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Niedergelassene Ärzte/-innen

Der Verkehr von Medikamenten mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial wird in Deutschland durch das Betäubungsmittelgesetz, die Rezeptpflicht und die Apothekenpflicht geregelt. Der Zugang zu entsprechenden Arzneimitteln ist für Patienten/-innen in der Regel nur über entsprechend ausgebildete Fachpersonen möglich. Die überwiegende Zahl der Verordnungen von in diesem Kontext relevanten Medikamenten wird in allgemeinärztlichen und internistischen Praxen ausgestellt (Glaeske & Janhsen 2001). Die zentrale Bedeutung der verordnenden Ärzte/-innen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Medikamen-tenmissbrauch und -abhängigkeit wird mehr oder weniger von allen Autoren/-innen zu die-sem Thema aufgegriffen. Dabei wird neben dem Problem von teilweise unkritischen oder aus Verlegenheit erstellten Verordnungen durch Ärzte/-innen auch das Dilemma der Inter-aktion mit teils passiv-duldenden, expertenorientierten oder auch Rezepte einfordernden und psychosomatische Symptominterpretationen ablehnenden Patienten/-innen deutlich.

Ansatzpunkte für die Versorgung von Patienten/-innen mit entsprechenden Beschwerden insbesondere durch hausärztliche Praxen bieten z. B. Schulungsprogramme für Ärzte/

-innen und Patienten/-innen zu unklaren (somatoformen) Beschwerden (BMBF 2005), Leit-linien und Materialien zum Thema Müdigkeit (Donner-Banzhoff, Maisel, Baum & Dörr 2002) oder psychoedukative Programme bei Angst- und Panikstörungen (Alsleben, Weiss & Wu-fer 2003).

Medikamentenabhängige gelten als vergleichsweise kooperativ, wenn ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit vom behandelnden Arzt entdeckt und die potentiellen Schäden verdeut-licht wurden (Poser 2002). Als wichtige Behandlungsmotivation wird die Kenntnis der poten-tiellen Schäden und Beeinträchtigungen genannt, wozu neben der Minderung der Gedächt-nisleistung und Merkfähigkeit noch gefühlsmäßige Verflachung und Koordinationsein-schränkungen mit Unfallrisiko, vermehrte Ängste, Depressionen und Schlafstörungen trotz Medikamenteneinnahme durch Toleranzentwicklung sowie als Folge der Übergang von der Niedrigdosisabhängigkeit zur Hochdosisabhängigkeit zählen. Patienten/-innen soll dabei besonders der Aspekt der Toleranzentwicklung überzeugen, denn wenn der gewünschte

Effekt verloren geht oder gar ins Gegenteil umschlägt, verliert die Tabletteneinnahme ihren Sinn (Holzbach 2005).

Erfahrungen belegen, dass Informationen über Arzneimittelwirkungen und -risiken immer wieder nicht oder nicht in ausreichender Form gegeben werden. In einem Überblick über verschiedene Studien zur Information durch Ärzte/-innen stellen Lerch und Dierks (2001) fest, dass 50% der Patienten/-innen Gesundheitsinformationen aus dieser Quelle vorzie-hen, bei über 55-Jährigen sind es sogar 75%. Insbesondere im Bereich der Medikation sind Ärzte/-innen für viele die einzige Informationsquelle. In über 60% der Interaktionen wurden Nebenwirkungen, Vorsichtmaßnahmen und Risiken weder durch die Behandelnden noch durch die Behandelten thematisiert (Makoul, Antson & Schofield 1995 nach Lerch & Dierks 2001). Ausreichende Aufklärung über sachgerechte Anwendung und mögliche Abhängig-keitsrisiken von Arzneimitteln sollte daher in der Behandlungspraxis Standart werden.

Die Veränderungen bei den Verordnungszahlen und der Einnahmehäufigkeit von Benzodi-azepinen legen die Vermutung nahe, dass die bisher geleistete Aufklärungsarbeit zu die-sem Thema Erfolge zeigt (vgl. Kapitel 5.3.3). Andererseits ist nicht zu übersehen, dass nach wie vor eine große Zahl von Menschen Benzodiazepine zu lange und zu hoch dosiert einnimmt (Janhsen & Glaeske 2002), obwohl diese Mittel durch die Rezeptpflicht einer Zu-gangsbeschränkung unterliegen, die für andere legale Suchtmitteln vielleicht wünschens-wert wäre. Der Vergleich von Verordnungsdaten und Umsätzen deutet darüber hinaus dar-auf hin, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Benzodiazepinverordnungen über Privatre-zepte auch an Kassenpatienten/-innen ausgegeben wird (Glaeske 2005), wie auch Erfah-rungen aus der klinischen Praxis bestätigen (Holzbach 2005).

