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1 Verhältnis von Soziologie und P o litik

1.2 R eduzierungen

Es gab in der etwa 40jährigen Geschichte der DDR-Soziologie immer beides: sie wurde durch Politik gefordert und gefordert, aber auch blockiert und kleingehalten. In manchen Zeiten gab es verbal beachtliche Zustimmung und Anerkennung, mal mehr das Für, mal mehr das Wider. Eine solche wechselbadartige Berührung von Politik und Soziologie, die mehr oder weniger jeder engagierte DDR-Soziologe in seiner wissenschaftlichen Lauf­

bahn erlebte, war in den einzelnen geschichtlichen Perioden unterschiedlich, aber gegen­

wärtig war sie stets. Aber auch an unterschiedlichen Orten, auf den verschiedenen Stufen der Hierarchie war das unterschiedlich. Die gegenüber der Soziologie fundamental auf marxistisch-leninistische Ideologie pochenden Wächter wirkten auch nicht nur in Partei-, Gewerkschafts- und Staatsbüros, sondern sie wirkten (besonders in den 60er und 70er Jahren) zum Teil hartnäckiger in den Büros des Wissenschaftsapparates. Hauptsächlich traf das zu für Hardliner der „Drei Bestandteile des Marxismus-Leninismus“: der marxi­

stisch-leninistischen Philosophie, der Politischen Ökonomie und des Wissenschaftlichen Kommunismus. Und schließlich sollte nicht außer acht gelassen werden, daß je nach po­

litischer Großwetterlage bis in die 80er Jahre der Einfluß des sowjetischen Soziologie­

verständnisses, der Geschichte und der Leitbilder der Sowjetwissenschaft auf die Haltun­

gen von Wissenschaftlern in der DDR immer gegenwärtig war, und dieser Einfluß war nicht gering. Anfangs stand die Existenzfrage, und die Antwort war negativ für die So­

ziologie.

Wie auch die Sozialpsychologie und andere Disziplinen wurde die Soziologie als bür­

gerliche Pseudo Wissenschaft abgestempelt und lediglich der kapitalistischen Gesellschaft zugeordnet. (Vgl. Klaus/Buhr 1964, S. 82, 234, 543) Eine solche Sicht hatte sicherlich mehrere Ursachen, die nicht wenig mit geschichtlichen Entwicklungen und Prozessen der stalinistischen Zeit der Sowjetunion und der unmittelbaren Nachkriegszeit zu tun hatten.

Da blieb wenig Platz und kaum Sinn für soziale Differenzierungen, für feine Unterschiede und detaillierte Strukturen.

Eine Erklärung für die Negation der Soziologie als Wissenschaft in den Anfangsjahren der DDR leitet sich auch daraus ab, daß einige Soziologen in der Nazizeit (z.B. in Leip­

zig) in Forschung und Ausbildung konzeptionell für den Faschismus tätig waren und mit soziologischer Deklaration nationalistische und rassistische Gesellschaftsbilder begrün­

deten und propagierten. Nicht wenige Soziologen mit faschistischer Vergangenheit hat­

ten nach 1945 die DDR verlassen, waren in der BRD wieder zu Amt und Würden ge­

langt und wurden antikommunistisch gegen die Sowjetunion und die DDR aktiv. Andere Soziologen aus der früheren Zeit, die in Ostdeutschland blieben, betrieben Soziologie fernab von den hier vollzogenen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen, sozialen Notlagen und Entwicklungen. (Vgl. Steiner 1991, S. 500 f. und W olf 1991, S. 519 f.)

Ursache für die damalige Ablehnung des Erkenntniswertes der Soziologie war aber hauptsächlich die maßlose Geringschätzung einer empirisch soziologischen Erklärung der Gesellschaft. Was die vom Stalinismus vulgarisierten „Drei Bestandteile des Marxismus- Leninismus“ an Theorie über das Ganze der Gesellschaft, über gesellschaftliche Ent­

wicklung, Gesetzmäßigkeit, Fortschritt, über die „historische Rolle“ der Arbeiterklasse,

des Staates usw. vermittelten, wurde ausreichend als Wissen für die Herausbildung einer neuen Gesellschaft erklärt. Damit verbunden wurden viele Erkenntnisse des Leninismus in ihrer Stalinschen Verzerrung sowie entsprechende dogmatische Leitsätze und ideolo­

gische Entscheidungen übernommen. Eine davon war die Erklärung der Soziologie als bürgerliche Disziplin, als dem Sozialismus wesensfremd.

