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4.5 Geschichte der Industrialisierung

4.5.2 Entwicklung in der DDR

Nach dem 2. Weltkrieg wurde das zwischenzeitlich von der amerikanischen Armee besetzte Gebiet von russischen Streitkräften übernommen, die wichtige Werksbestandteile demontierten und die IG-Farben liquidierten. Zuvor waren von amerikanischen und englischen Kommissio nen bereits zahlreiche Patent- und Produktionsunterlagen, Forschungsberichte und Geräte abtransportiert worden und wurden in der Fachpresse der USA und Großbritanniens veröffentlicht. Dadurch ging u.a. der Vorsprung der Filmfabrik auf dem Color- und Schwarz-Weiß-Film-Gebiet verloren (vgl. MUN (Hg.) 1994, S. 19).

Die Braunkohlen-Energie- und Chemiebetriebe gingen in sowjetisches Eigentum über und produzierten als Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) bis 1952 vorrangig für die Sowjetunion. Durch diese wirtschaftspolitischen Veränderungen war die Produktion in den Nachkriegsjahren gering. In die chemische Industrie flossen nur verhältnismäßig geringe Investitionen, so daß dieser traditionelle Industriezweig den Anschluß an internationale Standards zunehmend verlor (vgl.

Zeuchner 1992, S. 79).

1952/53 wurden die Betriebe der Großindustrie Bitterfelds und Wolfens der DDR übergeben und unter den Namen VEB (Volkseigener Betrieb) Elektrochemisches Kombinat und VEB Farbenfabrik Wolfen weitergeführt. 1954 wurde die Filmfabrik zum Staatsbetrieb der DDR und als ‘VEB Film - und Chemiefaserwerk Agfa Wolfen’

in die Wirtschaft integriert (vgl. Anhang 4). 1963 kündigte die Filmfabrik unter Druck der DDR-Regierung einseitig das Warenzeichen-Abkommen mit dem AGFA-Werk in Leverkusen und führte 1964 das Warenzeichen ORWO (ORiginal WOlfen) international ein (vgl. IFM (Hg.) 1994, S. 23).

Auf einer ‘Chemiekonferenz’ innerhalb des V. Parteitags der SED wurde 1958 das

‘Chemieprogramm’ für die DDR beschlossen, das eine Verdoppelung der chemischen Produktion bis 1965 und gleichzeitig eine Vernetzung der DDR-Chemie mit der Wirtschaft der Ostblockstaaten vorsah. Die ser Beschluß war die entscheidende Wende für die Chemieindustrie. “Unter der Losung ‘Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit’ begründete man darin die Notwendigkeit der vorrangigen Entwicklung der chemischen Industrie” (Chemie AG Bitterfeld-Wolfen (Hg.) 1993, S. 207). Im Rahmen dieses Programmes kam dem Ausbau der traditionellen

Karbochemie und dem Aufbau der Petrochemie im Raum Halle-Leuna-Bitterfeld be-sondere Bedeutung zu. Die durch das ‘Chemieprogramm’ forcierte Steigerung der Produktion führte dazu, daß zu DDR-Zeiten in der mitteldeutschen Industrieregion Bitterfeld-Halle-Merseburg 50% der Bruttoproduktion der chemischen Industrie erzeugt wurde, was etwa 10% der gesamten Produktion in der DDR entsprach. “Die Devise war: produzieren, was das Zeug her hält, wirtschaftlich sein um jeden Preis, auch um den des Lebens. Es gab kaum moderne Entsorgungstechnologien, so daß Wasser, Erde und Luft mit giftigen Substanzen angereichert wurden” (MUN (Hg.) 1994, S. 7).

Aus dem Zusammenschluß des VEB Elektrochemisches Kombinat, des VEB Farbenfabrik Wolfen sowie 6 weiteren Kombinatsbetrieben entstand 1969 das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), in dem 1989 ca. 18.000 Menschen beschäftigt waren. 1970 wurde die Filmfabrik Wolfen der Stammbetrieb des neugebildeten ‘VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen’; dort arbeiteten im Jahr 1989 ca. 15.500 Personen (vgl. IFM (Hg.) 1994, S. 25; Anhang 4).

Im Chemiekombinat Bitterfeld wurden rund 4.500 Produkte hergestellt. Aus diesem Grund wurde Bitterfeld als ‘Apotheke der Chemie’ bezeichnet. Wolfen galt als bedeutende Film- und Chemiefaserproduktionsstätte. Die Vielzahl der produzierten Chemikalien und die dadurch anfallenden Abprodukte beeinträchtigten die Lebensqualität in der Region massiv (vgl. EWG (Hg.) o.J.).