In der Schweiz ist eine Höchstdauer von sechs Monaten für erstmalige Benzodiazepinver-ordnungen sowie eine meldepflichtige Begründung für länger dauernde VerBenzodiazepinver-ordnungen ge-setzlich vorgeschrieben. Zu den Indikationen für entsprechende Verordnungen gehören z. B. aktuelle Krisen, Nichtzumutbarkeit eines Entzugs für die Patienten/-innen aus gesund-heitlichen Gründen und die „Substitution“ von Benzodiazepinabhängigen aufgrund von Abs-tinenzunfähigkeit. Im Rahmen einer Studie konnte allerdings belegt werden, dass 28% der verordnenden Ärzte/-innen diese Bestimmungen nicht einhielt und durch zusätzliche Infor-mationen über Empfehlungen zur Benzodiazepinverordnung und die gesetzlichen Bestim-mungen nicht zu einer Änderung des Verordnungsverhaltens bewegt werden konnte (Frick, Lerch, Rehm & Crotti 2004). Diese Situation wird derzeit vom Zürcher Stadtarzt zum Anlass genommen, im Rahmen einer breiten Kampagne auch disziplinarische Maßnahmen gegen vorschriftswidrige Verordner/-innen zu ergreifen (Zürcher Fachstelle zur Prävention des Alkohol- und Medikamenten-Missbrauchs 2006).

Berufsrechtliche Maßnahmen gegenüber niedergelassenen Ärzten/-innen mit kritischen Verordnungen wurden in Deutschland in den achtziger Jahren durch die Hamburger Ärzte-kammer erprobt. Informationen über Fehlverordnungen wurden über Gesetzliche Kranken-kassen, Patienten/-innen, Angehörige, Beratungsstellen, Apotheken und staatliche Ermitt-lungsstellen ermittelt. Durch die Kammer wurde ein gestuftes Verfahren mit

Beratungsge-sprächen, Verwarnung und Berufsgerichtsverfahren durchgeführt. Der Erfolg der Maßnah-me wurde nach einem Beobachtungszeitraum von acht Jahren positiv beurteilt (Damm 1992). Die Aktivitäten wurden in der Folgezeit allerdings offensichtlich eingestellt. In einem aktuelleren Projekt von Gmünder Ersatzkasse (GEK) und Ärztekammer Westfalen-Lippe wurden ausgewählte Ärzte/-innen mit Langzeitverordnungen um eine Einzelfallbegründung gebeten, die durch eine Beratungskommission der Kammer im Einzelfall geprüft wurde.

Hier kam die Beratungskommission zu dem Schluss, dass nur rund 7% der geprüften Lang-zeitverordnungen nicht ausreichend plausibel begründet waren (Glaeske 2004). Nach Ein-schätzung der Ärzteverbände können Auswertungen von Verordnungsdaten die Versor-gungsrealität sowie den Behandlungsbedarf im konkreten Einzelfall nicht erfassen (Foll-mann & Wüstenbecker 2006), wobei hier keine konkreten Entscheidungskriterien der zu-ständigen Kommission veröffentlicht wurden.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist in Deutschland offenbar weder von einem fachlichen Kon-sens über medizinisch akzeptable Begründungen, noch von expliziten Regelungen zur Do-kumentation und Finanzierung von Langzeitbehandlungen mit Benzodiazepinen auszuge-hen. Die Notwendigkeit einer differenzierten Sichtweise auf die jeweils individuellen Um-stände der Langzeitverordnung ist dabei unbestritten. Bei den Überlegungen zu einem Ent-zug müssen Nutzen und Risiken individuell abgewogen werden (Poser 2002). Dabei sollten allerdings auch die nicht unerheblichen Langzeitrisiken und Folgen der Dauerbehandlung mit Benzodiazepinen in die Überlegungen mit einbezogen werden (Holzbach 2005). Dar-über hinaus können möglicherweise, gerade bei alten Patienten/-innen, bereits die Stabili-sierung oder zumindest eine Verringerung der eingenommenen Dosis realistische Thera-pieziele sein, wenn die Möglichkeit oder Fähigkeit zu einem Entzug bzw. zur Aufrechterhal-tung der Abstinenz fehlen (Wolter-Henseler 2000). In begründeten Fällen, in denen ein Ab-setzen oder Reduzieren von Benzodiazepinen nicht möglich ist, sollte eine Finanzierung der Behandlung durch die Gesetzlichen Krankenversicherungen außer Frage stehen. Eine scheinbar „wilde“, nicht nachprüfbare Verordnung mittels Privatrezepten trägt zu einer Klä-rung dieser Situation nicht bei und nährt den Verdacht einer unethischen Verschreibungs-praxis. Eine breite Diskussion von sinnvollen Kriterien für Langzeitverordnungen von Ben-zodiazepinen unter Einbezug von Fachleuten sowohl der klinischen als auch der ambulan-ten Praxis sowie konkrete Regelungen auf Ebene der ärztlichen Verbände und der Gesetz-lichen Krankenversicherung erscheinen hier dringend angeraten, bevor Gesetzesänderun-gen und Sanktionen am Beispiel der Schweiz in Betracht gezoGesetzesänderun-gen werden.

