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GESCHICHTE CRASHT FAMILIE

Für «Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao» erhielt Junot Díaz 2008 den Pulitzerpreis. Völlig zu Recht, denn dieses Werk des 1968 in Santo Domingo (Dominikanische Republik) geborenen und in den USA aufgewachsenen MIT-Professors hat es in sich: Mit einer schein-bar beiläufigen Leichtigkeit erzählt es die Geschichte des Aussenseiter-Nerds Oscar, der panische Angst hat, als erster Dominikaner als Jung-frau zu sterben, und seiner Familie. Deren Historie ist auch eine der Dominikanischen Republik des 20. Jahrhunderts. Der «verhinderte Viehdieb», der Karibikhitler Trujillo – mit dem sich der peruanische Literaturpreisträger Mario Vargas Llosa in seinem Buch «Das Fest des Ziegenbocks» ausführlich beschäftigt – crasht ebenso das Schicksal der Familie wie dessen Nachfolger Joaquín Balaguer, unter dem für die DR bleierne Jahre folgten. Díaz liest am 3. Juli im Kaufleuten Zürich. (is)

IM BÜRGERLICHEN MILIEU

Wir passieren die Autobahnmautstellen auf dem sommerlichen Weg ans Meer. An einer solchen schrieb Philippe Djian seinen ersten Ro-man, in der Kabine sitzend, die Schreibmaschine auf den Knien, das Geld der Autofahrer abzählend. Er war der wilde Autor mit wilden Ge-schichten. «Betty Blue» hiess sein Kultbuch. Später wurde er gelassener.

«Pas de deux» markierte eine neue Lebens- und Schreibphase. Djians Protagonisten beginnen, das etwas eintönigere Leben zu schätzen. Sie machen es sich gemütlich, richten sich in einem bürgerlichen Leben ein. Wohlwissend, dass in der Ruhe nicht die Kraft liegt, sondern sich meist die Katastrophe aufbaut. Beispielsweise, indem die Ehefrau ei-nen verlässt – endgültig, mit gepacktem Koffer und Scheidungsantrag.

Damit hat Henri-John nicht gerechnet. Den eigenen Affären zum Trotz.

Jetzt weiss er: Edith ist die Frau seines Lebens. Er will nur eines: sie wieder zurückgewinnen. (rb)

LIEBE UND GEWALT

Während wir in die Ferien fahren, tobt in Syrien der Krieg. Wir sehen davon vor allem die Opfer, die bei uns, wenn sie Glück haben, als Ein-dringlinge ankommen. Sie versuchen so, ein kleines Stück Hoffnung und Zukunft zu bewahren. In ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern»

erzählt Olga Grjasnowa von zwei Menschen, die den Krieg in seiner ganzen Grausamkeit erleben und ihm zu entkommen versuchen. Die junge Amal lebt in Damaskus als Tochter eines reichen Vaters, der sie zu protegieren vermag. Trotzdem will sie weg. Derweil bleibt der Arzt Hammoudi, aus Paris zurückgekehrt, um seinen Pass zu verlängern, in Deir az-Zour hängen. Rebellen und später der IS belagern den Ort, Hammoudi leistet Nothilfe und verliert seine Zukunft. «Gott ist nicht schüchtern» ist ein eindrückliches, ungemütliches Buch über den Krieg, und zugleich ist es mehr. Folter und Tod stehen Liebe und Hilfsbereit-schaft entgegen. Grjasnowa beschreibt die Verzweiflung, aber auch den Lebenswillen der Menschen, denen am Ende bloss der gefährliche Weg übers Meer bleibt. (bm)

Junot Díaz: Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao.

Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper.

Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2010.

384 Seiten. Fr. 14.90

Patrick Deville: Viva.

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Bilgerverlag, Zürich 2017.

