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2.2.1 Zu dem Begriff der Sexualität

Ähnlich wie bei dem Begriff der geistigen Behinderung gibt es auch bei dem Begriff der Sexualität keine einheitliche Definition. Die unterschiedlichen Aspekte von Sexualität nimmt Ortland in ihrer Definition auf:

Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhalten eine geschlechts-spezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv oder negativ erfahrbare – Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll.

(Blockzitat)

(2016, S. 14, nach Ortland 2005, S. 38).

Nach Moll hat Sexualität darüber hinaus verschiedene Funktionen: Fortpflanzung, Lustfunktion, soziale Funktion sowie Integrations- und Selbstfindungsfunktion (2010, S.

15 f.). Sexualität ermögliche dem Menschen als soziales Wesen zu agieren sowie zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen (ebd., S. 14).

Innerhalb des philosophischen Diskurses wird in Bezug auf Sexualität zwischen metaphysischen sexuellen Optimisten und Pessimisten unterschieden. So seien die moralischen Beurteilungen von sexuellen Aktivitäten von dem Standpunkt über die Natur des sexuellen Impulses oder Verlangens abhängig (Soble, 2008, S. 5). Zu den Pessimisten gehöre nach Soble neben St. Augustine und Kant, teilweise auch Freud.

Sie nähmen im Allgemeinen den sexuellen Impuls und das Agieren auf Grund dieses Impulses als etwas wahr, dass so gut wie immer nicht zu der Würde der menschlichen Person passe (ebd., S. 5). Anders als die Optimisten, zu denen teilweise Plato und Freud sowie Russel und Ellis gehörten. Sie seien der Meinung, dass unsere menschliche Sexualität eine weitere Dimension unserer menschlichen Existenz darstelle, vergleichbar beispielsweise mit dem Impuls zu Essen (ebd., S. 5).

Zudem werden oftmals Begrifflichkeiten wie das sexuelle Verlangen, die sexuelle Aktivität, das sexuelle Vergnügen, die sexuellen Vorlieben und Orientierung sowie die sexuelle Identität getrennt voneinander definiert und debattiert. Innerhalb dieser philosophischen Diskurse ergeben sich außerdem konzeptuelle Probleme, die auf Grund der unterschiedlichen Sichtweisen entstehen (Halwani, 2018, S. 2 ff.). Darüber hinaus seien in normativen Diskussionen Themen wie Ehe, Flirten, Casual-Sex, Prostitution, Homosexualität, Masturbation, Verführung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Pornographie, Pädophilie, Fortpflanzung sowie Verhütung von Interesse (Soble, 2018, S. 4.).

Es lässt sich daraus ableiten, dass der Begriff der Sexualität nicht nur weit gefächert ist und nicht ausschließlich auf den reinen Geschlechtsakt reduziert werden kann, sondern auch dass der Begriff in verschiedenen Dimensionen und in unterschiedlichen Lebensbereichen zu verstehen und zu betrachten ist. Darüber hinaus lässt sich schlussfolgern, dass Sexualität nicht ausschließlich ein deskriptiver Begriff ist, sondern oftmals eine normative Komponente besitzt, die entsprechend der individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Werte unterschiedliche Konsequenzen für das Ausleben und Verständnis der eigenen Sexualität haben. Beispielsweise schreibt Ginzburg dem philosophischen, aber hauptsächlich gesellschaftlichen Diskurs entgegen: „Sexualität verlangt einfach nicht nach Meinungen. (…) Da Sexualität (…) einzig und allein dem Individuum gehört“ (1995, S. 110 f.).

2.2.2 Sexualität und geistige Behinderung

Menschen mit einer geistigen Behinderung sind oftmals in den unterschiedlichsten Lebensbereichen auf Unterstützung anderer angewiesen und stehen somit in einem

Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Angehörigen und Betreuern/innen. Dies gelte auch für das Ausleben und Wahrnehmen ihrer Sexualität (Ortland, 2016, S. 13).

Pro Familia schreibt über die Sexualität von Menschen mit einer geistigen Behinderung: „Menschen die als >>geistig behindert<< gelten, haben keine

>>besondere<< Sexualität. Die meisten von ihnen wünschen sich genau das Gleiche wie ihre nicht behinderten Altersgenossen: Flirt, Freundschaft, Liebe, Partnerschaft, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Leidenschaft“ (2011, S. 4). Viele Menschen mit geistiger Behinderung würden keine andere Befriedigungsform finden als die Selbstbefriedigung (ebd., S. 12).

Es können Probleme in der sexuellen Entwicklung von Menschen mit einer geistigen Behinderung auftreten, die in der Diskrepanz zwischen ihrem Sexualalter und ihrem Intelligenzalter begründet seien. Jedoch sei das eigentliche Problem in der sexuellen Entwicklung von Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht in dieser Diskrepanz zu finden, sondern in ihrem sozialen Umfeld (Moll, 2010, S. 39). Ähnliches hebt auch Ortland hervor: „Menschen mit Behinderung, vor allem geistiger Behinderung, wird oft unterstellt, dass Verhaltensweisen, die aus der Außenperspektive als ungewöhnlich bewertet werden, zu behinderungsbedingten Besonderheiten erklärt werden“ (2016, S.