Bei schweren Umweltvergehen, wie sie in Bitterfeld vorlagen, gab es auch in der ehemaligen DDR Ordnungsstrafen. So überwiesen beispielsweise beide Kombinate jährlich mehr als 20 Mio. Mark als pauschalen Schadensersatz. Statt diese Gelder in den Umweltschutz zu investie ren, wurden sie jedoch auf ein anonymes Konto bei der Staatsbank transferiert. Ab 1982 wurden alle Umweltdaten zur “vertraulichen Verschlußsache” (Ernst, Ernst 1991, S. 28) erklärt und von dem Sekretär des Zentralkomittees für Wirtschaftsfragen, Günter Mit tag, oder von Erich Honecker selbst wurden Emissionsdaten in Veröffentlichungen festgelegt, die im Sinne der Partei- und Staatsführung waren (vgl. Ernst, Ernst 1991, S. 30).

Mit dem Aufschluß des Tagebaus Goitsche südöstlich von Bitterfeld wurde bereits im Jahr 1948 begonnen. Damit hatte sich der Tagebau einmal gegen den Uhrzeigersinn um Bitterfeld herumbewegt. Mehrere Ortschaften südöstlich von Bitterfeld wurden in den Jahren 1975 bis 1984 überbaggert. Im Zuge der Erschließung neuer Tagebaufelder wurden Eisenbahnlinien und Bundesstraßen verlegt. Weiterhin mußten die Flußläufe der Mulde (9,2 km), Leine, Lober und der Lober-Leine-Kanal um-geleitet werden (vgl. LMBV (Hg.) o.J.).

1980 entstand das VEB Braunkohle-Kombinat Bitterfeld (BKK) und der Betrieb Industrie- und Kraftwerks-Rohrleitungen. Im VEB Kombinat Industrie-Kraftwerk-Rohrleitungsbau waren ca. 5.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Heute ist das ehemalige Kombinat der einzig erhaltene Großbetrieb und mit ca. 1.500 Beschäftigten das größte Unternehmen der Region (vgl. Unglaube 1996, S. 20).

Die beiden chemischen Kombinate CKB Bitterfeld und die Filmfabrik Wolfen produzierten im wesentlichen an den Standorten aus der Vorkriegszeit. Die bis in die

70er Jahre landwirtschaftlich genutzte Fläche westlich von Greppin wurde danach durch neue Industriebauten besetzt. Damit entstand eine geschlossene industrielle Zone zwischen Bitterfeld und Wolfen.

Durch die starke Zunahme von Arbeitskräften in den Kombinaten wurde es notwendig, vermehrt Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Die Siedlungsaktivität wurde jedoch nicht in Bitterfeld selbst, sondern in den umliegenden Gemeinden konzentriert. Die Altstadt von Bitterfeld zerfiel und wurde nur zum Teil wieder aufgebaut. Neben Plattenbausiedlungen in Sandersdorf und Bitterfeld entstand die Großsiedlung Wolfen-Nord ab 1960 als größter Wohnstandort der Region, in der heute fast 30.000 Einwohner von Wolfen leben. Dies führte dazu, daß sich in der alten Kreisstadt Bitterfeld mit ca. 20.000 Einwohnern (1989) traditionell Verwaltung, Dienstleistung und Handel und ein gewachsener Stadtkern erhalten konnten, während Wolfen ohne nennenswerte Infrastruktur zur größten Stadt im Kreis mit mehr als 45.000 Einwohnern (1989) wurde. Heute kann Wolfen als ein ehemaliges Dorf mit einer angehängten Großwohnsiedlung angesehen werden, dessen ehemaliger Dorfan-ger das sogenannte Stadtzentrum ist. Die Städte Bitterfeld und Wolfen sowie die Gemeinde Greppin sind zu einem Siedlungsband aus Wohnsiedlungen und Industriegebieten zusammengewachsen, das sich in Nord-Süd-Richtung über 12 Kilometer und in West-Ost-Richtung über 4 km erstreckt. Im Westen des Siedlungsbandes befinden sich die großen Industrieareale des ehemaligen Chemie-kombinates und der Filmfabrik, nur durch die Bahnlinie von den östlich gelegenen Siedlungen getrennt. Östlich der Wohnbebauung finden sich die naturnahe Kulturlandschaft der Muldeaue und der Naturpark Dübener Heide. Der Raum läßt somit eine Dreigliederung erkennen (vgl. IFM (Hg.) 1994, S. 31ff; EWG (Hg.) 1996, S.4).

Die wirtschaftliche Situation war in den letzten Jahren des Bestehens der DDR zunehmend von Liquiditätsengpässen gekennzeichnet: Wachstumsvorgaben konnten nicht mehr eingehalten werden, für die Auslandsverschuldung, die erhöhten Rohstoffpreise, die Rüstungsförderung und Subventionsla sten mußte jedoch aufgekommen werden. Gegen Ende 1988 häuften sich die Anzeichen einer Wirt-schaftskrise: Planvorgaben wurden nicht mehr erreicht, Versorgungsrückstände und Lieferengpässe nahmen gravierend zu. Durch die Reformpolitik der Sowjetunion

“geriet die DDR-Führung in immer größere Legitimationszwänge. Die große Fluchtwelle im zweiten Halbjahr 1989 und die immer bedrohlicheren Binnenspannungen führten schließlich zur Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland” (Zeuchner 1992, S. 81).

4.6 Die Entwicklung der Region Bitterfeld-Wolfen seit der