• Keine Ergebnisse gefunden

Soziale Lage und Medikamentengebrauch

Zu Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit mit dem Gebrauch von Medikamenten mit Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial liegen wenige Erkenntnisse vor. Es gibt aber Anhaltspunkte, dass die soziale Schicht einen wesentlichen Faktor beim Gebrauch von Me-dikamenten mit Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial darstellt. In den verfügbaren Studien werden bei der Zuordnung zu einer sozialen Schicht in der Regel Einkommen, Bil-dungsstatus und beruflicher Status berücksichtigt.

Laut Arzneimittel-Survey (Knopf & Melchert 2003) gebrauchen Männer aus der Unterschicht (bezogen auf alle Arzneimittelarten) signifikant mehr Medikamente als Männer aus der Oberschicht, während sich bei den Frauen keine signifikanten Unterschiede finden. Die Herkunft der angewendeten Arzneimittel zeigt allerdings einen Zusammenhang zur sozialen Schicht. Dabei ergibt sich hinsichtlich der ausschließlichen Einnahme ärztlich verordneter Medikamente kein Einfluss der Schichtzugehörigkeit. Die Wahrscheinlichkeit von Selbstme-dikation und gleichzeitiger Anwendung von Verordnungs- und SelbstmeSelbstme-dikation ist jedoch in der Oberschicht höher als in der Unterschicht. In Bezug auf die kritischen Arzneimittelgrup-pen ist die Zahl der Anwender (7-Tage-Prävalenz) von Analgetika in der Unterschicht nied-riger und steigt mit dem sozialen Gradienten. Hier kann ein Zusammenhang zur größeren Prävalenz von Kopfschmerzerkrankungen (vgl. Kapitel 2.4.2) mit der größeren Häufigkeit der Selbstmedikation in den oberen Schichten vermutet werden. Bei den Psycholeptika ist dagegen der Verlauf umgekehrt.

In den Daten der Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen 2000 zeigte sich ebenfalls ein deutlicher Zusammenhang von Medikamentengebrauch und sozia-ler Schicht. Sowohl in der 12-Monats-Prävalenz als auch bei der 30-Tage-Pravalenz berich-teten Angehörige der unteren Schicht eine häufigere Einnahme aller Medikamentengruppen mit Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial, während die Häufigkeiten in der Oberschicht am geringsten waren. Während sich in der unteren Schicht die Prävalenzraten von Män-nern und Frauen nicht wesentlich unterschieden, berichten Frauen, die den beiden höheren Schichten zuzuordnen sind, häufiger von mindestens einem eingenommenen Medikament

als Männer der jeweiligen Schicht. Am häufigsten wird in allen sozialen Schichten der Kon-sum von Schmerzmitteln genannt. Die 30-Tage-Prävalenz des Schmerzmittelgebrauchs ist hier, anders als im Arzneimittelsurvey (s. o.) in der Unterschicht am höchsten. Erst mit gro-ßem Abstand wird mit ähnlicher Häufigkeit der Gebrauch von Beruhigungs- und Schlafmittel berichtet (Kraus 2002).

Im Vergleich weisen die beiden epidemiologischen Studien hinsichtlich der Variablen Ge-schlecht und Alter ähnliche Tendenzen auf, während sich bezogen auf die soziale Schicht schwer interpretierbare Unterschiede beim Gebrauch von Schmerzmitteln in der Unter-schicht zeigen. Dieser Umstand sollte in zukünftigen Erhebungen genaueren Analysen un-terzogen werden.

Weitere Hinweise auf einen Zusammenhang der sozialen Lange mit dem Gebrauch von Medikamenten mit Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial zeigte ein früherer Gesund-heitssurvey (Henkel 2000). Hier wurde der Konsum von Alkohol, Tabak und psychoaktiven Medikamenten bei Arbeitslosen und Einkommensarmen untersucht. Bezogen auf den Me-dikamentenkonsum wurde die mehr als zweimal wöchentliche Einnahme von Anregungs-, Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmitteln sowie von Psychopharmaka erfragt. Bei Arbeits-losen beiderlei Geschlechts ergab sich ein wesentlich höheres Risiko für den Konsum ent-sprechender Medikamente. Zwischen den Einkommensgruppen bestanden dagegen weder bei Frauen noch bei Männern signifikante Unterschiede.

Alleinerziehende Mütter und Mütter in Partnerschaften zeigen bei der Drei-Monats-Prävalenz der Einnahme von Schmerzmitteln nur geringe Unterschiede (allein Erziehende 56%, Mütter in Partnerschaft 53%). Dagegen ist ein deutlicher Unterschied bei der Drei-Monats-Prävalenz von psychoaktiven Medikamenten (Beruhigungs- und Schlafmittel, Mittel gegen Folgen von Stressbelastung und gegen Verstimmtheit/Depressionen) vorhanden.

Knapp 24% der alleinerziehenden Mütter und rund 15% der Mütter mit Partnerschaft nah-men entsprechende Medikanah-mente ein (Lampert et al. 2005).