Darüber hinaus stellt die kontinuierliche Information und Sensibilisierung behandelnder Arz-te/-innen zu den Risiken von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit einen wichtigen Ansatzpunkt dar. In ihrem Abschlussbericht forderte die Enquetekommission zur „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW“ im Hinblick auf Medikamentenab-hängigkeit von Frauen, diese Problematik in die Curricula der ärztlichen Weiterbildungen aufzunehmen, Informationen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) bekannter und zugänglicher zu machen sowie diese Institution mit einer Publikation zum Problem der Niedrigdosisabhängigkeit und dem diesbezüglichen Verschreibungsverhalten

zu betrauen (Landtag Nordrhein-Westfalen 2004). Einen Schritt zu einer möglichen Verbes-serung der Prävention und des Erkennens von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit in der ärztlichen Praxis stellt der in Vorbereitung befindliche Praxisleitfaden

„Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit“ der Bundesärztekammer dar, dessen Veröffentlichung für den Herbst des Jahres 2006 geplant ist. Die Behandlung der Thematik im Rahmen von Ärztlichen Qualitätszirkeln zur Pharmakotherapie mit dem Ziel der Überprüfung der eigenen Verordnungspraxis und der Entwicklung von Handlungsalter-nativen auf Praxisebene (Meyer 1999) greift einen weiteren Aspekt möglicher Maßnahmen auf. Darüber hinaus sollten sich die Bemühungen auch auf die Umsetzung von Leitlinien zu Diagnose und Behandlung psychischer Beschwerden und Erkrankungen sowie Schmerzer-krankungen richten, deren Fehlversorgung einen Risikofaktor für schädlichen Medika-mentengebrauch darstellt.

Die Übertragung von Konzepten und Erfahrungen aus dem Alkoholbereich zur Früherken-nung von schädlichem Gebrauch, motivierender Gesprächsführung zur Förderung von ge-sundheitsgerechtem Verhalten sowie Kurzinterventionsmaßnahmen auf medikamentenbe-zogene Probleme erscheint – bei angemessener Berücksichtigung der Unterschiede in Ent-stehung und Verlauf der Konsummuster – als sinnvoller und effizienter Ansatz für die ärztli-che Praxis. Ausgehend von dem Umstand, dass etwa 80% der Mensärztli-chen mit einem alko-holbedingten Beratungs- oder Behandlungsbedarf mindestens einmal jährlich aufgrund ver-schiedener alkoholassoziierter Beschwerden eine hausärztliche Praxis aufsuchen, wurden in den letzten Jahren mehrere Praxishilfen zur Kurzintervention bei Alkoholproblemen he-rausgegeben (BZgA 2001; DHS 2005; Sieber 2005). Ziel der Kurzinterventionen ist es, durch Techniken der Gesprächsführung die Veränderungsbereitschaft von Patienten/-innen zu gesundheitsförderlichem Verhalten zu fördern und konkrete Lösungsschritte zu erarbei-ten. Die Übertragbarkeit des Konzepts wird derzeit im Setting eines Allgemeinkrankenhau-ses überprüft (vgl. Kapitel 3.5).

Ein Konzept zur ‚Minimalen Intervention bei Benzodiazepingebrauch’ wurde in den Nieder-landen entwickelt. In dem Forschungsprojekt wurden chronische Benzodiazepinnutzer/