Im wesentlichen lag dem ein Verständnis von Gesellschaft zugrunde, das auf einen ge­

setzmäßigen Verlauf, besonders auf den unaufhaltsamen Sieg des Sozialismus baute und vom tatsächlichen praktischen Handeln der unterschiedlichen sozialen Subjekte, deren Organisation, Struktur und Differenzierung, abgehoben hatte. Von solchem Gesell­

schaftsverständnis aus war die empirische Analyse der Gesellschaft, ihrer verschiedenen Teile und Bereiche, des Verhaltens und Handelns der vielfältigen sozialen Gruppen, ihrer sozialen Struktur usw. nicht nötig. Soziologie wurde als Scheinwissenschaft abgetan, die den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte nicht aufdecken könne und somit eine wissen­

schaftliche Erklärung der Gesellschaft verhindere, die von den tatsächlichen Triebkräften und von den Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Fortschritts ablenke. Und jeder Versuch, die Gesellschaft empirisch soziologisch zu analysieren, wurde als ,Flucht ins Detail“, als „bloße Beschreibung von Fakten“ oder als „Ausweichen vor der Theorie“

abgestempelt.

Die ablehnende Haltung zur Soziologie resultierte aber auch aus praktisch politischen Ansichten. Das, was die Parteiinformation über das reale Leben vermittelte, wurde von Dogmatikern im Apparat, die sich auch anschickten, über Wissenschaft zu entscheiden, als allein ausreichende Information zur Bewertung der sozialen Wirklichkeit und für po­

litische Entscheidungen angesehen. Mehr an Informationen und anderes empirisches Material wurde lange Zeit nicht für erforderlich gehalten. Diese wissenschaftsschädi­

gende Haltung hat Jürgen Kuczynski treffend charakterisiert: „ ... was uns, insbesondere nach 1945, fehlte, war die praktische soziologische Untersuchung sozialer Phänomene, die soziologischer Untersuchung dringend bedurften. D er Fortfall praktischer soziologi­

scher Gegenwartsforschung ... war nicht nur schädlich, da er den Aufbau des Sozialismus behinderte, wie jeder Mangel wissenschaftlicher Durchdringung der gesellschaftlichen Realität. Er ist schwer zu verstehen angesichts der marxistischen Tradition auf diesem Gebiet.“ (Kuczynski 1986, S. 30)

Derartige Engstirnigkeiten, die Sinn und Wert soziologischer Analyse der Gesellschaft massiv anzweifelten, wurden von einigen führenden Funktionären in der Spitze des poli­

tischen Apparates in der gesamten Geschichte der DDR nicht aufgegeben, und sie haben der soziologischen Wissenschaft sehr geschadet.12 Diese, die Soziologie total

vemei-12 Eine solche Position bei Mitgliedern des Sekretariats des ZK der SED führte zum Beispiel 1979 zur Auflösung des Instituts für Meinungsforschung in Berlin. Eine der Begründungen dafür war, daß die parteiinterne Information sich derart qualifiziert habe, daß ein besonderes Institut zur Erforschung der Meinungen nicht mehr erforderlich sei. Dieser Fakt zeigt, daß in der Spitze der SED-Führung die Meinungen über Wert oder Nichtwert wissenschaftlicher empirischer Forschungsarbeit konträr waren. 1964 war durch das Sekretariat des ZK der SED der Beschluß zur „Bildung eines Instituts für Meinungsforschung in der DDR“ gefaßt worden (vgl. Vademecum, S. 136 f.), 15 Jahre später, bei veränderter Zusammensetzung dieses Gremiums (Werner Lamberz, der als Mitglied des Politbüros

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nende Position, kollidierte bereits in den 50er Jahren immer offensichtlicher mit den Rea­

litäten der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung und auch mit dem sich herausbildenden neuen Wissenschaftsverständnis von auf Erkenntnisfortschritt orientierten Wissenschaftlern. Starke Impulse und Ermutigungen eröffnete auch diesbe­

züglich die vom 20. Parteitag der KPdSU eingeleitete Auseinandersetzung mit dem Sta­

linismus und seinen Dogmen. Die groben Stalinschen Raster der Gesellschaftserklärung und der Zukunftsdeutung als unaufhaltsamer sozialer Fortschritt gerieten in Mißkredit und so auch die Antisoziologie-Position.

