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Belastungsfaktoren und Medikamentengebrauch

2.4 Belastungen, Erkrankungen und Medikamentengebrauch

2.4.1 Belastungsfaktoren und Medikamentengebrauch

Ein Zusammenhang von beruflichen und familiären Belastungen und einem hohen Medi-kamentengebrauch wurde bereits zum Ende der achtziger Jahre im Rahmen einer Studie des Instituts für Medizin-Soziologie der Universität Hamburg belegt (Ellinger, Karmaus &

Stauss 1987). Als sich gegenseitig bedingende und kumulierende Faktoren für hohen Medi-kamentengebrauch bei berufstätigen Frauen werden genannt:

• Restriktive Arbeitsbedingungen mit geringem Handlungsspielraum und hoher kör-perlicher sowie emotionaler Belastung, z. B. Produktion mit hohem Anspruch an feinmotorische Fähigkeiten, untergeordnete Verwaltungstätigkeiten (Schreibdienst) oder Pflege.

• geringe soziale Unterstützung bzw. hohe soziale Belastungen im Beruf und familiä-rem Bereich.

• Gefühls- und Beziehungsarbeit, die sowohl im privaten Bereich als auch in vielen frauentypischen Berufen erwartet wird und wenige Möglichkeiten zur Distanzierung lässt (Pflege, Kundenkontakte, helfende Berufe etc.).

• Arbeitsorganisatorische Mängel (Personalmangel, Zeitdruck, Schichtarbeit, hierar-chische Führungsstrukturen, geringe Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten).

Unter den beschriebenen Faktoren konnten keine Einzelursachen für hohen Medika-mentengebrauch isoliert werden. Vielmehr erwies sich das gemeinsame Auftreten mehrerer Faktoren als ausschlaggebend. Bei Männern einer Vergleichsgruppe zeigten sich dagegen vor allem Zeitdruck und mangelnde soziale Unterstützung als verstärkende Einflüsse auf den Gebrauch von Beruhigungsmitteln. Aus dieser wie auch aus zahlreichen anderen Stu-dien zum Zusammenhang von Erwerbs- und Familientätigkeit mit verschiedenen Gesund-heitsvariablen (z. B. Jahn et al. 1998) kann geschlossen werden, dass die verbreitete An-nahme einer „Doppelbelastung“ als pauschale Ursache für Beschwerden und erhöhten Me-dikamentenkonsum bei Frauen zu kurz greift. Vielmehr sind qualitative Aspekte der jeweili-gen ausgeübten Berufe und des privaten Umfeldes sowie das Zusammenwirken der ver-schiedenen Faktoren entscheidend.

Der Aspekt des Einflusses von berufsgruppenspezifischen Belastungen auf die psychische Gesundheit wurde im Rahmen aktueller Auswertungen von Arbeitsunfähigkeitstagen ver-schiedener Krankenkassen verdeutlicht. Überdurchschnittliche Arbeitsunfähigkeitszahlen aufgrund psychischer Erkrankungen wurden von der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) insbesondere für die Branchen ‚Gesundheitswesen’, ‚Öffentliche Verwaltung’, ‚Orga-nisationen/Verbände’, ‚Medien’, ‚Bildung/Kultur’ und ‚Banken/Versicherungen’ aufgezeigt.

Mehrfachbelastungen durch physische und psychische Risikofaktoren in der Pflege sowie hohe Anforderungen an soziale Interaktion, Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen in den beiden anderen Branchen werden als Erklärungsansätze herangezogen (DAK 2005). Der BKK Bundesverband berichtet überdurchschnittliche Häufigkeiten von Arbeitsunfähigkeit, stationärer Behandlung und Medikamentenverordnungen bei Beschäftig-ten in sozialen und Krankenpflegeberufen, in der Telekommunikation, in Erziehung und Unterricht sowie bei den niedrig qualifizierten Tätigkeitsgruppen. Besonders hervorgehoben wird darüber hinaus das Risiko psychischer Störungen bei Arbeitslosen (BKK Bundesver-band 2005). Insgesamt sind in beiden Erhebungen Frauen deutlich stärker von psychischen Störungen betroffen als Männer, mit Ausnahme der alkoholbezogenen Störungen. Dies spiegelt sich auch der Häufung entsprechender Krankmeldungen in frauentypischen Be-schäftigungsbereichen wieder.

