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Über die soziale Welt sprechen …

Es fällt mir immer schwerer, mir vorzustellen, ich hätte zu Panels viel beizutragen. Das hängt mit meinem immer stärker werdenden Gefühl einer Entfremdung von der Kunstwelt zusammen, einem Gefühl, das sich womöglich in seiner Endphase befindet. Tatsächlich kann ich schon seit einigen Jahren keine Kunstpublikationen mehr lesen – mit Ausnahme einiger weniger Texte von Freunden. So etwas einzugestehen, ist besonders problematisch auf einem Panel anlässlich des 20-jährigen Bestehens einer Zeitschrift, mit der ich lange in einem produktiven Verhältnis gestanden habe. Dieses Eingeständnis vermittelt mir ein Ge-fühl der Schuld, Freunde und Kollegen unter den Autoren und Redakteuren vernachlässigt zu haben, und auch ein Gefühl der Scham angesichts meiner Verantwortungslosigkeit, mei-nes Narzissmus und meimei-nes Eindrucks, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Dennoch ist dies wohl der beste Augenblick für meine Anmerkungen, da die Thematik des Panels Ge-legenheit bietet, über Aspekte dieser Entfremdung und ihrer Entwicklung nachzudenken.

In der Ankündigung des Panels wird die Frage gestellt, „wie angeblich autonome ästhetische Phänomene mit den spezifischen geschichtlichen, diskursiven, ideologischen und ökono-mischen Bedingungen, die ihre Produktion prägten, zusammenzudenken seien“ – ohne, so heißt es weiter, „die Eigenlogik künstlerischer Phänomene zu vernachlässigen“.

Der zentrale Aspekt meiner Entfremdung von der Kunstwelt besteht darin, dass die Kunstpraxis und vielleicht gerade der Kunstdiskurs nicht in der Lage sind, ein solches „Zu-sammendenken“ (alignment) herzustellen. Dies könnte auch als die treibende Kraft meiner Arbeit als „Institutionskritikerin“ beschrieben werden. Der Institutionskritik habe ich die Rolle zugewiesen, „die Kunstinstitution“ im Gegensatz zu „den kritischen Ansprüchen ihrer legitimierenden Diskurse, […] ihrer Selbstdarstellung als Ort des Widerstands und der Herausforderung und […] ihren Mythologien der Radikalität und symbolischen Revo-lution“ zu beurteilen.1 Das offensichtliche, hartnäckige und, wie es scheint, immer größer werdende „Nicht-Zusammendenken“ (misalignment) zwischen den legitimierenden Dis-kursen – vor allem hinsichtlich ihrer kritischen Ansprüche – und den gesellschaftlichen Bedingungen der Kunst erschien mir als zutiefst und oft auf schmerzliche Weise wider-sprüchlich, wenn nicht gar unredlich.

Mein Eindruck dieses „Nicht-Zusammendenkens“ erreichte vor einigen Jahren einen kritischen Punkt. Das hing nicht allein damit zusammen, dass die Kunst sich zu einer Wertanlage entwickelt hat, auch nicht mit der Verschmelzung der künstlerischen Kultur mit der des Spektakels und dem Promikult. Ebenso wenig hatte es zu tun mit der direkten Verbindung zwischen der Ausweitung des Kunstmarkts und der Kunstinstitutionen und

1  Andrea Fraser: From the Critique of Institutions to an Institution of Critique, in: Artforum International, Bd. 44, September 2005, H. 1, S. 278–283 sowie in dem vorliegenden Sammelband.

der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, die zur Verarmung von Milliarden von Menschen und zum weltweiten Bankrott des öffentlichen Sektors geführt hat. Vielmehr war es die fast vollständige Trennung zwischen dem, was Kunstwerke unter diesen historischen und ökonomischen Bedingungen sind, und was Künstler, Kuratoren, Kritiker und Historiker darüber sagen, was diese Kunstwerke – besonders diejenigen, die sie unterstützen – tun und bedeuten. Diese Trennung schien äußerst brisant – nicht bei den formalistischen oder phänomenologischen Ansätzen, sondern bei Herangehens-weisen, die tatsächlich versuchen, die Kunst an gesellschaftliche und historische Be-dingungen zu knüpfen. Was ich bei solchen Ansätzen ständig vorgefunden habe, war die Ausformulierung formaler und ikonografischer Untersuchungen als Figuren radikaler ge-sellschaftlicher und sogar ökonomischer Kritik, während die gesellschaftlichen und öko-nomischen Bedingungen der Werke selbst – als kulturelle Waren – entweder vollkommen ausgeblendet oder auf geradezu euphemistische Weise anerkannt wurden. Die Mehrheit von dem, was über Kunst gesagt oder geschrieben wurde, schien mir im Hinblick auf die behauptete gesellschaftliche Wirkung, besonders in Kombination mit einer Trennung von den realen gesellschaftlichen Bedingungen der Kunst, fast größenwahnsinnige Züge anzu-nehmen.2 Wie ich 2008 in einem Beitrag ausgeführt habe, befinden sich die wesentlichen Barrieren zwischen den ästhetischen und epistemologischen Formen, die die symbolischen Systeme der Kunst schaffen, und den praktischen und ökonomischen Verhältnissen, die ihre sozialen Bedingungen begründen, womöglich nicht in den physischen Räumen der Kunstobjekte, sondern in den diskursiven Räumen der Kunstgeschichte und Kunstkritik.3