Die soziologische Erforschung wichtiger Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit wurde jetzt für Wissenschaftler und Studenten, die auf das reale Leben orientiert waren, möglich und ein faszinierendes Thema. In der DDR begann der soziologische Aufbruch Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre an den Universitäten und Hochschulen in Leipzig, Berlin, Rostock, Halle, Merseburg und mit Beginn der 60er Jahre auch am damaligen Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Und die Nestoren der sozio­

logischen Forschung in der DDR waren so gestandene Wissenschaftler wie Jürgen Kuczynski (Berlin), Hermann Scheier (Berlin), Kurt Braunreuther (Berlin), Robert Schulz (Leipzig). Sie waren vorwiegend Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler und führten mutig und mit Weitsicht Studenten und Aspiranten ihrer Disziplin in die konkret­

soziologische13 Forschung. Die dabei gewonnenen, ersten soziologischen Erkenntnisse über soziale Wirklichkeit der DDR stellten einen beachtlichen Einbruch in bis dahin gül­

tige Gesellschaftsbilder dar, griffen Schönfärberei an, und sie wurden im praktischen Alltag mit großem Interesse aufgenommen.

Die Atmosphäre des Aufbruchs, der Mut, die Hoffnung und die Bescheidenheit des Beginns sind aus ersten soziologischen Publikationen dieser Zeit erkennbar. Hermann Scheier, zum Beispiel, stellte der Veröffentlichung soziologischer Studien von fünf Ab­

solventen seines Faches, die sie im Zusammenhang mit Berufspraktika in Praxisbereichen angefertigt hatten, im V orwort aufschlußreiche Sätze voran. Es heißt dort zu den Studi­

en: „Sie sind ein erster Versuch junger Marxisten, Absolventen des Philosophiestudiums, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über objektive Entwicklungsprozesse unserer gesell­

schaftlichen Wirklichkeit zu gelangen, indem sie nicht nur das von den Gesellschaftswis­

senschaften gelieferte Tatsachenmaterial theoretisch verarbeiten, sondern diese Prozesse des gesellschaftlichen Lebens auch in der Wirklichkeit unmittelbar beobachten.“ Und weiter schreibt Hermann Scheier: „Darum gewinnen die Aufsätze dieses Sammelbandes

für eine wissenschaftliche Analyse der Wirklichkeit eingetreten war, war durch Tod ausgeschieden), wurde der Beschluß rückgängig gemacht und das Institut kurzerhand aufgelöst.

13 Die Anfangssituation der DDR-Soziologie soll hier wenigstens knapp benannt werden, weil sie für das Verständnis wichtiger Zusammenhänge von Soziologie und Politik und auch bei heutiger Dis­

kussion um dieses Verhältnis nicht außer acht gelassen werden sollte. In dieser Anfangsphase wurde, wie in anderen osteuropäischen Ländern und besonders in der Sowjetunion, auch in der DDR für solche Untersuchungen oft der Begriff „konkret-soziologische Forschung“ oder auch .konkrete Tat­

sachenforschung“ gebraucht. Das auch deshalb, um ein spezielles Soziologieverständnis zum Aus­

druck zu bringen, das abwich von dem, was offiziell unter Soziologie verstanden wurde. In gewisser Hinsicht handelte es sich - wie das manchmal gesagt wurde - um eine soziologische Forschung ohne Soziologen. Es war nicht mehr nur historischer Materialismus und noch nicht das Potential ausge­

reifter Soziologie, was hier für Gesellschaftsanalyse zum Einsatz kam.

besondere Bedeutung, weil sie ein Schritt in der notwendigen Richtung unserer wissen­

schaftlichen Forschungsarbeit sind, so sehr ihnen auch noch die Mängel des Anfangs un­

vermeidbar anhaften mögen.“ (Vgl. Scheier 1958, S. 5, 6, 7)

Im Grunde handelte es sich in dieser Phase der Entwicklung der soziologischen Diszi­

plin um die wissenschaftliche Hinwendung von Ökonomen, Philosophen und von Wis­

senschaftlern anderer Gebiete zur Analyse und Erklärung sozialer Wirklichkeit mit sozio­

logischen Mitteln. Es war ein mutiger Aufbruch und ein langer Selbstverständigungspro­

zeß von „reform-orientierten Gesellschaftswissenschaftlern und Philosophen“. (Vgl.

