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4.6 Die Entwicklung der Region Bitterfeld-Wolfen seit der

4.6.4 Soziale Aspekte

“Die ehemalige DDR war die perfekte ‘Arbeitsgesellschaft’: etwa 90% der Männer und Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren waren erwerbstätig” (Häußermann 1992b, S. 253). Die Arbeitsproduktivität war somit relativ niedrig.

Zwischen 1955 und 1988 entwickelte sich die Industrie in Sachsen-Anhalt zum dominierenden Wirtschaftsbereich, jedoch mit einer Abnahme der Industrie beschäftigung ab 1980. In diesem Zeitraum erhöhte sich der Beschäftigungsgrad trotz abnehmender Bevölkerungszahlen hauptsächlich durch die Einbeziehung von Frauen in die Erwerbstätigkeit. Der Tertiärsektor war unterentwickelt, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, daß die Kombinate eine gewisse ‘Autarkie’ anstrebten und ihre eigenen Dienstleistungsbereiche vorhielten. In den meisten Kombinaten wurde der gesamte Reproduktionszyklus zusammengeführt, von der Forschung über die Konstruktion und Entwicklung, die eigentlichen Produktionsbetriebe, die wichtigsten Zulieferer, den Produktionsmittelbau und das Reparaturwesen bis hin zum Marketing und Service (vgl. Oelke (Hg.) 1997, S. 179ff; vgl. Kapitel 6.3.1).

36 Die hydrologische Situation im Landkreis Bitterfeld ist durch den Braunkohlenbergbau geprägt, der seit 150 Jahren den Grundwasserhaushalt beeinflußt. Der Aufschluß zahlreicher Tagebaue seit Mitte des vorigen Jahr hunderts wurde von umfangreichen Maßnahmen der Wasserhebung zur Entwässerung der Tagebaue begleitet.

Im Landkreis Bitterfeld ist seit der Wiedervereinigung in den Bereichen Energie-wirtschaft, Wasserversorgung, Bergbau und Verarbeitendem Gewerbe ein starker Rückgang der Erwerbstätigen zu verzeichnen.

Zu Beginn des Umstrukturierungsprozesses in den Jahren 1990/91 konnten Entlassungen in die Arbeitslosigkeit weitgehend vermieden werden. Bis heute gab es keine spektakulären Massenentlassungen, sondern einen relativ kontinuierlichen Personalabbau, der trotz verschiedener arbeitspolitischer Maßnahmen inzwischen gravierende Ausmaße erreicht hat. So lag die Arbeitslosenquote in Bitterfeld im Januar 1998 bei 28,5%. Auffallend ist dabei eine hohe Frauenarbeitslosenquote.

Diese läßt sich durch den hohen Anteil von Frauenarbeitsplätzen in der ehemaligen Filmfabrik Wolfen begründen, die durch die Stillegung großer Betriebsteile wegfie-len [22] (vgl. Gilles; Hertle o.J., S. 23).

Durch Ausnutzung sämtlicher Möglichkeiten des Arbeitsförderungsgesetzes wie Altersübergangsregelung, Kurzarbeit, Vorruhestand und Rente, Arbeitsbe-schaffungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen sowie Übernahmen bei Ausgrün-dungen und Neuansiedlungen konnte ein Teil der ausscheidenden Arbeiter und Angestellten aufgefangen werden. Zudem wurden Abfindungen zur sozialen Abfede-rung des Strukturwandels eingesetzt.

Von großer Bedeutung für den regionalen Arbeitsmarkt sind in diesem Zusammenhang die Sanierungsgesellschaften37, die mit Mitteln der Treuhandanstalt aufgebaut wurden. Während dieser Umstrukturierungsphase sollte durch den Einsatz von Beschäftigungs- und Qualifzie rungsmaßnahmen im Umweltbereich, die neben einem Abbau der Arbeitslosigkeit auch die ökologische Sanierung der Region und eine Verbesserung der Infrastruktur anstreben, der Strukturwandel in der Region möglichst sozialverträglich gestaltet werden. Daneben wurde gehofft, daß durch die ökologische Sanierung Investitionshemmnisse abgebaut, starke Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung der Region ausgehen würden und im Bereich des Umweltschutzes dauerhafte zukunftsträchtige Arbeitsplätze entstehen könnten, beispielsweise durch die Produktion von Umweltschutzgütern im verarbeitenden Gewerbe (vgl. Blazecjak 1993, S. 42; Köhler, Sandmann o.J., S. 40; Rauls 1992, S. 18).