Vor vielen Jahren habe ich mich, um mehr über die sozialen Bedingungen der Kunst zu erfahren, mit Bourdieu beschäftigt und stieß auch dort auf Beschreibungen des „Nicht-Zusammendenkens“ dieser Bedingungen mit den symbolischen Systemen der Kunst. In Die Regeln der Kunst fragt Bourdieu: „Was ist denn tatsächlich dieser Diskurs, der von der (sozialen oder psychologischen) Welt spricht, aber in einer Weise, als würde er nicht von ihr sprechen; der von dieser Welt nur sprechen kann, wenn er so spricht, als spräche er nicht darüber, das heißt in einer Form, die für den Autor wie den Leser eine Verneinung [dt. im Original] – im Freudschen Sinn – dessen vollzieht, was er zum Ausdruck bringt?“4

2  Natürlich muss diese Aussage ziemlich eingeschränkt werden. Man kann nur sehr wenige Verallgemeine-rungen irgendeines Aspekts des Kunstfelds machen in Anbetracht seiner heutigen Unterteilung in verschie-dene Subfelder. Der Kunstdiskurs funktioniert in den Subfeldern auf sehr unterschiedliche Weise: im vom Markt dominierten Feld der kommerziellen Galerien, Kunstmessen und Auktionen; im Feld der Ausstellun-gen und Projekte im öffentlichen Raum oder im bürokratischen Kunstfeld; im Feld des kulturellen Aktivis-mus, das sich außerhalb der Institutionen verortet; und im akademischen Feld. Einer der problematischsten Aspekte des heutigen Kunstdiskurses liegt vielleicht in seiner Rolle, Verbindungen zwischen Subfeldern der Kunst herzustellen, die fast gänzlich inkommensurabel sind hinsichtlich ihrer ökonomischen Verhältnisse sowie ihrer politischen und künstlerischen Werte. Eine Zeit lang bestand mein optimistischstes Szenario für das Kunstfeld darin, dass es vollständig in diese Subfelder zersplittern würde. Dies wäre für Künstler, deren Praktiken sich über mehrere Subfelder erstrecken, eine Herausforderung: genau zu bestimmen, wo sie sich sozial und ökonomisch verorten.

3  Andrea Fraser: Procedural Matters. The Art of Michael Fraser, in: Artforum International, Bd. 46, Sommer 2008, H. 10, S. 374–381.

4  Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 2001, S. 20.

Bourdieus Arbeit bezüglich der kulturellen Felder zielte unter anderem darauf, eine Alternative zu den rein internen und rein externen Interpretationen der Kunst zu ent-wickeln: zu den formalen beziehungsweise phänomenologischen sowie den sozial-geschichtlichen Methoden, die in den Formulierungen dieses Panels einander entgegen-gesetzt werden. Doch hier wie auch in anderen Texten behauptet Bourdieu, dass es bei der „Verneinung der sozialen Welt“ im kulturellen Diskurs nicht nur darum geht, der

„genuinen Logik“ der Kunst Aufmerksamkeit zu schenken oder der Falle eines reduzie-renden oder schematischen sozialen Determinismus zu entgehen. Stattdessen ist seine These, dass diese Verneinung des Sozialen und seines Determinismus der Kunst und dem Kunstdiskurs wesentlich ist und es sich dabei womöglich um die „genuine Logik“ des künstlerischen Phänomens selbst und um die Bedingung seiner Autonomie handelt. In Die feinen Unterschiede beschreibt er die ästhetische Disposition als eine „Bekräftigung der Macht über den domestizierten Zwang“; als das „paradoxe Produkt einer negativen öko-nomischen Bedingtheit, die über Erleichterungen, über Leichtigkeit und Ungebundenheit die Distanz zur Notwendigkeit erzeugt“.5 In The Field of Cultural Production und anderswo erscheint diese Verneinung als „schlechter Glaube […] als Leugnung der Ökonomie“, die, so Bourdieus Argument, mit einer der Bedingungen der Kunst als relativ autonomes Feld korreliert, nämlich ihrer Fähigkeit, das dominierende Prinzip der Hierarchisierung der sozialen Welt, wie er es nennt – das man aber auch das dominierende Prinzip der De-termination nennen könnte –, auszuschließen oder umzukehren.6