M eyer 1994, S. 28)

Diese ganze Periode des soziologischen Aufbruchs war naturgemäß begleitet von hef­

tigen Debatten über Methoden und Techniken empirischer Analyse, vor allem aber über solche Grundfragen wie das theoretische Gebäude und die Erklärungskraft der Soziolo­

gie, über das Verhältnis von Theorie und Empirie und damit über den wissenschaftlichen Gegenstand der sich entwickelnden Disziplin. (Vgl. Rittershaus/Taubert 1964) Und es wurden dabei von den Akteuren der Wissenschaft des Landes und von Außenstehenden unterschiedliche Interessen, Vorbilder und Leitbilder in die Diskussion gebracht, die den Meinungsstreit noch ankurbelten. (Vgl. Ludz 1964) Die am Anfang stehenden Soziolo­

gen waren Suchende für die neue Disziplin. Sie führten die Diskussion über derartige Fragen, weil sie diese für die Profilierung der Disziplin beantwortet brauchten. Zumal keiner der Nestoren und auch kein bekannt gewordener Soziologe aus der Nachfolgege­

neration in der DDR damals und später bis zum Herbst 1989 allgemein von Soziologie oder gar von bloßer Übernahme theoretischer Konzepte oder empirischer Positionen bürgerlicher Soziologie sprach. Das erklärte Ziel war stets die Herausbildung einer mar­

xistischen oder auch marxistisch-leninistischen Soziologie. Diese sollte, so war die allge­

meine Meinung, alles kritisch integrieren, was die nichtmarxistische Soziologie an brauchbaren Methoden und Techniken hervorgebracht hatte bzw. nutzte, und sollte neue, marxistische Gesellschaftstheorie enthalten.

Aber den Fundamentalisten in den wissenschaftlichen „Grundlagenfächem“ und im politischen Apparat waren dieser Neubeginn der Soziologie und vor allem die empirische Analyse der Wirklichkeit durch Soziologen sehr verdächtig. Einige davon hielten prinzi­

piell fest an ihrer totalen Negation der Soziologie. Andere negierten weiter Sinn und Wert, vor allem die Verläßlichkeit und die Aussagekraft empirischer Forschungen. Und die Kritiker, denen schon die soziologischen Anfänge gefährlich, revisionistisch vorka­

men, besannen sich auf Lenin und griffen zu dem „schlagenden Argument“, daß der hi­

storische Materialismus die Soziologie des Marxismus ist und daneben oder darüber kei­

ne andere Soziologie nötig sei. Solche dogmatischen Positionen gab es in der Sowjetuni­

on, in anderen realsozialistischen Ländern und auch in der DDR. Selbst Hermann Scheier und Robert Schulz, die Mitte der 60er Jahre zu den ersten reformorientierten und So­

ziologie fördernden Philosophen gehörten, hatten sich vordem solchen Thesen ange­

schlossen. Im Vorwort einer 1960 von ihnen herausgegebenen Publikation mit Beiträgen zum IV. Weltkongreß für Soziologie schrieben sie: „Der historische Materialismus als die marxistische Soziologie ist die einzig wissenschaftliche Theorie und M ethode zur E r­

kenntnis und bewußten Gestaltung sozialer Prozesse und Verhältnisse. ... Der historische Materialismus als integrierender Bestandteil der marxistischen Philosophie ist die marxi­

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stische Soziologie.“ (Vgl. Scheler/Schulz/Söder 1960, S. 7) Solche Gleichsetzungen do­

minierten zuerst, sie hielten sich lange, und sie waren mächtig.

N och Anfang der 70er Jahre wurden in der Sowjetunion - obwohl auch dort neues so­

ziologisches Denken sich bereits durchgesetzt hatte, Publikationen mit solchen Thesen in die Öffentlichkeit gebracht. Eine davon wurde in die DDR lanciert und erschien 1975 unter dem Titel „Der historische Materialismus als Soziologie des Marxismus- Leninismus“. (Tschesnokow 1975) Diese Publikation war voll von Thesen der Gleichset­

zung von historischem Materialismus und Soziologie. In der DDR hielten sich derartige Positionen in verschiedenen Varianten: als schroffe Ablehnung einer Soziologie neben dem historischem Materialismus, als definitorische Trennung von Soziologie (als histori­

scher Materialismus) und „konkret soziologischer Forschung“ oder „konkreter Sozialfor­

schung“, als Reduzierung der Soziologie auf die empirisch-soziologische Forschung, auf Faktensammlung, ihre Erklärung zur Hilfswissenschaft usw.

