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1 Verhältnis von Soziologie und P o litik

1.1 Soziologen als vermeintliche A k teu re

Ein kleiner historischer Einschub: In der Periode des Neubeginns (vgl. Steiner 1988), als die DDR gerade erst gegründet war, stießen aus verschiedenen anderen Disziplinen Wis­

senschaftler zur Soziologie, die eine durch die Zeichen dieser Zeit geprägte Biographie aufwiesen. Das waren Menschen jener Generation, die zumeist faschistischen Terror und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erlebt hatten. Bei ihnen war durch eigene Erfah­

rung und durch Ausbildung das Bewußtsein gewachsen, daß die Ursachen des Krieges, der erlebten sozialen N ot und Ungerechtigkeit ursächlich bei den bis Kriegsende in Deutschland ökonomisch und politisch herrschenden Klassen lagen.

Die mit solchen Lebenswegen und Einstellungen zur Soziologie stießen, hatten sich meist schon zuvor mit den im Osten Deutschlands vollzogenen politischen und sozialen Umwälzungen identifiziert. Sie konnten die für Kinder der arbeitenden Klassen und Schichten erschlossenen Bildungsmöglichkeiten nutzen und erfuhren in diesem Lebens­

abschnitt tiefgreifende Reformen, die einen bescheidenen, aber gesicherten sozialen Auf­

stieg und ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit versprachen. Diese Soziologen­

generation hatte die damals vorherrschenden Ideen sozialer Gerechtigkeit, sozialer Si­

7 Die Soziologen ist sicher zu undifferenziert gefaßt. Hier ist vor allem die ältere Generation im Blick, die einen prägenden Einfluß auf die Gesamtentwicklung der Wissenschaftsdisziplin hatte. Vor allem jüngere Soziologen, die eine andere geschichtliche und soziale Entwicklung hatten, zum Beispiel die Wirren des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht selbst erlebten, brachten nicht selten andere Interessen, andere Werte und Zielstellungen und auch ein anderes Wissenschaftsverständnis in die Soziologie ein. (Vgl. Jansen 1992, S. 479)

Ru d iWeidig

cherheit und Gleichheit, des Antifaschismus, des Friedens, der Solidarität (weil über­

einstimmend mit eigenen Interessen) verinnerlicht. Solche Visionen wirkten faszinierend, sie motivierten und waren für damalige Soziologie-Enthusiasten feste Orientierungen für die soziologische Arbeit.

So kamen sozialistische, von Marx, Engels und Lenin ausgehende soziale Ideale in die sich im Osten neu entwickelnde Soziologie. Sie wirkten orientierend auf Themenwahl und Schwerpunkte der Forschung und nicht zuletzt auch auf das bei DDR-Soziologen ausgeprägte Bestreben, die sich entwickelnde neue Gesellschaft mit den Mitteln sozio­

logischer Erkenntnis aktiv mitzugestalten. (Vgl. Braunreuther 1966, S. 34 f.) Dieser aus Überzeugung gewachsene Anspruch, mit soziologischer Forschung praktische Wirk­

samkeit zu erreichen, zu helfen, soziale Probleme zu lösen, verändernd zu wirken (vgl.

Krambach 1996, S. 6), dieser Anspruch blieb in der DDR-Soziologie lange erhalten. So­

ziologen waren zu sozialer Politikberatung hochmotiviert.

In diesem Kontext wurde auch offen von Parteilichkeit in der Soziologie gesprochen.

Und die kritische Funktion der Soziologie wurde vor allem darin gesehen, mit aus sozio­

logischen Analysen gewonnenen Erkenntnissen auf theoretische und praktisch-politische Konzepte und die Realität der sozialen Entwicklung fortschrittsgestaltend einzuwirken.

(Vgl. Weidig/Winkler 1985, S. 24 f.) Thesen von wertneutraler sozialer Forschung hat­

ten in der DDR-Soziologie kaum Fürsprecher und auch kaum realen Boden. Die vorge­

nannten Interessen, Werteauffassungen und der Gestaltungswille der Forscherkollektive spielten bei der Auswahl der Forschungsprobleme, -thesen, -hypothesen, -Objekte, des Zeitpunkts und auch bei der Wahl des theoretischen Forschungsansatzes unbestritten eine tragende Rolle.

In Verfolgung dieser Gestaltungsposition haben DDR-Soziologen mit ihren For­

schungen nicht bloß eine Fülle von Material produziert, Problematisches und Neues in der DDR-Wirklichkeit aufgespürt und in vielen Forschungsberichten, Informationen.

Studien, Büchern und Konferenzmaterialien8 aufgeschrieben.

Sie haben damit verbunden zu wichtigen Fragen der sozialen Entwicklung neue E r­

kenntnisse gewonnen, die - soweit sie in die gesellschaftliche Öffentlichkeit gelangen konnten - große Beachtung fanden. Das trifft zum Beispiel für solche sozialen Themen zu, wie soziale Gleichheit und Ungleichheit, soziale Differenzierung in der Dynamik von sozialen Klassen, Schichten und Gruppen, die Herausbildung sozialer Gerechtigkeit und 8 Einen Einblick in die Fülle des Materials vermittelt zum Beispiel die von 1967 bis 1989 vom Wis­

senschaftlichen Rat für soziologische Forschung in der DDR herausgegebene Schriftenreihe

„Soziologie“ (insgesamt 52 Hefte). (Vgl. W.R. 1)

In der vom Informationszentrum Sozialwissenschaften (IZ), Bonn, Berlin herausgegebenen Reihe

„Sozialforschung in der DDR“, Band 1-10, werden allein 5036 unveröffentlichte Forschungsarbeiten aus der DDR dokumentiert, von denen der größte Teil soziologische Arbeiten sind.