Natürlich ist dies in Bourdieus Arbeit einer der Gesichtspunkte, der auf bestürzende Weise veraltet erscheint. Denn heutzutage ist der Kunstdiskurs von den sozialen und psychologischen Welten besessen, besonders von ihren ökonomischen – finanziellen und affektiven – Aspekten. Der Kunstdiskurs spricht nicht mehr über die soziale und psychologische Welt, als würde er nicht von ihr sprechen. Er thematisiert diese Welt fort-während. Und doch scheint mir, als würde er größtenteils über diese Welt sprechen, um nicht darüber zu sprechen – immer noch und immer wieder in Formen, die eine Ver-neinung im spezifischen Freud’schen Sinn vollziehen. Wir sprechen über unser Interesse an sozialen, psychologischen und politischen Theorien sowie ökonomischen Strukturen und über unser Interesse an solchen künstlerischen Praktiken, die dieses Interesse teilen oder sogar versuchen, sich mit den Bedingungen, die diese Theorien beschreiben, ma-teriell zu befassen. Und doch scheinen mir diese sozialen, psychologischen, politischen und ökonomischen Interessen allgemein lediglich das zu sein, was Bourdieu „besondere, in hohem Maße sublimierte und verbrämte Interessen“7 nannte, gerahmt als Objekte der Untersuchung, Objekte der intellektuellen oder künstlerischen Einsätze, die sorgsam von den sehr materiellen ökonomischen und affektiven Einsätzen in das, was wir tun,

ge-5  Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987, S. 103.

6  Siehe Pierre Bourdieu: The Field of Cultural Production, or: The Economic World Reversed und The Production of Belief, in: ders.: The Field of Cultural Production, New York, 1993, S. 29–73, hier S. 50. Pierre Bourdieu: Contribution to an Economy of Symbolic Goods, in: ders.: The Field of Cultural Production, New York, 1993, S. 74–111, hier S. 74–76.

7  Bourdieu 1987 (wie Anm. 5), S. 372.

trennt werden. Ich betrachte den Kunstdiskurs wie auch die Kunst selbst zunehmend als von Strategien beherrscht, die untrennbar sozial, psychologisch und künstlerisch oder intellektuell sind, die darüber hinaus versuchen, eine ständige Distanz zwischen den sym-bolischen Systemen der Kunst und ihren materiellen Bedingungen zu wahren – seien diese Bedingungen politischer oder psychologischer Art, im sozialen oder individuellen Körper lokalisiert. Das dient dazu, die offenkundigen Interessen der Kunst von den un-mittelbaren, engen und konsequenten Interessen zu isolieren, die zur Teilnahme in diesem Feld motivieren, die den Einsatz von Energie und Ressourcen organisieren und in Zu-sammenhang stehen mit spezifischen Vorteilen und Befriedigungen, aber auch mit dem ständigen Schreckgespenst von Verlust, Entbehrung, Frustration, Schuld, Scham und der damit verbundenen Angst.

Wichtige Ursachen von Scham im Kunstfeld sind „das Reduzierende“, „das Schemati-sche“ und „das lediglich Illustrierende“, um Begriffe aus der Beschreibung des Panels zu verwenden, die ich in meiner Präsentation allesamt vermeiden will – also versuche ich, sie so komplex wie möglich zu gestalten. Hinter all diesen Begriffen lauert für mich zudem

„das Vulgäre“ im Sinne von „Vulgärmarxismus“ und „Vulgärdeterminismus“. Dabei muss ich immer an Groucho Marx denken. Und das wiederum erinnert mich an einen Witz, den ich The V-Girls (circa 1993) zuschreibe: Um die Feuerbach-Thesen zu paraphrasieren:

Die Philosophen haben die Welt immer nur interpretiert; es geht darum, Marx zu zitieren.