Sußmann (2001) verweist in einer Stellungnahme zur Medikamentenabhängigkeit bei Frau-en auf PraxiserfahrungFrau-en, dFrau-enFrau-en zufolge ArbeitsmigrantinnFrau-en und FlüchtlingFrau-en in hohem Maße Schmerz- und Beruhigungsmittel verordnet werden. Dies wird auf soziokulturelle As-pekte der Beschwerdendarstellungen (generalisiertes Schmerzsyndrom) und kulturelle wie sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zurückgeführt. Ernst (2000) führt verschiedene Studien an, die auf Verzerrungen der Wahrnehmung von Schmerzäußerungen von Migran-ten/-innen durch das medizinische Personal hindeuten (‚Mittelmeersyndrom’) und die auch zur vermehrten Analgetikavergabe führten. Aufgrund eigener Studien kommt er zu dem Schluss, dass keine Unterschiede in der Prävalenz und der Intensität bei Rückenschmerzen bestehen, dass jedoch vor allem Angehörige unterer Sozialschichten (sowohl deutsche als auch nicht-deutsche) diese Schmerzen anders äußern. David, Braun & Borde (2004) bestä-tigen dagegen mit ihrer Untersuchung in Berliner Notfallambulanzen eine stärkere Alltags-belastung durch Schmerzen, eine höhere Schmerzintensität und zahlreichere Schmerzloka-lisationen bei Migrantinnen im Vergleich zu deutschen Patientinnen. Vor einer Deutung der

geäußerten Beschwerden als Übertreibung wird gewarnt. Konkrete Daten zur Verordnung oder Gebrauch von Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmitteln oder allgemein von Psycho-pharmaka bei Migrantinnen sind in den vorliegenden epidemiologischen Studien nicht ver-fügbar.

Auch beim problematischen Medikamentengebrauch, erfasst auf der Basis des Kurzfrage-bogens nach Watzl et al. (1991; vgl. Kapitel 2.3), zeigt sich ein Zusammenhang mit der Schichtzugehörigkeit. Je höher die soziale Schichtzugehörigkeit, desto niedriger ist der An-teil derjenigen Personen mit problematischem Medikamentengebrauch. Während 10% der Angehörigen der Unterschicht entsprechend dem Kriterium für einen problematischen Gebrauch mindestens vier positive Antworten gaben, sind es bei den Befragten aus der Mittelschicht nur etwa 5% und bei denen aus der Oberschicht nur etwa 3%. Das gleiche Muster zeigt sich bei beiden Geschlechtern und bei den höheren Altersgruppen. In jeder sozialen Schicht ist der Anteil der Frauen mit problematischem Medikamentengebrauch höher als der der Männer (Augustin 2006).

Vergleiche von Frauen mit unauffälligem sowie auffälligem oder abhängigem Konsum (nach Selbsteinschätzung) von Alkohol oder Medikamenten in zwei Studien (Franke et al. 1998;

2001) zeigten, dass Frauen mit sehr hohem oder abhängigem Konsum von Medikamenten niedrigere Schul- und Berufsabschlüsse haben. Das Haushaltsnettoeinkommen war mit dem der anderen Gruppen vergleichbar, die Zufriedenheit mit der finanziellen Situation war allerdings geringer als bei den unauffälligen Frauen. Die geringe Zahl der erwerbstätigen Frauen mit auffälligem Medikamentenkonsum übte Berufe mit geringerer Handlungsauto-nomie aus. Die Mehrzahl war jedoch nicht erwerbstätig, ohne sich als arbeitslos einzuord-nen. Bei sehr hohem Medikamentenkonsum war die Zahl der Getrennten und Geschiede-nen höher als bei Frauen ohne auffälligen Substanzgebrauch. Dieser Unterschied galt für medikamentenabhängige Frauen in der zweiten der beiden durchgeführten Studien jedoch nicht.

Zusammenfassend ergibt sich der Eindruck, dass die soziale Schichtzugehörigkeit sowie besondere Belastungssituationen, die mit der häufigeren Angabe von Schmerzen einherge-hen, möglicherweise nicht proportional in einem höheren Schmerzmittelkonsum resultieren.

Dagegen ist der Gebrauch von die Stimmung beeinflussenden Psychopharmaka bei Ange-hörigen niedriger sozialer Schichten sowie bei Arbeitlosen und alleinerziehenden Müttern erhöht. Problematischer Medikamentengebrauch und Medikamentenabhängigkeit nehmen nach den vorliegenden Daten ebenfalls bei sozial benachteiligten Menschen, insbesondere bei Frauen zu. Einschränkend muss allerdings darauf verwiesen werden, dass die Datenla-ge insDatenla-gesamt dünn und teilweise widersprüchlich ist. Eine weiterDatenla-gehende Absicherung der beschriebenen Zusammenhänge mit Bezug zu konkreten diagnostischen Daten ist hier dringend erforderlich.