Es geht hier nicht so sehr um eine komplette Darstellung der in der damaligen Zeit ge­

führten Diskussionen, obwohl das auch sinnvoll wäre, weil es sich um eine nicht unwich­

tige Phase deutscher Soziologiegeschichte handelt.

Die Beachtung dieser, hier bloß im Überblick angedeuteten, inhaltlichen Auseinander­

setzung ist vor allem wichtig, weil im damaligen wissenschaftlichen und politischen Streit um die Soziologie im Sozialismus entscheidende Weichenstellungen für das spätere Ver­

ständnis darüber, was Soziologie in der DDR sein konnte, vorgenommen wurden.

Die totale Negation, das politische Verwerfen der Soziologie für die sozialistische Entwicklung wie auch die Gleichsetzung von historischem Materialismus und marxisti­

scher Soziologie konnten durch engagiertes Auftreten von Wissenschaftlern zurückge­

drängt und im Prinzip überwunden werden. Das allein war schon von größter Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie zur Wissenschaft. Nicht unwesentlich war dabei, daß das Politbüro des ZK der SED in dem Beschluß vom 15.09.1964 auf seine Weise diesen Prozeß unterstützte. (Vgl. Vademecum, S. 120 f.) D er Beschluß anerkannte (offiziell erstmals in der DDR) die Soziologie als Wissenschaft, bewertete die empirische soziolo­

gische Forschung geradezu euphorisch, orientierte auf langfristige soziologische For­

schungen, sanktionierte die Etablierung der Soziologie an Universitäten, Hochschulen und Akademien, orientierte auf die Koordinierung der soziologischen Forschung durch die Bildung eines Wissenschaftlichen Rates und auf die Einrichtung eines wissenschaftli­

chen Systems der Dokumentation und Information für die Soziologie im Lande. Auch wenn heute andere Meinungen bevorzugt sind, dieser Beschluß war in aller Wi­

dersprüchlichkeit ein Schritt hin zur Anerkennung und Stabilisierung der Soziologie in der DDR. (Vgl. Krause 1992, S. 26 f.)14

Aber die Anbindung der Soziologie an den historischen Materialismus bzw. eine Defi­

nition des Gegenstandes der marxistischen Soziologie, die den historischen Materialismus als Teil, als allgemeine soziologische Theorie einschloß, war geblieben. Und diese Positi-14 In Jahren nach der Wende wurde dieser Beschluß verschiedentlich so bewertet, daß die Soziologie

damit an die Politik gebunden, eine politische Kontrolle und Bevormundung der Soziologie instal­

liert worden wäre. Solche Wertungen sind zumindest einseitig und extrem. Man sollte beachten, daß Soziologen selbst diesen Beschluß vorbereitet hatten. (Vgl. Teil 2 dieser Arbeit)

on setzte sich in der Folgezeit, ab Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre, als Soziologie- Verständnis bei DDR-Soziologen mehrheitlich durch. Marxistische Soziologie war dem­

nach mehr als der historische Materialismus.15 Sie wurde wesentlich verstanden als Hier­

archie oder als Kontinuum, auch als Stufenfolge von allgemeiner Soziologie und speziel­

len Soziologien, von allgemeiner soziologischer Theorie und speziellen soziologischen Theorien oder auch von Theorien unterschiedlicher Reichweite, über das Ganze der Ge­

sellschaft und über spezielle gesellschaftliche Bereiche, soziale Prozesse und soziale Gruppen. Soziologische Forschung wurde als sich ergänzende Einheit von Theorie und Empirie, von empirischer und theoretischer Phase der Erforschung der sozialen Wirk­

lichkeit definiert und praktiziert.16 Diese Vorstellung von marxistischer Soziologie setzte sich in der DDR weitgehend durch, wurde verschiedentlich diskutiert, kritisiert und war auch zu präzisieren. (Vgl. Aßmann/Stollberg 1977, S. 40 f.) Sie war aber keineswegs die einzige Soziologie-Definition, die in der DDR eine Rolle spielte. Zum Beispiel wurden auf einem im Spätherbst 1987 für die Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates veranstal­