260 Seiten. Fr. 32.–

TRANSATLANTISCHER SCHMELZTIEGEL

Stellvertretend für alle Werke, die von Patrick Deville im Bilgerverlag erschienen sind und die sich mit grossen Persönlichkeiten und Flucht-punkten der Menscheitsgeschichte auseinandersetzten, sei an dieser Stelle das neueste, «Viva», empfohlen. Wie vieles in Lateinamerika beginnt auch diese Geschichte in einem ohrenbetäubenden Lärm.

Mexiko, Ende der 1930er-Jahre. Im Hafen wird der Rost geklopft, von oben schreien die Seevögel. Das Land war damals ein Schmelztiegel von Künstlern, Revolutionären und Intellektuellen. Graham Greene war da, der Schweizer Blaise Cendrars, Malcolm Lowry trank Mezcal und schrieb an «Unter dem Vulkan». Bald trifft auch Leo Trotzki mit seiner Frau Nataljia Iwanowna ein, begegnet Diego Rivera und Frida Kahlo – und wird von Stalins Schergen mit einem Eispickel erschlagen.

Deville erzählt anekdotenreich und mit Verve, schafft Atmosphäre und erläutert Hintergründe. Am Ende ist man viel klüger, dafür etwas erschlagen. So muss es sein! (is)

Philippe Djian: Pas de deux. Roman.

Diogenes Verlag, Zürich 2015.

448 Seiten. Fr. 18.90

Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern.

Aufbau Verlag, Berlin 2017.

310 Seiten. Fr. 31.90

FLUCHTPUNKTE (2)

Ins Schweizer Exil und dann nach Paris migrierte der Nervenarzt und Schriftsteller Oskar Panizza, laut Tucholsky «der frechste und kühns-te, der geistvollste und revolutionärste Prophet seines Landes». Sein Bühnenstück «Das Liebeskonzil», in dem Christus seinen greisen Vater aufgrund grassierender Zügellosigkeit zu einem Pakt mit dem Teufel überredet, löste 1895 ein Erdbeben aus. Nach einem Jahr Einzelhaft ging der Autor nach Zürich und wäre gerne geblieben, wurde jedoch 1898 ausgewiesen und floh, international gesucht, nach Paris. 1905 wurde er in eine deutsche Irrenanstalt verbracht. «Vreneli’s Gärtli», das Psychogramm eines Flüchtlings, spielt in Zürich und ist tatsächliche Fiktion, den Ort wie den Fliehenden jedoch konzis humorvoll unter-suchend. Das Cover zeigt übrigens die Madonna «Sennetuntschi» des Panizza-Fans Hans Schärer, entstanden 1972 in Luzern. (mcg)

IM FASCHISTISCHEN ITALIEN

Es ist die Zeit, als Sommerferien am Meer noch Monate dauerten. Die Ferien des Ich-Erzählers mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern im fiktiven Ort Torre di Venere gehen langsam zu Ende. Italien ist faschis-tisch. Ein kleines, letztes Spektakel im Mittelmeerstädtchen kündigt sich an: Ein Zauberer namens Cavaliere Cipolla hat sich angesagt. Doch Cipolla ist kein Zauberer, sondern vielmehr ein Manipulator, der Ver-treter des einfachen Volkes demütigt, die gehobenen Schichten jedoch mit taktvolleren Experimenten zu beeindrucken versucht. Brillant, wie Thomas Mann in seiner schmalen Novelle mit politisch-moralistischen Anspielungen das Kommende vorwegnimmt. Im Grossen, aber auch im Individuellen, wenn der Erzähler, der eigentlich abreisen will, sich aber dennoch irgendwie mit einem merkwürdig gemischten Gefühl aus Angst, Spannung, Bewunderung, Neugier und Hass über seine eigenen Skrupel hinwegsetzt. (rb)