Mir ist wiederholt aufgefallen, dass Bourdieu, der offensichtlich kein Anhänger der Psychoanalyse war, immer dann auf Freud zurückgriff, wenn es um literarische oder künst-lerische Felder und vor allem um deren Diskurs ging. Seine Hinweise zur „Verneinung“

in diesem Kontext erscheinen sehr präzise. Freud beschreibt die Verneinung als einen Mechanismus, bei dem „[e] in verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt […] zum Bewusstsein durchdringen [kann]“ bis hin zur „volle[n] intellektuelle[n] Annahme des Verdrängten“; und doch bleibt die Verdrängung bestehen, weil „sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven Vorgang scheidet“.8 Bourdieus Beschreibung dieser Verneinung als sich vollziehend ist ebenfalls außergewöhnlich präzise – anderswo bezieht er sich auf John L. Austin. Im zeitgenössischen psychoanalytischen Jargon könnte man sagen, dass Verneinungen der sozialen und psychologischen Welten in der Kunst und im Kunstdiskurs aufgeführt (enacted) werden. Freud beschreibt die Verneinung auch als wesentlich für die Entwicklung der Urteilsfunktion, nicht nur hinsichtlich guter oder schlechter Eigen-schaften, sondern auch bezogen auf die Frage, ob ein Bild tatsächlich in der Realität exis-tiert. Denn das Schlechte, das dem Ich Fremde, das Außen-Befindliche, „ist ihm zunächst identisch“, die Verneinung leitet sich von der Verdrängung ab.9 Daher kann man sagen, dass die Verneinung sich als ein Absondern, eine Externalisation oder Projektion eines Teils des Selbst (oder vielleicht jedes relativ autonomen Felds), das als schlecht, fremd oder extern erlebt wird, vollzieht; in erster Linie als eine Distanzierung unserer affektiven Ver-bindungen zu diesem Teil. Dadurch begreife ich inzwischen viele kritische Strategien und

8  Sigmund Freud: Die Verneinung, 1925: http://textlog.de/freud-psychoanalyse-verneinung-imago.html [Abruf: 03.10.2020].

9  Ebd.

Haltungen in der Kunst und im Kunstdiskurs – einschließlich derer, die sich aus sehr unter-schiedlichen Vorstellungen von Verneinung entwickelt haben, so die Institutionskritik.

Womit ich zu kämpfen habe, ist nicht die Kluft zwischen der Kunstwelt und der so-zialen oder psychologischen Welt und noch weniger mit der zwischen formalistischen beziehungsweise phänomenologischen und sozialhistorischen Methoden. Es geht auch nicht um interne im Gegensatz zu externen Interpretationen, Realitäten oder Kausali-täten – egal ob es sich bei der Autonomie um die der Kunst oder des Selbst handelt. Was mich interessiert, ist die Kluft zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir darüber sagen (oder nicht sagen). Es geht mir um das Verhältnis zwischen dem, was in der Kunst oder im Kunstdiskurs vollzogen oder aufgeführt wird, und wie diese Handlungen symbolisiert, repräsentiert, interpretiert und verstanden werden – oder auch nicht –, und zwar von Kritikern, Historikern und Künstlern; aber vor allem geht es mir darum, wie dies im Kunst-diskurs geschieht. Mich interessiert, wie sich dieses Verhältnis selbst vollzieht.

Jegliche Kunst und alle Kunstdiskurse existieren unweigerlich in Strukturen und Be-ziehungen, die sie produzieren und reproduzieren, vollziehen oder aufführen; Strukturen und Beziehungen, die untrennbar zugleich formal und phänomenologisch, sozial, öko-nomisch und psychologisch sind. Aus dieser Perspektive liegt die Politik kultureller Phä-nomene weniger in der Frage, welche dieser Beziehungen aufgeführt werden, als eher in der Frage, welche dieser Beziehungen – und unserer Einsätze in ihnen – wir anerkennen und reflektieren und welche wir ignorieren und auslöschen, abtrennen, externalisieren oder verneinen. So gesehen besteht die Aufgabe der Kunst und des Kunstdiskurses darin, die Reflexion über jene Beziehungen, die abgetrennt worden sind, zu strukturieren. Das Ziel dieser Reflexion ist es nicht, die Einsätze, die diese Aufführungen motivieren, bloßzu-stellen oder sich von ihnen zu distanzieren, sondern ihre affektive Aufladung in Weisen zu erleben, die die Reintegration einer zuvor verleugneten Dimension der Erfahrung erlaubt.

in: Texte zur Kunst, Bd. 21, 2011, H. 81, S. 88–93, Übersetzung Karl Hoffmann.