teten Seminar von drei Rednern, die zu einem solchen Thema auftraten (Artur Meier, Horst Berger, Rudi Weidig), drei unterschiedliche Meinungen zum wissenschaftlichen Gegenstand der marxistischen Soziologie vorgestellt und begründet. Jürgen Kuczynski hat in seiner 1986 veröffentlichten Schrift zu diesem Thema (vgl. Kuczynski 1986, S. 25 f.) mindestens 20 verschiedenartige Auffassungen von Soziologen der DDR, der Sowjet­

union und Polens zur Bestimmung marxistischer Soziologie vorgestellt und diskutiert.

(Vgl. dazu auch Berger 1986, S. 5 ff.)

In dem hier behandelten Zusammenhang von Soziologie und Politik ist vor allem her­

vorzuheben, daß die oben beschriebene, in der DDR dominierende Auffassung über mar­

xistische Soziologie in einigen wichtigen Punkten einen wesentlichen Fortschritt dar­

stellte im Vergleich zur Situation, die bis dahin bestand. Sie war, wie bereits erwähnt, eine klare Absage an Positionen der Negierung der Soziologie, an jene, die Soziologie auf den historischen Materialismus reduzierten, an jene, die Soziologie mit „konkreten soziologischen Forschungen“, mit „Faktensammlung“ oder gar mit Empirismus gleich­

setzten. Und sie war in mancherlei Hinsicht (aus der damaligen Situation heraus) auch Konsens.

Allerdings wurden mit einer solchen Integration des historischen Materialismus in die marxistische Soziologie auch theoretische Konstruktionen, „Eckpfeiler“ - nicht selten noch in ihrer stalinistischen Dogmatisierung - in das Soziologieverständnis übernommen, die sich in der Folgezeit als nicht trag- und haltbar erwiesen haben. Das trifft zum Bei­

spiel zu für solche weltanschaulich theoretischen Aussagen, wie weitgehendes Zusam­

15 Hauptsächlich wurde diese Bestimmung marxistischer Soziologie in der DDR (wenn auch von den einzelnen Autoren jeweils variiert) ausgearbeitet und publiziert von: Hahn 1968, 1974 und Bollha- gen 1966, Aßmann, Stollberg 1977, Weidig 1977, Lötsch 1981, Berger 1986, Steiner 1989 sowie in den „Materialien der ‘Tage der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR’“. In: Wissen­

schaftlicher Rat: Soziologie im Sozialismus, 1970, Berlin.

16 Der historische Materialismus wird heute nicht selten - auch von Soziologen, die ihn vor einigen Jahren noch vertraten - als ideologischer Popanz, als Inbegriff des Dogmatismus und geistiges Un­

geheuer hingestellt. Er ist natürlich Teil einer Weltanschauung, und er ist eine Theorie, aus Analyse der Gesellschaft abgeleitet und zur Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge angetreten. Wie weit seine Erklärungskraft noch reicht, das ist eine andere Frage.

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-menfallen von Objektivität und sozialistischer Parteilichkeit in den Sozialwissenschaften, über die Triebkräfte und Inhalte des gesellschaftlichen Fortschritts, insbesondere die

„historische Mission“ der Arbeiterklasse, über den unaufhaltsamen gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus, daß ohne das theoretische Fundament des historischen Materialismus keine wissenschaftliche soziologische Fragestellung möglich sei. (Vgl. Eichhorn I 1975, S. 1154 f.) An solchen und ähnlichen „Fundamenten“ und Überfrachtungen kam die So­

ziologie in der DDR kaum vorbei, und sie wurden auch im Konzept oder im Resultat selbst der kritischsten soziologischen Forschung kaum hinterfragt oder gar in Frage ge­

stellt. Andere theoretische, allgemeinsoziologische Aussagen des historischen Materia­

lismus sind zwar weiter umstritten, haben aber durchaus auch heute noch Erkenntnis­

wert. Das trifft zum Beispiel zu für den Klassenansatz bei der Analyse gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften, für die Erkenntnis der letztlich entscheidenden Determi­

wert. Das trifft zum Beispiel zu für den Klassenansatz bei der Analyse gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften, für die Erkenntnis der letztlich entscheidenden Determi­