren sich die beiden Sektoren. Die Entwicklung des einen wird also durch die Entwicklung des anderen bedingt.
Schliesslich bildet die strukturelle Heterogenität im Agrarsektor die Basis für die Abhängigkeit dieses Sektors vom Weltmarkt. Diese Art Abhängigkeit – in der Literatur "strukturelle Abhängigkeit" genannt - bleibt in Marokko, auch nach 25 Jahren politischer Unabhängigkeit eines der zentralen Probleme der Volkswirtschaft im Allgemeinen und der Landwirtschaft im Besonderen.
(Auf die anderen Aspekte der Abhängigkeit (Handels-, Finanzbereich, usw. wird im 3.
Teil (Punkt 10) eingegangen).
In diesem Kapitel ist der Versuch unternommen worden, die wichtigsten Grundzüge und Probleme des marokkanischen Agrarsektors möglichst systematisch
darzustellen und zu analysieren. Eine kurze Zusammenfassung der dabei erzielten Ergebnisse werden wir am Schluss dieses II. Teils aufführen, nachdem die
Agrarpolitik behandelt worden ist. Dieses Vorgehen ermöglicht uns, einerseits
Wiederholungen zu vermeiden, andererseits, und dies ist wichtiger, die Probleme des
1 Lahbab, M.: L'Economie Marocaine ... a.a.O., S. 42
2 Eine sehr detaillierte Darstellung der inland- sowie der exportorientierten Sektoren der
marokkanischen Landwirtschaft wird geliefert von AIlaya, M.: Maroc. Le secteur agricole et ses perspectives à l'horizon 1990. Montpellier 1980
Agrarsektors mit der Agrarpolitik zu konfrontieren. Wir können damit die Ergebnisse der beiden Kapitel dieses II. Teils direkt in Verbindung setzen.