1 1 3 ) . Shakespeare weist auf einen weiteren Aspekt hin, nämlich jenen, dass Menschen mit einer Behinderung oftmals als asexuell angesehen werden (1996, S. 9).

Er schlussfolgert aus seiner Untersuchung über die sexuelle Politik der Behinderung, dass: „die Rechte von Menschen mit Behinderung bei der Auslebung ihrer Sexualität auf der einen Seite und die Freiheit von sexuellem Missbrauch auf der anderen Seite in den meisten stationären Einrichtungen nicht gesichert ist“ (eigene Übersetzung, Shakespeare, 1996, S. 36).

Ortland unterscheidet zwischen verschiedenen Bereichen, in denen die Sexualität von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt wird. Zu diesen Bereichen gehörten Einschränkungen auf Grund der Beeinträchtigung und äußeren Faktoren, durch Mitarbeitende und strukturelle sowie bauliche Rahmenbedingungen (2016, S. 17 f.). Im Kontext von Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Sexualität spielen zudem Themen wie die sexuelle Selbstbestimmung, Sterilisation, Verhütung, Missbrauch sowie Sexualassistenz eine Rolle (Pro Familia, 2011, S. 12 ff.).

2.2.3 Sexualität und die Menschenrechte

Innerhalb der UN - Menschenrechtskonvention wird ein Menschenrecht auf Sexualität nicht explizit erwähnt. Dennoch lässt sich argumentieren, dass beispielsweise die Rechte auf Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit, Freiheit und Sicherheit,

Nicht-Diskriminierung und Gleichberechtigung gegenüber dem Gesetz, den Genuss an physischer und mentaler Gesundheit sowie der Schutz vor grausamen, unmensch-lichen oder entwürdigenden Behandlungen auf ein Recht auf Sexualität und dessen unterschiedlichen Aspekte schließen lassen.5

Die UN- Behindertenrechtskonvention adressiert indirekt ein Recht auf Sexualität mit dessen unterschiedlichen Ebenen. In Artikel 22 wird die Achtung der Privatsphäre zugesichert. Dort steht explizit in Absatz 1 geschrieben:

Menschen mit Behinderungen dürfen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder der Wohnform, in der sie leben, keinen willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in ihre Privatleben, ihre Familie, ihre Wohnung oder ihren Schriftverkehr oder andere Arten der Kommunikation oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen ihrer Ehre oder ihres Rufes ausgesetzt werden. (Blockzitat) (UN, 2006, Artikel 22)

Auch wenn Sexualität nicht ausdrücklich erwähnt wird, so beinhaltet die Privatsphäre auch die Sexualität mit ihren unterschiedlichen Facetten. Sei es beispielsweise die Achtung der Privatsphäre, wenn ein Bewohner in der stationären Eingliederungshilfe nackt ist oder auch das gewollte, ungestörte Zusammensein von zwei Bewohnern.

In Artikel 23 mit der Überschrift „Achtung der Wohnung und Familie“ wird Menschen mit Behinderung darüber hinaus gewährleistet, dass sie das Recht haben im heiratsfähigen Alter „auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses des künftigen Ehegatten eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen“. Darüber hinaus wird ihnen auch das Recht „auf freie und verantwortungsbewusste Ent-scheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung“

sowie den Erhalt ihrer Fruchtbarkeit anerkannt (UN, 2006, Artikel 23).

In Artikel 25 wird Menschen mit Behinderungen zudem das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie gleichberechtigte Qualität und Standard innerhalb der Gesundheits-versorgung zugestanden. Ausdrücklich wird dort sexual- und fortpflanzungs-medizinische Gesundheitsleistungen mit eingeschlossen und wörtlich hervorgehoben (UN, 2006, Artikel 25).

Ferner hebt das International Council for Human Rights in seinem Diskussionsartikel über Sexualität hervor, dass:die Frage heutzutage nicht mehr die ist, ob die 5 Ruth Dixon Mueller stützt diese Aussage wie folgt: „Sexual rights also derive from principles of gender equality as a rmed in the 1979 Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women and other documents, and from principles of non-discrimination based on sexual orientation and gender identity as proposed in the 2007 Yogyakarta Principles, among othersources “ (2009, S.

111).

Menschenrechte sich mit Sexualität befassen werden, sondern eine viel präzisere:

unter welchen Bedingungen, für wen, zu welchem Zweck, über welche Aspekte der Sexualität und innerhalb welcher Grenzen“ (eigene Übersetzung, 2009, S. 7). Eine andere Facette eines Menschenrechts auf Sexualität erwähnt Ruth Dixon-Mueller. Sie argumentiert, dass das Konzept der sexuellen Verantwortungen, sprich die Verant-wortungen der Individuen gegenüber ihren Mitmenschen, immer noch entsprechend der jeweiligen Kommentatoren differenziert (2009, S. 116).