Besonders informativ in dieser Hinsicht sind auch die wissenschaftlichen Studien, die von DDR- Soziologen anläßlich besonderer gesellschaftlicher Ereignisse speziell zur Politikberatung ausgear­

beitet und oberen Entscheidungsträgern der Politik und Wirtschaft zugeleitet wurden. (Vgl. Weidig 1994 und Krambach 1994). So wurden allein im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Aus­

wertung des 3. Soziologie-Kongresses der DDR (1980) 17 Problemstudien mit empirischen Analysen und konkreten Vorschlägen für die Lösung sozialer Probleme ausgearbeitet und übergeben.

Sicherheit, die soziale Gleichstellung von Mann und Frau, soziale Mobilität, speziell die soziale Reproduktion der Schicht der Intelligenz aus der Arbeiter- und Bauernschaft, die soziale Entwicklung von Bildung, Familie, speziellen Territorien, von Stadt und Land und die soziale Gestaltung moderner Technologien.

Zu solchen Themen wurde in der DDR-Soziologie empirisch geforscht, wurden we­

sentliche theoretische Erkenntnisse gewonnen, die in den Bestand der Soziologie einge­

bracht werden konnten.9 Solche Erkenntnisse und entsprechende Publikationen stießen bei vielen Menschen auf großes Interesse und auf Zustimmung. Bei so manchem Staats­

und Parteioberen allerdings erzeugten soziologische Erkenntnisse und Informationen über die Wirklichkeit nicht selten nervöse und arrogante Reaktionen.10

Wenn also in der DDR-Soziologie von Parteinahme die Rede war, so zielte das nicht auf solche - nicht selten behauptete - Naivitäten ab, mit der Forschung Parteibeschlüsse, Dogmen nachzubeten oder um jeden Preis die Politik zu legitimieren. Die Parteinahme der Soziologen - diese Überzeugung herrschte vor - war eine Orientierung auf das prak­

tische Leben, auf das als neu Angesehene, auf die sozialen Interessen vieler Menschen, auf gesellschaftliche Modernisierung, auf sozialen Fortschritt. Eine solche, im Grunde ehrenhafte Haltung hat aber auch - wie sich zeigte - ihre Schattenseiten. Die ständige Balance zwischen Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit hat in der DDR-Soziologie nicht nur viel Kraft, sondern auch Substanz gekostet, führte nicht selten zur Vermengung von Forschung und politischem Ideal und auch zu Rollenkonflikten. Die massive Bin­

dung an vorherrschende Leitbilder und die geistige Nähe zur Politik - so lassen die Er­

fahrungen erkennen - machten auch anfällig für Disziplinierungen. Sie reduzierten die erforderliche kritische Distanz zur politischen Wirklichkeit und waren auch geistiger Bo­

den, der zu Selbstzensur verleitete und Tabuisierung akzeptierte.11

Solche Gefahren und solches Verhalten haben der DDR-Soziologie nicht wenige Ent­

stellungen mit sich gebracht.

9 Die von Lepsius (1993, S. 336) gegebene Einschätzung, daß die Soziologie der DDR „theoretisch unterentwickelt“ und nur „pragmatisch anwendungsbezogen“ war, trifft nur bedingt zu. Gerade zu o.g. zentralen Themen sozialer Entwicklung wurden theoretisch fundierte Beiträge, wenn auch keine

„abgeschlossene“ Theorie, erarbeitet. Weitere Arbeiten, die mehr auf die theoretische Profilierung der Soziologie zielten, waren 1989/90 in Vorbereitung und bereits in Forschungskollektiven und in der Leitung des Wissenschaftlichen Rates diskutiert.

10 Zum Beispiel wurde von mir mindestens 30mal von zentralen Institutionen der SED in den 18 Jah­

ren meiner Tätigkeit als Institutsdirektor und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates gefordert, Erklärungen oder Stellungnahmen zu Veröffentlichungen von Soziologen der DDR abzugeben, in denen empirisches Material, analytische oder theoretische Aussagen enthalten waren, die vom vorge­

stellten Gesellschaftsbild abwichen. Besonders nervös wurde reagiert, wenn derartiges soziologisches Material in Medien der BRD gemeldet wurde.

11 Das führte besonders bei Veröffentlichungen zu Aussagen mehr propagandistischer Art, zur diszipli­

nierten Einhaltung von geforderten Norm teilen“, wie der wiederholten Darlegung von „Vorzügen, Errungenschaften und Überlegenheit des Sozialismus“, der .Auseinandersetzung mit dem politi­

schen Gegner“ usw. Solche aufgesetzten politischen Aussagen (vgl. Krambach 1997, S. 6) machten soziologische Publikationen nicht selten uninteressant und langweilig.

Rudi Weidig