-innen, die sich in der Regel ein neues Rezept bei den Arzthelfern/-innen holen, von ihren Hausärzten/-innen mit einem so genannten „Stoppbrief“ angeschrieben. In diesem wurde auf die Risiken des Langzeitgebrauchs von Benzodiazepinen hingewiesen und eine Anlei-tung zum eigenständigen, schrittweisen Absetzen der Medikamente gegeben. Nach drei Monaten wurde in einem weiteren Schreiben um eine Terminvereinbarung gebeten, um die Reduktions- bzw. Absetzerfahrungen zu besprechen und gegebenenfalls das Absetzen mit ärztlicher Begleitung durchzuführen. In einer Langzeitstudie wurde die Wirksamkeit der Maßnahme bei Empfängern/-innen des Briefs und einer Kontrollgruppe ohne Intervention überprüft. Bei den Empfängern/-innen des Briefs wurde nach 21 Monaten eine Reduktion der Benzodiazepinverordnungen um 26% festgestellt (Kontrollgruppe ohne Intervention 9%). Nach sechs Monaten hatten 24% der Experimentalgruppe und 12% der Kontrollgrup-pe die Benzodiazepine abgesetzt. Nach Abschluss des kompletten Untersuchungszeit-raums waren 13% der Experimentalgruppe und 5% der Kontrollgruppe frei von

Benzodia-zepinverordnungen. Es wird gefolgert, dass diese Interventionsform die Langzeitverordnung von Benzodiazepinen in der allgemeinärztlichen Praxis reduzieren kann und dass dieser Ansatz als erster, niederschwelliger Schritt im Rahmen eines „Stepped-Care-Konzepts“ zur Reduzierung des Langzeitgebrauchs von Benzodiazepinen geeignet ist (Gorgels, Oude Voshaar, Mol, van de Lisdonk, van Balkom, van den Hoogen, Mulder, Breteler & Zitman 2005). Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind Bestandteil eines umfassenden Pro-jekts zur Reduzierung der Langzeitverordnung von Benzodiazepinen in den Niederlanden.

Das unabhängige DGV Nederlands Instituut voor verantwoord Medicijngebruik (www.medicijngebruik.nl) richtet sich mit seinen unterschiedlichen Angeboten zur Verbesse-rung der Pharmakotherapie an Ärzte-/innen, Apotheker/-innen und Patientenorganisationen.

Neben der Durchführung von Forschungsprojekten bietet das Institut u. a. auch die Entwick-lung von entsprechenden Materialien, Trainings und SchuEntwick-lungen. Die Minimale Intervention zur Reduzierung des Benzodiazepingebrauchs ist hier Teil eines umfangreichen Paketes mit Informationenmaterialien für Arzte/-innen und Patienten/-innen sowie Praxishilfen zur Dokumentation von Benzodiazepinverordnungen und einer EDV-tauglichen Vorlage für den

„Stoppbrief“. Darüber hinaus umfasst das Projekt einen Helpdesk für allgemeinärztliche Praxen und Apotheken, die die Werkmaterialien aus dem Projekt nutzen sowie zusätzliche Unterstützung und Trainings für hausärztliche Praxen zur Anwendung.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für niedergelassene Ärzte/-innen wei-terhin ein Bedarf an handlungsleitenden Konzepten sowohl zur Verordnung von Medika-menten mit Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial als auch zum Umgang mit Miss-brauchs- und Abhängigkeitsproblemen bei Patienten/-innen besteht. Vorhandene Ansätze bedürfen der Weiterentwicklung und Implementierung in der Praxis. Dabei ist zu berück-sichtigen, dass sowohl die Entwicklung als auch die Implementierung von Leitfäden und Leitlinien den Anforderungen der alltäglichen Praxis gerecht werden müssen. Die Evaluati-onsstudie zum Einsatz des Beratungsleitfadens für die ärztliche Praxis zu Patienten/-innen mit Alkoholproblemen (Kuhnt 2004) sowie Studien zur Implementierung von Leitlinien in der ärztlichen Praxis (vgl. Gerlach, Beyer, Szecsenyi & Fischer 1998; Selbmann & Kopp 2005) verdeutlichen, dass zugesandte schriftliche Informationen nicht ausreichen, um eine Um-setzung durch die angesprochenen Ärzte/-innen zu bewirken (vgl. auch Kapitel 5.4.3). Be-gleitende interaktive Schulungsangebote sowie verschiedene Arbeitshilfen (z. B. Kittelta-schenversion der Leitlinie, indikations- und verordnungsbezogene Module für die Praxis-EDV, Monitoring der individuellen Verordnungspraxis, Telefonberatungshilfen für Praxismit-arbeiter/-innen, Wartezimmerinformationen, Patientenbriefe sowie Checklisten oder Fluss-diagramme für die Praxis) in Kombination mit Öffentlichkeitsmaßnahmen sind für eine effek-tive Umsetzung von Leitlinien notwenige Voraussetzungen (Gerlach et al. 1998; Selbmann

& Kopp 2005). Eine Linksammlung mit Projekten zur Entwicklung, Verbreitung, Implemen-tierung und Evaluation von Leitlinien bietet das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) unter www.leitlinien.de.