Die ABM-Projekte (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) und vor allem die sogenannten

‘Mega-ABM’38 wurden hauptsächlich in den Branchen Chemie, Bergbau und Landwirtschaft eingesetzt.

In der Region Bitterfeld sind in diesem Zusammenhang drei Beschäftigungs- und Sanierungsgesellschaften anzuführen, die zum großen Teil mit der Beräumung der Industrieareale betraut waren: die ‘Bitterfelder Qualifizierungs- und Projektierungs-Gesellschaft mbH’ (BQP), die 1991 gegründet wurde und deren Aufgabe es war, die

37 Allgemein auch als ABS-Gesellschaften bezeichnet (Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung).

38 Als ‘Mega-ABM’ werden Großprojekte bezeichnet, in denen mehr als 150 Personen beschäftigt werden, die mehr als 3 Mio. DM an Gesamtkosten verursachen und auf ökologische Sanierung (hauptsächlich Industrieflächenrecycling) gerichtet sind (vgl. Köhler; Sandmann o.J., S. 40).

hohe Arbeitslosenzahl durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) mit i.d.R.

zweijähriger Laufzeit und durch Qualifizierung sozial zu begleiten und abzufedern.

Nach Auslaufen der zweijährigen ABM-Maßnahmen machte das Fehlen eines stabilen 1. Arbeitsmarktes Anschlußmaßnahmen notwendig. Aus diesem Grund schlossen die Treuhandanstalt und die Industriegewerkschaften ‘Chemie-Papier-Keramik’ und ‘Bergbau und Energie’39 1993 eine Rahmenvereinbarung. Zur Fortsetzung der Sanierungsarbeiten wurden im Jahr 1993 die ‘Ökologische Sanie-rungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH’ (ÖSEG)40 als Tochterunternehmen der BQP mbH und die ‘Gesellschaft für Sanierungsmaßnahmen Wolfen und Thalheim mbH’ (GÖS)41 gegründet. Diese Unternehmen arbeiten auf der Basis des § 249h Arbeitsförderungsgesetz (AFG), dessen Maßnahmen i.d.R. auf 3 Jahre begrenzt sind (vgl. ÖSEG mbH (Hg.) 1995). Seit 1994 haben sich alle Sanierungsgesellschaften in Konkurrenz zu privatwirtschaftlichen Firmen europaweit um ausgeschriebene Projekte zu bewerben, während bis zu diesem Zeitpunkt die Sanierungsprojekte von der BVV GmbH direkt an die BQP und die ÖSEG vergeben werden konnten [30; 31].

Diese Sanierungsgesellschaften waren zeitweise der größte Arbeitgeber der Region.

Die Abbildungen 4 und 5 zeigen sowohl eine Zunahme der Unterbeschäftigung zwischen 1991 und 1996 als auch eine Umverteilung innerhalb der verschiedenen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Zu beachten ist, daß die tatsächliche Unter-beschäftigung sehr viel höher ist als die registrierte Arbeitslosigkeit, wenn

39 Im Oktober 1997 wurde die Industriegewerkschaft IG Chemie-Papier-Keramik mit zwei weiteren Einzelgewerkschaften zur ‘IG Bergbau-Chemie- Energie’ zusammengefaßt (vgl. MZ vom 29.10.1997).

40 Die ÖSEG ist vor allem auf dem Gelände der Bitterfelder Vermögensverwaltung Chemie GmbH (BVV) tätig, d.h. auf der Fläche des ehemaligen Chemiekombinats Bitterfeld.

41 Die GÖS arbeitet schwerpunktmäßig auf dem Gebiet der Wolfener Vermögensverwaltung AG i.L. (WVV), d.h. auf dem Gelände der ehemaligen Filmfabrik. Seit 1997 ist sie eine 100%ige Tochter der BQP mbH.

Unterbeschäftigung im Arbeitsamtsbezirk Halle, Jahresdurchschnitt 1991

Fortbild. u. Umsch.