SPOTT UND SENTIMENT

Die New Yorkerin Dorothy Parker (1893–1967) war ebenso sehr eine begnadete Spottdrossel wie eine quecksilbrige Autorin von Erzählun-gen, Kritiken, Feuilletons und nicht zuletzt auch von Gedichten. Unter dem Titel «Denn mein Herz ist frisch gebrochen» sind diese in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen. Sie entfaltet darin ihr ganzes rhetorisches Repertoire zwischen Spott, Selbstironie und Sentimen-talität. Ihre Lyrik öffnet den Raum für viele Tonlagen. Dorothy Parker erweist sich dabei nicht als Avantgardistin, sondern zieht die poetische Tradition vor, mit Rhythmus und Reim. Vorab letzterer verleiht ihren Gedichten zuweilen eine äusserst sublime, beschwingte Schnoddrigkeit, die sich wie ein ironischer Vorhang über Liebesleid und Lebensskepsis ausbreitet. In diesem Widerspiel verspricht der Band eine wunderbare Lektüre für schöne Sommertage. Man lese hin und wieder zwischen Sonnenstrahlen ein paar coole Verse, die gerade wegen ihrer Coolness auch anrühren.

Ein Nachsatz: Englisch zu übersetzen ist schwer, Ulrich Blumenbach gelang es sehr. (bm)

FLUCHTPUNKTE (1)

Ihren Bericht «Nichts, um das Haupt zu betten» schrieb Françoise (Frymeta) Frenkel 1943 und 1944 am Ufer des Vierwaldstättersees.

Mehr Regionalbezug gibt’s nicht; es reicht, dass sie sich nach langer Reise – als Erholung und «Pflicht der Überlebenden» zugleich – sogleich an die Aufzeichnung begab. Bedenkenswert dabei auch das, was fehlt:

Der aufregende Rapport lässt alles noch Unbekannte aus (so auch die Schicksale ihrer Familie und Freunde) und bewegt sich mit Ausnahme einer spannenden, kurzen Rückschau auf die 18 Jahre ihrer bekannten Buchhandlung «La Maison du Livre» im brausenden und dann braunen Berlin immer verzweifelt, gefasst und energisch an der Fluchtlinie und der Gegenwart entlang: Wenige Tage vor Kriegsausbruch nach Paris, von dort in den Süden und nach Nizza, versuchte Grenzübertritte in die Schweiz, Inhaftierungen, bis sie schliesslich illegal die Grenze überwindet. Der Bericht endet unverzüglich in befreiendem Weinen;

das Buch erschien 1945 bei Jeheber in Genf und wurde 2010 auf einem Flohmarkt wiederentdeckt. Nobelpreisträger Patrick Modiano schrieb ein Vorwort; ein schmaler Anhang ergänzt Wissenswertes. (mcg)

Oskar Panizza: Vreneli’s Gärtli.

Eine Zürcher Begebenheit. Limmat Verlag, Zürich 2016.

104 Seiten. Fr. 19.80 Thomas Mann: Mario und der Zauberer.

Ein tragisches Reiseerlebnis. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1989. 107 Seiten. Fr. 9.90

Dorothy Parker: Denn mein Herz ist frisch gebrochen.

Aus dem Englischen von Ulrich Blumen-bach. Dörlemann Verlag, Zürich 2017.

400 Seiten. Fr. 43.50 Françoise Frenkel: Nichts, um sein

Haupt zu betten.

Hanser Verlag, München 2016.

288 Seiten. Fr. 30.90

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KULTUR

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WORT

Es sind wohl nicht ganz tausend Leben, die die gebürtige Luzernerin Ursula Jones lebte und noch immer lebt, doch da sind mannigfache Verbindungen, Bruchstellen, Parallelwelten. Soll man damit anfan-gen, dass ihre Mutter, die biblische 107 Jahre alt werden durfte, die Schwester von Hans Erni war und Ursula Jones, mittlerweile auch 85 Jahre alt, vom Glück gesegnet ist, in eine äusserst langlebige Familie geboren zu werden? Soll man beginnen, dass ihr Vater, Walter Strebi, der Anwalt, Stadtrat, Schul- und Polizeidirektor die Musikfestwochen, heute Lucerne Festival, mitbegründete, womit Ursula Jones heute noch eng verbunden ist? Dass sie enterbt wurde – und auch den Verzicht auf den Pflichtteil unterschrieb – , weil sie den Musiker Philip Jones heiratete, einen Trompeter, der zum Auftreten ein Hausiererpatent vorzuweisen hatte, der mit den Beatles spielte und später als Erneuerer der Brass-Musik zu Berühmtheit gelangen sollte? Dass sie in England Orchester managte und jungen, begabten Musikern grosse Karrieren ermöglichte?