Die Ergebnisse der eingangs genannten Hamburger Studie werden darüber hinaus durch zwei quantitative Studien der Universität Dortmund gestützt (Franke, Elsesser, Sitzler, Al-germissen & Kötter 1998; Franke, Mohn, Sitzler, Welbrink & Witte 2001). In den aufeinan-der aufbauenden Fragebogenstudien wurden Frauen mit unauffälligem und auffälligen (hohem, sehr hohem oder abhängigem) Gebrauch von Alkohol und Medikamenten

vergli-chen. Neben auffälligen soziodemografischen Unterschieden (vgl. Kapitel 4.2) zeigte sich, dass Frauen mit sehr hohem und abhängigem Medikamentenkonsum häufiger Berufe mit geringerer Handlungsautonomie ausübten oder nicht erwerbstätig waren als Frauen der anderen untersuchten Gruppen. Sie gaben darüber hinaus mehr Belastungen in Beruf und Privatleben sowie mehr psychische Beschwerden an. Negative Gefühle wurden intensiver erlebt und häufiger versucht zu verstecken und zu kontrollieren. Der Medikamenten-gebrauch zielte vor allem auf den Erhalt der Funktionsfähigkeit angesichts von Beschwer-den und ging einher mit erhöhten Erwartungen an die Medikamentenwirkung. Mit ihrer kör-perlichen und psychischen Gesundheit waren auffällige Medikamentennutzerinnen weniger zufrieden und litten insgesamt auch unter einer größeren Anzahl von Erkrankungen. Vor allem aufgrund von Schlafstörungen, Depressionen und Angstzuständen nahmen mehr Befragte mit sehr hohem oder abhängigem Medikamentenkonsum in den letzten zwölf Mo-naten psychotherapeutische oder beratende Hilfe in Anspruch als Frauen der anderen Kon-sumgruppen. Die subjektiven Kontrollüberzeugungen sowie Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit (gemäß dem Konzept des Kohärenzgefühls nach Antonovsky 1997) waren bei den Medikamentenabhängigen am niedrigsten. Die Untersuchungen verdeutlich-ten, dass sich Frauen mit problematischem Medikamentenkonsum nicht nur von Frauen mit unauffälligem Substanzkonsum, sondern auch von Frauen mit sehr hohem, risikoreichem Alkoholkonsum deutlich unterschieden, was als deutlicher Hinweis auf die Notwendigkeit differenzieller Präventions- und Behandlungsangebote gewertet wird.

Zur Entwicklung von Belastungen im Altersverlauf im Zusammenhang mit Medikamenten-missbrauch bzw. -abhängigkeit liegen keine systematischen Studien vor. Anhand von Inter-viewprotokollen mit betroffenen Frauen (Ellinger, Karmaus & Stauss 1987) wird allerdings nachvollziehbar, dass Medikamente auch eingesetzt werden, um bei gleich bleibend hohem Belastungsniveau einerseits und altersbedingt schwindenden Kräften sowie neu auftreten-den Beschwerauftreten-den und Erkrankungen andererseits die Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhal-ten. Dementsprechend würden über lange Jahre sich schleichend entwickelnde Medika-mentenprobleme sozusagen ‚mit in die Rente genommen’. Anpassungsprobleme beim Übergang ins Rentenalter, Veränderungen des sozialen Umfeldes durch Wegzug oder Tod naher Angehöriger und altersbedingt häufigere Schlafstörungen kommen als weitere Fakto-ren in Frage. Angesichts der derzeit steigenden Aufmerksamkeit für die Häufigkeit psychi-scher Störungen sowie Suchterkrankungen im Alter ist zu hoffen, dass diese Themen auch in der Forschung verstärkt aufgegriffen werden.

Schließlich muss auch körperliche, seelische und sexuelle Gewalt in diesem Zusammen-hang als möglicher, ursächlicher Faktor für psychische und psychosomatische Symptome und Erkrankungen einbezogen werden. Auf Zusammenhänge von erlittener Gewalt und dem Konsum von Suchtmitteln einschließlich psychoaktiver Medikamente als Bewälti-gungsversuch wird in zahlreichen Studien verwiesen (z. B. Vogt 1994; Franke 1998; Zenker 2002; BMFSFJ 2001). Diese Zusammenhänge konnten auch im Rahmen einer repräsenta-tiven Untersuchung zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Müller & Schöttle 2004) wie-der belegt werden. In wie-der Studie wurden insgesamt 10 000 Frauen im Alter zwischen

16 und 85 Jahren zu ihren Gewalterfahrungen interviewt. Rund 40% der befragten Frauen hatten körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. 42% gaben Formen von psychischer Gewalt in den Interviews an. Erfasst wurde in diesem Zusammenhang auch, ob die Befrag-ten Alkohol, Drogen oder Medikamente zu sich genommen haben, um mit dem ErlebBefrag-ten besser fertig zu werden. Am häufigsten wurden Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie Alko-hol von den Befragten genannt. Schlaf- und Beruhigungsmittel gebrauchten infolge von psychischer Gewalt 9,1%, nach sexueller Belästigung 3,1%, nach körperlicher Gewalt 5,2%

und nach sexueller Gewalt 9,4% der befragten Frauen.

2.4.2 Häufigkeit und Versorgung assoziierter Beschwerden und Erkrankungen