2.146 Altersübergang

4.396 Arbeitslose

26.304

ABM 4.362 Kurzarbeiter

56.468

ABBILDUNG 4:

Quelle: Eigene Darstellung; Datengrundlage: Arbeitsamt Halle (Hg.) 1992

Kurzarbeiter, ‘Vorruheständler’ (d.h. vorzeitig Pensionierte), nicht-registrierte Arbeitslose (z.B. Ehefrauen) und Beschäftigte in ‘Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen’

(ABM) einbezogen werden.

Wurde 1991 noch der Großteil der Arbeitnehmer durch die Kurzarbeiterregelung42 für die neuen Länder ‘aufgefangen’, so hat dieser Anteil durch die voranschreitende Umstrukturierung der Wirtschaft und die Privatisierung der Betriebe bis 1996 stark nachgelassen. Demgegenüber stieg die Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen zwischen 1991 und 1996 an. Im Jahr 1996 waren fast 5.000 Personen nach §249h AFG43 beschäftigt. Weiterhin ist der Anteil der Personen, die sich in Fortbildung und Umschulung befinden, seit 1991 stark angestiegen. Dies läßt sich damit erklären, daß mit der fortschreitenden Anpassung der Produktionsstrukturen an die Bedingungen in den alten Bundesländern veränderte Anforderungen an die Bildung der Arbeitnehmer offensichtlich wurden.

In der Region Bitterfeld -Wolfen wird die Arbeitslosigkeit seit 1996 und verstärkt seit 1997 nicht mehr in ausreichendem Maße durch arbeitspolitische Maßnahmen aufgefangen, so daß die Arbeitslo senquote im Januar 1998 über 28% stieg. Die Ursache dieser Diskrepanz läßt sich damit begründen, daß nach der Wiedervereinigung die Zeiträume zur wirtschaftlichen Restrukturierung kleiner ange-setzt wurden, als sie tatsächlich sind. Aus diesem Grund wurden die Industrieförderungs- und Arbeitsmarktprogramme für 2-5 Jahre angelegt in der Erwartung, daß nach diesem Zeitraum Programme solcher Dimensionen nicht mehr benötigt würden. Diese Fehleinschätzung führte zu der hohen Arbeitslosenquote und dem widersprüchlichen Bild, das der Standort Bitterfeld bietet: einerseits wurden erfolgreiche Privatisierungen und Ansiedlungen erreicht, andererseits ist die

42 Als Kurzarbeiter gelten beschäftigte Arbeitnehmer, bei denen wegen eines vorübergehenden Arbeitsausfalls mehr als 10% der betriebsüblichen Arbeitszeit ausfallen und die Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben (§§ 63ff. AFG).

43 Diese Maßnahmen sind erst seit 1993 möglich.

Unterbeschäftigung im Arbeitsamtsbezirk Halle, Jahresdurchschnitt 1996

Altersübergang 4.900

Arbeitslose 35.257 Fortbildung und

Umschulung 8.024 ABM §249h AFG

4.939

ABM 5.069

Kurzarbeiter 2.936

ABBILDUNG 5:

Quelle: Eigene Darstellung; Datengrundlage: Arbeitsamt Halle (Hg.) 1997

Arbeitsmarktsituation als extrem kritisch einzustufen. Durch das Arbeitsförderungs-reformgesetz, das am 1. April 1997 verabschiedet wurde, ergab sich eine Verschärfung der Arbeitsmarktsituation [30]. Die Auffassung über die Notwendigkeit der Fortführung von Arbeitbeschaffungsmaßnahmen auf hohem Niveau ist jedoch geteilt. So wird einerseits, z.B. von der IG Bergbau-Chemie-Energie, die Ansicht vertreten, daß der zweite Arbeitsmarkt sehr wohl als Brücke zum ersten funktioniere und darüberhinaus eine wichtige soziale Funktion der Integration hat (vgl. MZ vom 10.12.1997). Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) kam dagegen zu der Überzeugung, daß für die Finanzierung von ABM mindestens das 1,5fache an finanziellen Mitteln benötigt wird als durch Arbeitslosigkeit verursacht wird.

Darüberhinaus gebe es bislang “kaum Hinweise auf deutliche gestiegene Wiederbeschäftigungschancen” (LVZ vom 03.12.1997). Auch bestehe die Gefahr, daß durch ABM reguläre Jobs vernichtet würden.