Dass sie eng mit Benjamin Britten zusammenarbeitete? Dass sie mit Müllmänner mit gleichem Respekt spricht wie mit Weltstars?

Dass sie Her Majesty, die Queen von England, korrigierte, die ihr 2010 den Orden of the British Empire verlieh? Dass sie mit fast 60 Jahren eine tausendseitige Dissertation über zentralamerikanische, präkolumbische Mahlsteine schrieb?

Eines ist klar: Bereits als Kind war Ursula Jones eine Rebellin, die in keine Schublade passte. Sie schrieb in der Schule, wohl beeinflusst von Onkel Hans, «Liebt Väterchen Stalin» an die Wandtafel, was den liberalen Vater arg in Bedrängnis brachte, schlich sich für ein scheues Rendez-vous im Pelz der Mutter aus dem Haus, wurde einzig aus Angst vor dem Skandal nicht in eine Besserungsanstalt gesteckt.

Stelldichein der grossen Namen

Bereits sind wir mittendrin in Heinz Stalders kenntnis- und andek-dotenreichen Biografie über eine spannende und starke Luzerner Persönlichkeit, die es in der weiten Welt zu etwas gebracht hat, die per Du ist mit den Grossen der klassischen Musik, der Daniel Barenboim im Vorwort dankt, «mich als jungen Künstler gleich in der Doppelfunktion als Dirigent und Pianist zu engagieren». Im Plauderton, unter dem sich eine exakte Spracharbeit, ein gekonntes Feilen an den Worten, dem Rhythmus, versteckt. Gewisse Zitate oder Redewendungen sind in Mundart wiedergegeben, was das Ganze deutlich unmittelbarer macht. Stalder, der über zehn Jahre

in Ursula Jones’ Londoner Stadthaus wohnte und dort noch immer ein oft und gern gesehener Gast ist, schafft in seiner Biografie eine wohlausgewogene Mischung zwischen Nähe und Distanz. Diese ist stets auch ein Stelldichein der grossen Namen, seit der Kindheit gingen im Hause Strebi die Schwergewichte der klassischen Musik ein und aus. Dort ebenfalls köstliche Anekdoten, wie als die junge Ursula dem alten Richard Strauss vorschwärmte, dass sie nichts lieber höre als «An der schönen blauen Donau» und dieser ihr bescheiden musste, das sei ein Stück von Johann Strauss. Oder Wilhelm Furtwängler, «dr Furti», dem man aufgrund seines langen Halses stets ein Keilkissen unterlegen musste.

«Die tausend Leben der Ursula Jones» ist ein heiteres, immer wieder leichtes Buch, dass aber auch die Bruch- und Nahtstellen nicht auslässt. Die verbotene Liebe zu Philip Jones, das Verheimlichen zu Beginn, schliesslich die Enterbung, müssen für alle Beteiligten schmerzhaft gewesen sein. «Ursulas Eltern standen vor einem sehr menschlichen Scheiterhaufen, den einigermassen stilgerecht zu entsorgen ihnen zu Lebzeiten versagt bleiben würde», resümiert Stalder. Letztlich ist das Buch ein gekonntes Porträt einer von der ersten Seite an sympathischen, immer interessanter werdenden Persönlichkeit, die die Welt der klassischen Musik noch immer prägt, etwa als Präsidentin der Maria & Walter Strebi-Erni Stiftung, die das kulturelle Leben in Stadt und Kanton Luzern fördert und unterstützt, unter anderem Lucerne Festival und LSO.

Ivan Schnyder

Do you, Mrs. Jones?

Heinz Stalders Biografie von Ursula Jones, die als geborene Strebi mit einem Dolmetscherdiplom nach